"Meine Welt"

Melancholie und Raum - Arcade Fires "Suburbs"
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Er­dig und experimentell und vor allem mutig, denn Arcade Fire halten fest am Albumkonzept, ihre Geschichten ereignen sich kapitelweise.

"Erfahrungen vom Klippenrand. Rock'n'Roll im Rollstuhl": unter diesem Titel wurde der großartige Sänger/Songschreiber Vic Chesnutt hier schon (zz 10/2004) vorgestellt. Nun ist Abschied nachzutragen. Verspätet zwar, doch mit Grund: Gerade erschien bei City Slang der Soundtrack zu Sebastian Schippers Spielfilm Mitte Ende August, eingespielt von ihm. Überwiegend ohne die im Film erratisch wirkenden Akustikstücke, jedoch auch mit einer Coverversion von Kylie Minogues "Come Into My World" - das er so singt, wie es nur Vic Chesnutt konnte. Eine Morgengabe.

Nicht nur wegen des gemeinsamen Labels City Slang ist die Überleitung leicht, erst recht, wenn man das "Spiel mir das Lied vom Tod"-you-tube-Video zum Track "My Body Is A Cage" des gefeierten, orgelsatten Vorgängeralbums Neon Bible von 2007 ansieht: Von Arcade Fire ist die Rede, dem Überflieger-Septett aus Mont­real, das mit Suburbs nun sein erst drittes Album vorlegt und, um im ergreifenden Bild zu bleiben, die Fackel sozusagen weiterträgt.

Morgengabe

Denn wie Chesnutt singt ihr ursprünglich aus Texas stammender Gitarrist Win Butler so klagend, präzis und intensiv, wie es dieser Arbeit auf der Dauerbaustelle Daseinsmelancholie gemäß ist. In Bildern, die packen, einleuchten, so genau wie unaufdringlich und darum mitreißend sind, in sattem facettenreichem Sound, der von Folk bis Klassikeinflüssen, Punkattitüde und Art­rock über (das ist das Neue am jüngsten Album) Stadionrocktaugliches, aber auch Popstatement, bis Diskoverve reicht. Opak im Sinn von geheimnsivoll und Offenbarung, am Puls der Seele.

Arcade Fires Spektrum umfasst rohe Riffs auf der Gitarre ebenso wie subkutanes Geigenstreichen, Xylophon, Akkordeon und, wo es passt, Kirchenorgel. Reduziertes Preschen und Bombast, Polkapunk, Hymnenhaftes, Synthesizer, sphärische Frauenstimmen, Chorgesang. Er­dig und experimentell und vor allem mutig, denn Arcade Fire halten fest am Albumkonzept, ihre Geschichten ereignen sich kapitelweise. Bei Suburbs übers Aufwachsen in Vorstädten und die späte Rückkehr dahin, Herkommen, Verlust, Hoffnungen, Erneuerung, Eingelöstes, Verpasstes, Reife, Ernüchterung, auch Sehnsucht nach Gefühlen, Werten, die bleiben - vielleicht für jene, die nach uns kommen.

Und sie wissen darum, wie selbstbewusst gesetzte Zitate zeigen, etwa in "Ready to Start" das lapidar daherkommende "If businessmen drink my wine" - Kenner stutzen und bemerken dann Bob Dylans "All Along The Watchtower" darin, das Jesaja 21 entlehnt Schauen vom Fall Babels. Geschichten und Aperçus, in die einzutauchen mehr als lohnt. Immer hart am Leben, lyrisch, mit echtem Groove, prallem Puls. Arcade Fires erstes Album hieß übrigens Funeral (Beerdigung; 2004) - dicht am Leben und was daran gewiss ist von Beginn an.

Arcade Fire - Suburbs. City Slang/Universal 2010.

Udo Feist

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