Kohlegruben zu Seenlandschaften

Das größte Bergbaugerät aller Zeiten ist mittlerweile eine Touristenattraktion
Besuchergruppe auf der Förderbrücke.
Besuchergruppe auf der Förderbrücke.
In der Niederlausitz kann man den Eiffelturm einmal ganz anders sehen. Er liegt nämlich, mitten in einer sandigen und von kargem Grün gesäumten Landschaft, nahe der Gemeinde Lichterfeld-Schacksdorf. Aber natürlich ist er's nicht wirklich. Jörg Brause war da.

Ganz so als sollte die Spannung am Ende der Dorfstraße noch einmal gesteigert werden, schlängelt sich der Weg durch ein Waldstück. Ein weites Feld öffnet sich, und ein graues Ungetüm taucht auf, wenigstens so hoch wie ein Haus mit zwanzig Etagen, das quer über den Horizont liegt und den Blick in die Weite versperrt. Riesige eiserne Streben steigen auf und ab, bilden Dreiecke, deren Spitzen aneinander stoßen. Das ist sie also, die F60: 502 Meter lang, das größte je gebaute Bergbaugerät weltweit. 182 Meter länger als der Eiffelturm. Das F steht für Fördern und die 60 bezeichnet die Abraumhöhe, die über der Kohle freigelegt wird.

Länger als der Eiffelturm

Heute gehört die gigantische Förderbrücke zu einem Besucherbergwerk, das zum Symbol für den Wandel vom einstigen Braunkohlerevier zur Lausitzer Seenlandschaft wurde. Die ist - schon wieder ein Superlativ - die größte Landschaftsbaustelle der Welt, begleitet von der Internationalen Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land, die nach zehn Jahren 2010 zu Ende geht -Jahre, in denen sich wüstes leeres Land und Kohlegruben, die die F 60 und zahlreiche andere Bagger in der Niederlausitz zurückließen, in schillernde Seen verwandelten. Etliche werden durch Kanäle verbunden, so dass im einstigen Kohlerevier Europas größte Seenplatte entsteht.

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Elf Touristen aus Berlin sind schon da an diesem Morgen mitten in der Woche. Sie warten am Werkstattwagen, der heute als Info-Center und Gaststätte dient. Die einstige Einsatzzentrale der F 60 ist wenigstens so breit wie fünf nebeneinander stehende Einfamilienhäuser und mindestens doppelt so hoch. Gingkos säumen einen Weg: "Die Bäume sind die Nachfahren der Mammutbäume, die so alt wie die Kohleflöze sind, die aus der Ablagerung von Pflanzenresten entstanden sind", sagt Olaf Umbreit. Der kaufmännische Betriebsleiter nennt sich selbst, "das Mädchen für alles" rund um die F 60. Und wie zur Bestätigung knattert sein Funkgerät. Ein Notfall? Ein Besucher will die Besichtigung abbrechen und muss aus siebzig Metern Höhe mit dem Fahrstuhl abgeholt werden. Umbreit funkt Mitarbeiter an, die sich auf den Weg machen.

Ein Besucher muss aus 70 Metern Höhe mit dem Fahrstuhl abgeholt werden

Neben dem Wohl der Gäste und der Bilanz hat er die Öffentlichkeitsarbeit im Blick, auch bildete er bereits vier junge Leute zum Kaufmann für Tourismus und Freizeit aus. Und er ist Eventmanager, denn längst ist die F 60 mehr als ein Ausflugsziel. Sie ist als Kulisse, als "Location" beliebt. Ob Kettensägemeisterschaften oder Konzerte von Sänger Max Raabe. Heute hat ein Abfallzweckverband ein weißes Zelt für eine Feier aufgestellt. Über Lautsprecher fordert eine Stimme die Berliner auf, sich für den Rundgang an einem Drehkreuz einzufinden. Aber zunächst geht es um die Sicherheit: In Kisten warten weiße, grüne, gelbe und rote Helme. "Welche Farbe hätten wir denn gern?", fragt Günter Klaue, der die Besucher führt. Weiße und blaue Kopfbedeckungen sind die Favoriten, die wie Kochtöpfe auf dem Kopf sitzen und genau so schwer sind.

Ein paar Schritte weiter geht es vorbei an rostbraunen Gleisen. "Auf 760 Rädern bewegte sich die F 60 gut fünfhundert Meter in der Stunde vorwärts", erzählt Klaue. Ist das schnell oder langsam? Schwer zu sagen bei einer Maschine, die mit 13.600 Tonnen Gesamtgewicht durch die Landschaft rollte. Entlang gelber Treppengeländer geht es über schmale Stiegen nach oben. Das Gelb ist so grell, als riefe es ständig "Vorsicht! Aufpassen! Festhalten!" Und das ist auch gut so: Durch die schmalen Gitterstege blickt man auf das trockene Gras erst in fünfzig, dann siebzig Metern Tiefe.

140.000 Schrauben

Die F 60 ist der größte Montagebau der Welt. Ohne die Hilfe von Computern geplant und fertig gestellt. Mit 140.000 Schrauben zusammengehalten. Für den Laien ist kaum vorstellbar, wie viel Energie nötig war, damit die Förderbänder in der Mitte der F 60, über die der Abraum in die Höhe lief, arbeiten konnten. Zwei Bagger schaufelten in der Stunde 5.0000 Tonnen hinauf. Das entspricht dem Volumen eines Fußballfeldes, das rund acht Meter hoch aufgeschüttet ist.

Abraumhalden sind entstanden, die das Landschaftsbild der Niederlausitz seit Jahrzehnten prägen, Krater, wüste Weiten. Wo die DDR ihren Energiehunger mit Braunkohle, dem einzigen verfügbaren Rohstoff im Land, stillte, blieben 120.000 Hektar verwüsteter Grund in der Lausitz zurück. Ein verwundetes Land, von dem vor zehn Jahren niemand ahnte, dass gerade die bizarren Bodenformationen die Touristen anlocken würden.

Angekommen an der äußersten Spitze der F 60, stehen die Besucher auf einer Aussichtsplattform in 75 Metern Höhe. Wald ringsum. Drüben ragt der Schornstein einer Klinkerfabrik auf. Die roten Dächer von Lichterfeld versinken im Grün der Bäume. 1.123 Menschen leben dort. Günter Klaue lenkt den Blick in die entgegengesetzte Richtung zum Bergheider See. Bergheide hieß einmal das Dorf, das mitten im Tagebau Klettwitz-Nord lag und das die Bagger auf der Suche nach Kohle wegschaufelten. "75 Millionen Kubikmeter Abraum wurden für 13,2 Millionen Tonnen Kohle bewegt. Rund 3 Prozent der Kohle wurde ausgebeutet. Es hätte keinen Grund gegeben, aufzuhören, wenn nicht zu Beginn der Neunzigerjahre viele Kraftwerke geschlossen worden wären", sagt Günter Klaue.

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Rund zehntausend Menschen fanden einst in der DDR rund um Klettwitz Arbeit. Viertausend verloren ihr Zuhause. Dann stand die F 60 nach dreizehn Monaten Betrieb 1992 still, und in der gewaltigen Grube entstand der Bergheider See.

Das klingt idyllischer als es ist, denn die 320 Hektar weite Wasserfläche, gerahmt von sandigen Böschungen, scheint mitten in der Wüste aufgetaucht zu sein. Vom gefluteten Restloch bis zum Badespaß ist noch ein weiter Weg. Trotzdem: aus dem Fluch der Zerstörung wurde ein Segen, dem wirtschaftlichen Niedergang folgt in der Niederlausitz seitdem ein auch ökologisch verträglicher Aufschwung.

Aus dem Fluch der Zerstörung wurde ein Segen

Stahl, Wasser und schwimmende moderne Häuser: auf ein Nebeneinander von Seen und Industriekultur setzte die iba von Anfang an. In Form einer aufgehenden Sonne soll ein schwimmendes Erlebnis- und Veranstaltungszentrum im Bergheider See aufsteigen. Solche Projekte waren nie unumstritten in der Niederlausitz.

"Avantgarde ist nicht mehrheitsfähig. Aber man darf nicht überheblich sein und muss die lokalen Akteure ins Boot holen", sagt der ehemalige Bauhausdirektor und heutige Geschäftsführer der iba Rolf Kuhn. "Als die F 60 im Jahr 2002 als Besucherbergwerk eingeweiht wurde, kam ein alter Mann mit Tränen in den Augen auf mich zu und zeigte in die Landschaft, wo einmal sein Acker lag. Er sah nun einen Sinn darin, da der Koloss stehen geblieben war", erinnert sich Kuhn. Von ihm stammt auch der Vergleich mit dem Eiffelturm. Auch in Paris sei nach dem Ende der Weltausstellung 1889 geplant gewesen, den Tour Eiffel zu verschrotten. Und siehe da, er blieb stehen und wurde zu einer Touristenattraktion - wie die F 60 heute.

Stullen mit Schmalz

Gegen den Abriss und für den Aufbau eines Besucherbergwerkes setzte sich eine Bürgerinitiative rund um den damaligen und heutigen Bürgermeister Ditmar Gurk ein. Weil der Elektromeister ehrenamtlich der Gemeinde vorsteht, kommt er erst nach Feierabend zum Gespräch im Werkstattwagen. Wo jetzt der Boden blank und die Wände hell gestrichen sind, muss es früher ziemlich schmutzig gewesen sein, gingen doch die Bergleute hier ein und aus. Die Tische mit den roten Resopalplatten waren vor achtzehn Jahren vermutlich nicht mit Blüten dekoriert. Aber Bockwurst und Kartoffelsalat und Stullen mit Schmalz, Erbsensuppe - deftige Kost wurde hier schon damals serviert.

Das war doch eine verrückte Idee von dem kleinen Ort Lichterfeld, 1998 in ein Besucherbergwerk zu investieren? "Wenn man zu viel Zweifel aufbaut, wird es nichts. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, die die wirtschaftliche Tragfähigkeit bescheinigte. Mit 25.000 Besuchern konnten wir demnach rechnen. Heute kommen fast dreimal so viele", sagt Ditmar Gurk.

Eine Einwohnerversammlung beschloss, alle Investitionsmittel in die F 60 fließen zu lassen statt in andere Projekte. Zwei Jahre später erlebte Lichterfeld erstmals einen Autostau. Gurk erinnert sich: "3.500 Gäste kamen. Das hat uns völlig überrascht. Sie wollten sehen, wie sich die F 60 ein letztes Mal bewegt." So viel Erfolg macht selbstbewusst, und Bürgermeister Gurk ist sich sicher, dass auch ohne die Zusammenarbeit mit der iba das Projekt hätte vorantreiben können. "Als Begleiter der Anfangsjahre hat die IBA vieles ins Rollen gebracht. Und die Klang- und Lichtinstallation des Berliner Künstlers Hans Peter Kuhn war die richtige Investition zum richtigen Zeitpunkt."

Wie ein Tanker aus der Dunkelheit

Kuhns Arbeit ist ein künstlerischer Glücksfall, ohne den die F 60 eben nur eines der weltweit größten Denkmäler des Industriezeitalters wäre: Als es dämmert, glimmen im Stahlkoloss an den unterschiedlichsten Stellen gelbe, blaue und rote Lichter auf, als warnten sie vor einem Tanker, der aus der Dunkelheit auftaucht. An allen Ecken und Enden rumort, dröhnt und rattert es, mal leise, dann ohrenbetäubend laut, ganz so als wühle sich die F 60 wieder in das Land hinein. Einmal noch leuchten gelbe Lichter, und dann ist es still in Lichterfeld-Schacksdorf, wo der Eiffelturm liegend zu sehen ist und dazu nachts viel schöner leuchtet als sein aufrechter Vetter in Paris.

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Text und Fotos: Jörg Brause

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