Jenseits ohne Gott

Die Frage, was nach dem Tod geschieht, beantworten die Deutschen sehr unterschiedlich
Anhänger des FC St. Pauli bei einem wichtigen Spiel im Hamburger Millerntorstadion. Foto: dpa/Ulrich Perrey
Anhänger des FC St. Pauli bei einem wichtigen Spiel im Hamburger Millerntorstadion. Foto: dpa/Ulrich Perrey
Während die einen behaupten, mit dem Tod sei alles aus, betreiben andere "Channeling", die Kommunikation mit dem Jenseits. Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen, schildert die Jenseitsvorstellungen der Deutschen und zeigt, wie sich diese zur christlichen Auferstehungshoffnung verhalten.

Neben den säkularen Zeitgenossen, der eine über den Tod hinausgehenden Wirklichkeit überhaupt bestreitet und sein Leben "ohne happy end, ohne Auferstehung, ohne ewiges Leben" (so der Soziologe Niklas Luhmann) bewältigen will, ist der religiös interessierte Zeitgenosse getreten. Für ihn sind die "Fakten der Welt" nicht das Letzte. Vielmehr bekundet er Sympathie für Konzepte, die unter den Begriffen "Reinkarnation", "Wiedergeburt", "Seelenwanderung" zusammengefasst werden.

Der religiöse Pluralismus führt dazu, dass Zukunftserwartungen und Jenseitshoffnungen unterschiedlicher Religionen präsent sind. Der Koran schildert die Zukunftserwartungen der islamischen Religion in sinnlich irdischen Farben. Der Buddhismus bestreitet die Wirklichkeit eines menschlichen Selbst und sieht darin einen Weg aufgezeigt, die Gier und den Lebensdurst, der die Ursache alles Leidens ist, im Nichts des Nirwanas zu überwinden.

Prozesse der Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung und Revitalisierung der Religion und der Religionen beziehen sich auch auf Zukunfts- und Jenseitserwartungen. Religionsdistanz, Religionsfaszination, Religionsfundamentalismus lassen sich auch im Blick auf Jenseitshoffnungen und Zukunftserwartungen beobachten. Und keineswegs ist es so, dass die christliche Hoffnung verschwunden wäre. Sie wird in den christlichen Kirchen gepredigt und gelehrt, in der Erinnerungskultur des Kirchenjahres gefeiert und an den Gräbern der Toten bezeugt. Sie hat die abendländische Kunst, Musik, Malerei, Literatur intensiv beeinflusst und sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt.

Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte über das ewige Leben, die Auferstehung der Toten, die zukünftige Welt, den neuen Himmel und die neue Erde ist überaus vielfältig. Die "Kulturgeschichte des ewigen Lebens" belegt, dass sich das Verständnis des Himmels, "der Bilder, mit denen Christen beschreiben, was sie nach dem Tod erwartet" in der Geschichte des Christentums wandelte (B. Lang/C. McDannell, Der Himmel, Frankfurt a. M. 1990, 3). Und jede Generation steht vor der Aufgabe, die Hoffnungskraft und das Trostpotenzial der christlichen Zukunftserwartung neu zu erschließen.

"Lasst Euch nicht vertrösten"

In aufklärerischem Pathos und in Anlehnung an eine marxistische Weltbetrachtung dichtete Bertolt Brecht 1927: "Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. ... Laßt euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zuviel Zeit! Laßt Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit. Laßt euch nicht verführen zu Fron und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es kommt nichts nachher." Jenseitiger Trost wird hier pointiert abgelehnt. Ja, der Tod ist der endgültige Schlusspunkt. Und deshalb liegt alles Gewicht auf diesem Leben. Aus "Kandidaten des Jenseits" sollen "Praktikanten des Diesseits" werden, wie es der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872) formuliert hatte.

Die Säkularisierung des Jenseits vollzog sich in ge­schichtlicher Perspektive Hand in Hand mit einem rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Die analysierbare und durchschaubare Welt ließ den Himmel zu einem "gottleeren Raum werden, das Jenseits zu einem Phantasieprodukt" (Kurt Hutten). Gleichzeitig provozierte eine solche Weltbetrachtung Gegenkräfte. Zahlreiche religiöse und weltanschauliche Bewegungen lassen sich als Protest gegen ein geheimnisloses Wirklichkeitsverständnis verstehen. Sie entwerfen nichtsäkulare Weltkonzeptionen, die im Einzelnen sehr verschieden sein konnten. Gemeinsam ist ihnen das Interesse an einer jenseitigen Welt und übersinnlichen Mächten und Kräften, deren Existenz von säkularen Weltkonzeptionen bestritten wurde.

Spiritismus als Gegenbewegung

Im selben Jahr, 1848, als Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest publizierten, entstand der moderne Spiritismus als einflussreiche weltanschauliche Strömung und als Massenphänomen, verbunden mit zahlreichen Gemeinschaftsbildungen. Er beruht auf der Voraussetzung und Überzeugung, dass ein Kontakt mit der jenseitigen Geisterwelt und den Toten möglich und gewissermaßen empirisch demonstrierbar sei. 1875 wurde in New York die "Theosophische Gesellschaft" gegründet, aus der zahlreiche weitere Gemeinschaftsbildungen hervorgingen. Die Theosophie verbindet westlich-okkulte und östlich-religiöse An­schauungen wie den Buddhismus und Hinduismus miteinander und gehört zu den wichtigsten Vorläufern moderner esoterischer Bewegungen.

Während die großen säkularen Ideologien Marxismus und Nationalsozialismus gescheitert sind, stellen esoterisch-gnostische Weltdeutungen, wie sie in Astrologie, Okkultismus und Spiritismus begegnen, einen Teil des heutigen weltanschaulichen Pluralismus dar und fordern Kirche und Gesellschaft heraus. "Channeling", die Kommunikation mit jenseitigen Wesenheiten, ist die aktuellste Form des Spiritismus, die in zahlreichen esoterischen Bestsellern vorausgesetzt wird und als Trend eine wichtige Rolle spielt.

Niemand hätte vor fünfzig Jahren daran gedacht, dass eine individualisierte, esoterisch geprägte Spiritualität in den Hauptstrom unserer Kultur eintreten würde. Doch ge­nau das ist in den vergangenen Jahrzehnten geschehen. So stehen eine fortschreitende Säkularisierung und eine unverkennbare Respiritualisierung heute nebeneinander. Und die Jenseitsvergessenheit ist begleitet von einem neuen Interesse an unsichtbaren Welten.

Der Abschied vom Jenseits hat noch andere Begleiterscheinungen. Seit den Siebzigerjahren breiteten sich in Europa verstärkt Vorstellungen von "Karma" und "Reinkarnation" aus. Der Reinkarnationsglaube geht auf zwei Grundfragen des Menschen ein: "Woher komme ich?" und "Wohin gehe ich?" Die erste Frage wird insbesondere in der Reinkarnationstherapie, einer angenommenen Rückführung in frühere Leben mit dem Ziel therapeutischer Wirkung, aufgegriffen, die zweite Frage in der Sterbeforschung.

Wiedergeburt als Volksglaube

Mehr und mehr haben Seelenwanderungsvorstellungen gesellschaftliche und intellektuelle Akzeptanz gefunden. Es ist davon auszugehen, dass rund ein Fünftel der Europäer mit der Vorstellung einer Wiedergeburt im Sinn einer Reinkarnation sympathisieren und ihr zustimmen. Und das trifft auf Christen, Konfessionslose und Angehörige anderer Religionen zu. Wenn man auf den Tod, das Sterben, den Sinn des Lebens und die Hoffnung zu sprechen kommt, wird es immer normaler, dass der Gedanke der Reinkarnation ins Spiel gebracht wird. Ob dieser Glaube allerdings für den Einzelnen eine lebensbestimmende Kraft bekommt und ob die Seelenwanderungsvorstellung unsere Kultur prägen wird, ist eine offene Frage. Die meisten Untersuchungen gehen von einer Korrelation von Reinkarnationsglauben und höherer Bildung aus. Und für manche ist die Hoffnung auf eine Reinkarnation mit dem Abschied von einer rein materialistischen Weltauffassung und die Infragestellung einer "Nach-dem-Tod-ist-alles-vorbei-Ideologie" ver­bunden.

Moderne westliche Reinkarnationsvorstellungen unterscheiden sich freilich grundlegend von dem, was Seelenwanderung in Buddhismus und Hinduismus meinte und meint. Diese Religionen sehen im Kreislauf der Wiedergeburten ja den Fluch des menschlichen Daseins und verstehen Reinkarnation als etwas zu Überwindendes. Moderner Reinkarnationsglaube orientiert sich dagegen am Evolutionsgedanken und sieht in weiteren Reinkarnationen positive Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen.

In einer dem Umfeld der Theosophie zugehörigen Zeitschrift heißt es: "Nur die Unwissenheit des westlichen Menschen und seine totale Unkenntnis der grundlegenden kosmischen Gesetze konnten zu der unlogischen Schlussfolgerung führen, dass der Mensch nur einmal auf der Erde lebe, der Tod das Ende des Lebens wäre und damit jede weitere Entwicklung ausgeschlossen sei. Das Leben und seine Evolution wird nur dann verständlich, wenn wir das Gesetz der Wiederverkörperung in Betracht ziehen." Solche Sätze zeigen eindrücklich, mit welchen Botschaften die Reinkarnationsüberzeugung in der westlichen Welt verbunden ist.

Reinkarnation wird nicht als Glaubensfrage gesehen, sondern als Frage philosophischer Erkenntnisfähigkeit. Da­bei geht man davon aus, dass Reinkarnation in Einklang mit den Gesetzen des Universums und einer evolutionären Weltauffassung steht. Reinkarnation verheißt dem Menschen individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, die an der Grenze des Todes nicht aufhören. Verfehlte Lebensentscheidungen können in späteren Daseinsformen korrigiert werden.

Reinkarnation und Karma bieten ein umfassendes Erklärungssystem für die Bewältigung von Krankheit, Leiden und Grenzerfahrungen an, ohne dass auf den Gedanken eines in Schöpfung und Geschichte handelnden Gottes zurückgegriffen werden muss.

Christlicher Glaube gegen Reinkarnation

Die christliche Hoffnung, die in der Sprache der Bibel und der christlichen Tradition mit den Worten "Auferstehung der Toten" und "ewiges Leben" zusammengefasst wird und die ihren Grund in der Auferweckung des gekreuzigten Jesus hat, muss sich heute dem Dialog und der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen säkularen und religiösen Erwartungen stellen und dabei auch auf den Reinkarnationsglauben eingehen. In seiner antimaterialistischen Intention verfolgt dieser ja ein verständliches Anliegen.

Doch eine Harmonisierung von christlicher Auferstehungshoffnung und dem Glauben an Reinkarnation ist nicht möglich. Denn die christliche Hoffnung verträgt sich nicht mit einer ausschließlich individuellen Zukunftserwartung, die die Einmaligkeit des Menschenlebens leugnet und die Welt als ganze einer unbestimmten Evolution preisgibt. Christliche Zukunftserwartung ist Hoffnung für die Welt, und sie bewährt sich in mitmenschlicher und mitgeschöpflicher Solidarität. Sie protestiert gegen die fehlende "Theodizee-Empfindlichkeit" (Johann B. Metz) und die vereinfachenden Selber-Schuld-Erklärungen. Und sie fordert den Menschen auf, den Tod nicht zu verharmlosen und die Endlichkeit, Be­grenztheit und Einmaligkeit seines Lebens ernstzunehmen. Und sie erwartet eine endgültige Überwindung des Todes durch ein neues schöpferisches Handeln Gottes.

Fundamentalistische Zuschauerhaltung

Im Gespräch und der Auseinandersetzung mit der atheistischen Bestreitung eines ewigen Lebens ist darauf hinzuweisen, dass kein Mensch ohne ein Grundvertrauen in die Zukunft leben kann. Ja, wer Entscheidungen trifft und Pläne schmiedet, setzt Sinnhaftigkeit voraus. Der Mensch ist eben ein Wesen der Hoffnung. Und die Vorstellung, dass der Tod das Letzte ist, würde die Welt der Sinnlosigkeit preisgeben und auch das individuelle Leben unter den Schatten einer letzten Sinnleere stellen.

Gegenüber weltpessimistischen Tendenzen in christlich-fundamentalistischen Milieus ist wiederum zu sagen: Es widerspricht christlicher Hoffnung, in Zuschauerhaltung auf die Eskalation von antichristlicher Macht zu starren und die Geschichte deterministisch ihrem unausweichlichen Ende entgegenlaufen zu lassen. Die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde entlässt eben nicht aus irdischen Verantwortlichkeiten.

Christlicher Glaube - so sagt man mit Recht - ist keine Vertröstung auf ein besseres Jenseits und keine kompensatorische Flucht aus einer negativ erlebten Welt. Vielmehr führt er in die tätige Verantwortung für den Nächsten. Und gleichzeitig ist zu unterstreichen: Christliche Zukunftserwartungen lassen sich nicht auf innergeschichtliche Fortschrittsperspektiven reduzieren. Ja, alle Versuche, das Himmelreich auf Erden zu errichten, haben etwas Totalitäres an sich. Und der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden ist keine Strategie, mit dem Phänomen des Todes fertig zu werden.

In Gottes Hand

Das ewige Leben ist göttliche Gabe. Es gehört zu den Essentials christlichen Glaubens, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht selber schaffen kann. In den theologischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts ist angesichts der inflationären Erfahrungen des Bösen mit Recht geltend gemacht worden: Kein Glück der Enkel vermag das Leid der Väter und Mütter wieder gut zu machen. Und kein Fortschritt kann die Ungerechtigkeiten aufheben, die den Toten widerfahren ist.

Zur christlichen Hoffnung gehören partielle und umfassende Ziele, vorletzte und begrenzte. Hoffnungen und Er­wartungen bleiben bestimmt von der einen großen Hoffnung auf die Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Und diese Hoffnung umfasst Mensch und Welt, sie sieht die Zukunft aller in Gottes Hand.

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Reinhard Hempelmann

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