Vom Kult der Leistung befreit

Wie eine Bildung aussieht, die Luthers Freiheitsbotschaft ernst nimmt
Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Schule Eichelkamp in Wolfsburg. Foto: epd/Jens Schulze
Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Schule Eichelkamp in Wolfsburg. Foto: epd/Jens Schulze
Der Erfurter Propst Heino Falcke, geboren 1929, war einer der profiliertesten Kirchenmänner der DDR. Unvergessen ist sein Hauptvortrag "Christus befreit - darum Kirche für andere", den er bei der Synode des DDR-Kirchenbundes 1972 in Dresden hielt, in der er von der Hoffnung auf einen verbesserlichen Sozialismus sprach. Hier meldet er sich mit einem Plädoyer für eine Bildung aus dem Geist der Reformation zu Wort.

Die Reformation gehört, wie auch Renaissance und Humanismus, zu den Wurzeln der neuzeitlichen Freiheits- und Bildungsgeschichte. Woran hier zu erinnern ist, lässt sich schnell zusammenstellen: Die Neuentdeckung der alten Sprachen des Griechischen und Hebräischen; der Rückgang zu den Quellen, besonders den biblischen; von dort aus die Hinterfragung der kirchlichen Dogmen und Institutionen und der Gewinn einer neuen kritischen Mündigkeit. Luther übersetzt das griechische Neue Testament ins Deutsche und macht so jeden Christen zum potenziellen Leser der Bibel und damit zum Leser überhaupt. In der Hauptsache durch die Reformation wird die humanistische Bildung zur Volksbildung.

Aber die Reformation ist mehr als eine Bildungsbewegung. Luther, nur durch seine Glaubenserfahrung und sein Mandat als Doktor der Heiligen Schrift autorisiert, konfrontiert seine Zeit mit seiner Erkenntnis, zuerst seinen Orden und seine Universität, dann den Papst und schließlich in Worms den Kaiser und die Stände des Reichs.

Er wurde durch den Bann aus der Heilsgemeinschaft und in Worms durch die Reichsacht aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen. Der Landsknechtsführer in Kaisers Diensten Georg von Frundsberg redet ihn als "Mönchlein" an, das einen "schweren Gang" tue. Luther war religiös und politisch ins Nichts gestellt. Im Nichts aber war ihm Gottes Wort und der Glaube alles, ein und alles. So wurde er für die Neuzeit zum Schlüsselsymbol des freien Menschen, des Einzelnen in der freien Selbstbestimmung des Gewissens.

Freie Diskussion gefordert

Aber Luther vertrat nicht sich selbst, seine unantastbare Menschenwürde, sein Recht auf Selbstbestimmung und die eigene Meinung. Er vertrat eine Wahrheit. Deren Geltungsanspruch in Kirche und politischer Welt machte er geltend. Er bat nicht nur um Duldung für sich, er forderte, dass sich die Öffentlichkeit - wie wir heute sagen - dieser Wahrheit stellt. So bittet er vor Kaiser und Reich in Demut, aber gerade darin unbeugsam, man möge ihn doch mit Zeugnissen der Schrift und Vernunftgründen widerlegen. Er fordert damit die freie offene Diskussion, in der allein die Macht des Argumentes gilt und nicht das Argument der Macht. Seine Forderung nach freiem, offenem Streit um die Wahrheit sollte in der Neuzeit nicht mehr verstummen, die Aufklärung nahm sie wieder auf und die totalitären Ideologien des vorigen Jahrhunderts konnten sie nicht zum Schweigen bringen.

Das Wort Gottes aber, auf das sich Luther beruft, ist nicht ein kirchliches Lehrgebäude, sondern dessen kritisches Gegenüber. Und es redet den Menschen an: Du bist gemeint, Du bist geliebt, Du glaube und Du verantworte im Denken, was du glaubst. Diese höchste Autorität ist auctoritas, das heißt Urheberschaft von Freiheit, einer Freiheit, die den Mut hat, sogar einer Versammlung der höchsten Autoritäten von Kirche und Welt zu widerstehen. "Wortwiderstand" hat das Luther später genannt. Zugleich aber ist es die Wahrheit, die die ganze Welt betrifft. Es ist nicht auf die Innerlichkeit, eine subjektive Gewissheit, auf eine religiöse Privatsache oder eine mönchische Studierzelle zu reduzieren. Sie geht aufs Ganze, sie schafft sich Öffentlichkeit, aber sie tut es als Wort, das freie Antwort sucht, nicht als Gewalt, die Anpassung erzeugt.

Anders als der Humanismus

Luthers Freiheit unterscheidet sich auch von der humanistischen Freiheit, die von der italienischen Renaissance geprägt war: Der italienische Dichter der Frührenaissance Francesco Petrarca besteigt in der Provence den Mont Ventoux. Sein Blick schweift bewundernd über die Cevennen, den Golf von Lyon und die Rhone. In diesem Erleben der Natur aber lässt er sich von den Bekenntnissen Augustins auf Höheres leiten. Er liest: "Die Menschen gehen hin, die Bergeshöhen zu bewundern und die ungeheuren Fluten des Meeres... und die Bahnen der Gestirne - sich selbst aber lassen sie außer acht, vor sich selbst bleiben sie ohne Bewunderung." Die anima, der Mensch als Seele, ist Gegenstand der "Bewunderung". In sich selbst soll der Mensch zurückkehren, denn im Innern wohnt die Wahrheit. Und Pico della Mirandola lässt Gott zu Adam sprechen: "... du selbst sollst nach deinem Willen und zu deiner Ehre dein eigener Werkmeister und Bildner sein" Etwas biederer und bürgerlicher klingt es dann kurz vor Luther bei Willibald Pirkheimer in Nürnberg, der Jesus in einer Ermahnung an seine Jünger sagen lässt: "Gang nicht müßig, arbeit' hier auf Erden / so magst du reich und selig werden."

Die Linie dieses Menschenbildes führt über die englische und französische Aufklärung und den deutschen Idealismus bis in die Gegenwart.

In sich selbst verkrümmt

Dagegen Luther: Er erinnert sich, wie es bei ihm zu der befreienden reformatorischen Erkenntnis kam. Er sitzt im Wittenberger Kloster über der Vorbereitung der nächsten Vorlesung über die Psalmen. "In Deiner Gerechtigkeit befreie mich" steht da. Wieder dieser Begriff "Gerechtigkeit", der ihn wie ein Alb drückt. Bindet der befreiende, der gnädige, der rettende Gott seine befreiende Gnade also wirklich daran, dass wir vor seiner richtenden Gerechtigkeit mit unserm Leben bestehen? Luther müht sich um ein heiliges Leben, aber nichts hält seiner Selbstprüfung vor dem heiligen Gott stand. Er bleibt im Selbstzweifel gefangen, "in sich selbst verkrümmt" nennt er das.

Da macht er die Entdeckung, dass im Zusammenhang der Bibel die Gerechtigkeit eine Aktivität Gottes meint, nicht eine Aktivität, die er als Vorbedingung vom Menschen fordert. Gottes rettende Gerechtigkeit ist gemeint, in der Gott seiner Liebe gerecht wird und seine in Gottesferne und Tod verlorenen Menschen rettet. Dieser rettenden Gerechtigkeit Gottes werden wir gerecht, indem wir ihr vertrauen, ihm so die Ehre geben und seine Liebe erwidern. " Da war es mir" - schreibt Luther - "als wäre ich ganz von neuem geboren und durch geöffnete Türen in das Paradies eingetreten.".

Auch Luther will den tätigen Menschen, der Gottes Mitarbeiter in der Welt ist, der aus dem Glauben heraus den tätigen Gottesdienst der Nächstenliebe übt. Das "protestantische Arbeitsethos" halten nicht wenige für das eigentlich Protestantische, sogar die SED tat es gegen Ende ihrer Machtstellung. Aber Luther hielt es für den Grundirrtum, ja die Grundverfehlung des Menschen, dass er sein Menschsein und seine Menschenwürde aus seinen Leistungen rekonstruiert. Luther: "Nicht Werke machen einen guten Mann, ein guter Mann macht gute Werke".

Der Kult des Machens

Luther hat einmal ironisierend von denen gesprochen, die das haec ego feci, "dies habe ich gemacht", zum Grundentwurf ihres Lebens machen. "Haec ego feci? Ex hoc: feci, vere fiunt feces!" Das habe ich gemacht? Aus diesem "gemacht" werden feces, Fäkalien. In diesem Kult menschlichen Machens werden Menschen zu "unglücklichen und stolzen Göttern", Christus aber sei zu uns herabgestiegen, um uns zu wahren Menschen zu machen.

Was der Kult des Machens anrichten kann, wissen wir inzwischen besser als Luther - oder können es wissen. Ist Luthers kritische Sicht des Menschen heutiger Menschheitserfahrung nicht eher gewachsen als der humanistische Enthusiasmus?

Seine Freiheitsbotschaft fasst Luther in seiner Freiheitsschrift von 1520 zusammen. Er schickte sie dem Papst, damit er - bevor er den drohenden Bann wirklich ausspricht - doch weiß, was er da verwirft. Verwegen fasst er seine Lehre im Begriff der Freiheit zusammen. "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Die christliche Religion ist eine Religion der Befreiung. Zwei Thesen stellt er voran, die die Provokation, die im Thema steckt, noch einmal zuspitzen: "Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan" - durch den Glauben. Und: "Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan" - in der Liebe.

Befreiende Wahrheit

"Der Christenmensch ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan" - da hat man doch den reinsten Geschmack der Renaissance. In der Tat, Luther macht den Menschen nicht klein, nicht zu der armen Sünderfigur, die geduckt durch die Welt läuft. Was heißt denn Sünde für Luther? Dass der Mensch Gott nicht Gott sein lässt und damit sich selbst vor der Quelle des Lebens verschließt und selbst im Gestus vitalster Lebendigkeit in weltlichen oder frommen Karrieren am Leben vorbeiläuft.

Freiheit und Bindung verhalten sich bei Luther ganz anders, als es uns vertraut ist. Wir verstehen die Bindungen, die wir als Freie eingehen und eingehen müssen, als notwendige Einschränkungen der Freiheit. Wir sind gebunden an Gesetze, familiäre Verpflichtungen, gesellschaftliche Rücksichten. So sprechen wir auch von "religiös Gebundenen".

Luther dagegen sagt: Die Bindung des Glaubens an Gottes Wort macht mich frei. Die Religion ist nicht die Gängelung, Einhegung, Bevormundung der Freiheit, Religion ist Befreiung, ist der Ruf in die Freiheit, ist ihr Lebenselement.

Josef Joffe hat vor einigen Monaten in der zeit etwas längst Bekanntes erneut bewusst gemacht: In Deutschland standen Kirche und religiöse Bindung in Spannung, ja im Gegensatz zur Freiheit. Freiheit war Emanzipation von religiöser Bindung, während in Nordamerika Religion und Freiheit geradezu ursprunghaft zusammengehören. In Deutschland waren Kirche und staatliche Ordnung eng verflochten, seit sich die lutherische Reformation unter dem Dach des "Landesherrlichen Kirchenregiments" barg. Aus der neueren Geschichte fallen mir nur zwei Gegenbeispiele ein, wo evangelische Kirche politisch als Kraft der Befreiung erlebbar wurde: Die Bekennende Kirche im "Dritten Reich" und die Rolle der Kirche in der Herbstrevolution '89. Was muss eigentlich geschehen, damit Menschen heute die evangelische und katholische Kirche als die Religion der befreienden Freiheit wahrnehmen?

Dienstbarer Knecht

Kehren wir zu Luthers Schrift zurück und schauen die zweite These an: "Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan - in der Liebe." Unter "zum ersten" hatten wir gehört: "Niemandem untertan", weder Fürst noch Kaiser, noch auch Priester, Bischof und Papst. Die Christen als Kinder Gottes, als Angehörige Gottes, sind aus allen Hörigkeiten befreit. Darum ist die Liebe, die jedem Bedürftigen und dem Ganzen dienstbar wird, eine freie Tat des Glaubens.

Das heißt zweierlei. Einmal: Weil der Glaube aus Gottes Liebe lebt, ist er frei davon, diese Liebe durch allerlei fromme kirchliche Werke sich zu verdienen. Von dieser Selbstsorge befreit, kann sich der Glaube der Not des Nächsten und der Welt zuwenden. Zum andern: Als freie Tat des Glaubens unterstellt sich die Liebe bei ihrem Dienst in der Welt keinem fremden Gesetz. "Jedermann untertan" heißt also keineswegs jedermann hörig, für alles und jedes instrumentalisierbar. Es heißt vielmehr, dass die Not des Nächsten zum Regulativ des eigenen Handelns wird. Aber "Gott mehr gehorchen als den Menschen" gilt gerade hier. Die Liebe wird nie zum Rädchen im System. Sie ist eine Gestalt christlicher Freiheit.

Am wichtigsten aber: Freiheit meint Beziehung, nicht die Eigenschaft des Individuums an und für sich. Freiheit wird Ereignis in der Beziehung Mensch-Gott und in der Beziehung Mensch-Mitmensch. Freiheit ist nicht erst sekundär, Freiheit ist im Innersten Kommunikation, Begegnung, Mitmenschlichkeit.

Konsequenzen für die Bildung

Abschließend will ich einige Konsequenzen aus dem reformatorischen Freiheitsverständnis für die Bildungsaufgabe formulieren. In unserer Gesellschaft müssen wir ja das, was Luther vom Christenmenschen sagt, in das umsetzen, was in der heute religiös pluralen beziehungsweise säkularen Gesellschaft für die zu bildende Menschlichkeit des Menschen überhaupt gelten soll. Fünf Thesen dazu:

1. Eine Bildung aus reformatorischer Freiheit stellt sich der Frage nach der Wahrheit, welche die Existenz von Mensch und Welt trägt und die uns als Person "unbedingt angeht" (Paul Tillich). Sie beantwortet diese Frage nicht autoritär, sie respektiert das unvertretbare Wahrheitsgewissen jedes Einzelnen, aber sie führt zu der Mündigkeit, die sich dieser Frage in ihrer Unausweichlichkeit stellt.

2. Eine Bildung aus reformatorischer Freiheit ist von der Hybris erzieherischer Heilsideen entlastet, denn Heil oder Lebenserfüllung können wir weder machen noch bilden, sondern nur aus dem Unverfügbaren empfangen. Die Menschlichkeit des Menschen machen zu wollen, produziert Unmenschlichkeit. Luthers theologischer Grunderfahrung und Erkenntnis, dass der Mensch allein durch Gnade und allein durch Vertrauen (sola gratia und sola fide) gerettet werden kann, entspricht die anthropologische Grunderfahrung und Erkenntnis, dass menschliche Selbstentfaltung aus einem "Grundvertrauen" lebt, das sich liebender Zuwendung verdankt.

3. Eine Bildung aus reformatorischer Freiheit respektiert die Würde, die jedem Menschen vor all seinem Tun und unabhängig von seinem Tun verliehen ist, und sensibilisiert für die Achtung dieser Würde.

4. Eine Bildung aus reformatorischer Freiheit ist von jedem Kult der Leistung befreit. Sie wird sich vom Karrierestress der Leistungsgesellschaft nicht zur Dressurpädagogik auf Leistungsoptimierung verfälschen lassen. Gerade so aber wird sie Menschen zur Wahrnehmung, Gestaltung und Weiterentwicklung ihrer Welt befähigen.

5. Eine Bildung aus reformatorischer Freiheit wird den Einzelnen in seiner nicht hintergehbaren Originalität fördern und zu eigener schöpferischer Verantwortung ermutigen.

Sie wird aber zugleich einem individualistischen, selbstbezogenen Freiheitsverständnis entgegenwirken, nicht aus moralischem Rigorismus, sondern aus Einsicht in die Sozialität des Menschseins. Freiheit kann nur in sozialen Beziehungen wachsen und leben. Dazu gehört die Bildung sozialer Kompetenz und politischer Verantwortung.

Heino Falcke

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Heino Falcke

Heino Falcke ist Professor für Astrophysik und Radioastronomie am Institut für Mathematik, Astronomie und Teilchenphysik der niederländischen Radboud Universität in Nimwegen und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn. Sein Hauptinteresse gilt der Physik Schwarzer Löcher; der 57-Jährige ist einer der renommiertesten Experten für Dunkle Energie und Materie. 


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