Uferloses Begehren

Inseln in der Kulturgeschichte
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Ein unerschöpflicher, faszinierender Ideenzauber. Volkmar Billigs Insel-Buch ist eine gescheite Hymne auf entfesselte Imaginationslust.

Kokett nennt der Autor sein Unternehmen "maßlos". Nun, artistische Gebilde sind es und berauschende Projektionen, die er, stilistisch brillant, vorführt. "Feste am Rande des Nichts" gehören dazu und "alte Meeresnester, die nie aus dem Mythos herausgetreten sind" (Ernst Jünger). Die Liste seiner Zeugen ist erlesen. Kulturgeschichtliche Epochen entfalten sich. So lässt man sich neugierig auf diesen "Archipel insularer Fantasien" ein, trifft auf eine Fülle "idyllischer, exotischer, erotischer, philosophischer Entwürfe", Traumwelten allesamt, gleichwohl Pforten zum numinos Anderen, durchstreift die libidinös aufgeladenen Sphären entgrenzter Begierde, poetisch zauberhaft montiert, bevor man, etwas außer Atem, Shakespeare zustimmt: "Inseln und der darauf blickende Mensch sind aus demselben Stoff der Träume gemacht."

Solche Insel-Imagos gewähren transzendentes Obdach kraft poetischer Imagination. Die Inselszenarien, folgt man dem Autor, stiegen in alten Kulturen auf, als projizierte, Verheißung und Erfüllung bündelnde Sehnsucht nach dem Unverfügbaren, nach vollkommener Erlöstheit, ja neuer Schöpfung.

Ein unerschöpflicher, faszinierender Ideenzauber; und immer sind in dieser artistischen Ausdruckswelt die Parzen im Spiel. Natürlich! Das Buch ist eine gescheite Hymne auf entfesselte Imaginationslust. Und so nimmt der durch all die Stil- und Sprachgebärden geblendete Leser unwirsch zur Kenntnis, dass der nur selten verreiste Immanuel Kant für diese Fülle graziler Inselarchitekturen - vom schlichten Paradies über Rousseaus erotisch erhitzte Petersinsel bis hin zu den erlebten oder fantasierten Südseewallungen eines Stevenson, Gaugins, Jüngers oder Benns - nur den finalen Bannstrahl "leere Sehnsucht" übrig hatte. Vielleicht hatte Homer ihn schon im Sinn, als er Odysseus an arkadischen Gestaden stranden ließ.

Poetische Geburtshelfer

Natürlich stellt das Buch klar, dass hinter all der betörenden Faszination genügend Dunkelheiten, Seinsabgründe und tragische Leidenschaften lauern. Gleichwohl will Faszination - tiefgläubig - leuchten, strahlen und blenden. Rastlos bleiben die Parzen als poetische Geburtshelfer durch alle Denk- und Ideenlandschaften hindurch beim Ersinnen der arkadischen Träumereien tätig: Fernen rücken näher und entfalten ihren Sog, verwunschene Strände geraten in den Blick, darunter dämmernde, fragwürdige, gestörte wie Platons "Atlantis" oder humanistisch vorbildliche wie Thomas Mores "Utopia". Fast immer geht es um die substantielle Einheit der Formen und Erscheinungen eines in sich selbst ruhenden und sich selbst genügenden Seins.

Für das vergangene Jahrhundert zitiert der Autor gern und oft Gottfried Benn, beinahe als normative Instanz - "... und was die Menschheit wob und wog / Funktion nur von Unendlichkeiten - / die Mythe log." Zwar hat sich Benn früh von seiner "Inselsucht" gelöst - um kurz darauf seinen "Fanatismus für die Transzendenz" entschlossen zu verteidigen. Hier hätte ein Hinweis auf Benns gegenläufiges Metaphernspiel "Inselsucht" - die "Welt als Flucht" oder auf Max Frischs "Weltsucht" den Inselhorizont ergänzen können.

Klug erzählt das Buch von transzendenzversessenen, rauschfähigen Träumern, die ihre Erlösungsvisionen bunt schillernd zeichnen. So stehen ein romantisiertes Capri oder Palau oder Sansibar neben verwegenen Zeugnissen eines formschaffenden Geistes - der Osterinsel statische Kolosse. Schön anzusehen sind die kunstvoll chiffrierten Sehnsüchte allemal. Ein Genuss, der zum Eintauchen in leidenschaftliche Rauschwelten verführt.

Volkmar Billig: Inseln. Geschichte einer Faszination. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010, 304 Seiten, Euro 29,90.

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Harald M. Nehb

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