Der große Bluff

Wie das Universum entstand
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Zwei an und für sich hochgescheite Autoren sind daran gescheitert, die Welt nicht mehr nur beschreiben, sondern auch noch erklären zu wollen.

Die moderne Physik wird von zwei große Theorien beherrscht: Allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Erstere beschreibt die äußere Struktur des Universums, das Reich der Gravitation; letztere das Innere der Materie, das Reich der subatomaren Teilchen. Beide Theorien sind jeweils für sich genommen mit schier unvorstellbarer Genauigkeit experimentell bestätigt worden. Eine beispiellose wissenschaftliche Erfolgsstory, die jedoch einen gravierenden Schönheitsfehler hat: Relativitätstheorie und Quantenmechanik passen nicht zu einander; es fehlt die kausale Verbindung. Die Physik zerfällt in zwei Teile. Nur ein "großer Wurf" kann diesen inneren Widerspruch auflösen. Stephen Hawking und Leonard Mlodinow behaupten, jener Einheit der Physik - der "einen Theorie von allem", wie Hawking es formuliert - dicht auf den Versen zu sein.

Hawking, seit seiner Studentenzeit an einer unheilbaren Motoneuronen-Erkrankung leidend, war von 1979 bis 2009 Professor für angewandte Mathematik und theoretische Physik in Cambridge. Er gilt als einer der großen Wegbereiter der modernen Kosmologie. Mlodinow, Professor für Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik am renommierten California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena, wurde hingegen erst als Koautor des Hawking-Bestsellers Die kürzeste Geschichte der Zeit weltbekannt. Im neuen gemeinsamen Buch geht es zum einen um die Naturgesetze, um Materie, Energie, Raum und Zeit und die Entstehung sowie Entwicklung des Universums, zum anderen aber auch um "neue Antworten auf die letzten Fragen des Seins": "Wann und wie ist das Universum entstanden? Warum gibt es uns? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht einfach nichts? Was ist Wirklichkeit? Warum fallen die Naturgesetze genau so aus, wie es die Möglichkeit unserer Existenz verlangt?"

Leichtfertige Gralsritter

Alles wichtige und gewiss nicht nur für Physiker brisante Fragen. Und über weite Strecken lohnt es auch, Hawking und Mlodinow bei ihrer wahrlich faszinierenden Entfaltung physikalischer Weltbilder zu folgen. Leider erliegen die Autoren der Versuchung, dem Leser so etwas wie den "Stein der Weisen" unterjubeln zu wollen. Die Autoren tun so, als gäbe es tatsächlich so etwas wie eine "Weltformel" zu entdecken - quasi einen heiligen Gral der Wissenschaft, der nicht nur alle Brüche der Physik heilt, sondern zugleich auch noch das Rätsel der menschlichen Existenz löst.

Den beiden Gralsrittern indes gelingt trotz ihres brillanten Stils, ihrer klaren, bilderreichen und zuweilen auch humorvollen Sprache nicht einmal eine inhaltlich zuverlässige Darstellung der rein physikalischen Sachverhalte. So fallen etwa aktuelle Modifikationen der Urknalltheorie glatt unter den Tisch. Dafür avanciert ein alter Hut wie die Stringtheorie - die trotz jahrzehntelanger Forschung nichts als reine Spekulation geblieben ist - zum größten Hoffnungsträger für die gesuchte Einheitstheorie. Misslungen sind vor allem die Abstecher ins geisteswissenschaftliche Milieu: Weder Aristoteles Kosmologie noch Epikurs Atomlehre werden korrekt dargestellt. Auch bei der "neuen Erklärung des Universums" - dem erklärtermaßen wichtigsten Anliegen dieses Buches - überzeugt das Autorenteam nicht. Zwar gibt es durchaus plausible Argumente dafür, dass wir alle letztendlich das Produkt von "Quantenfluktuationen" aus der Frühphase des Universums sind. Die entscheidende Hypothese jedoch, dass das Universum spontan aus dem "Nichts" entstanden sei, bleibt unbegründet. Denn trotz allerlei Verrenkungen kann die Logik der "Creatio ex Nihilo" auch von Hawking und Mlodinow nicht eingeholt werden. Es gibt keine Physik, die aus dem "Nichts" ein "Etwas" machen kann - es sei denn, man gestattet sich den Unfug, ein physikalisch definiertes Hochvakuum mit dem theologisch-philosophischen Begriff des "Nichts" gleichzusetzen.

Ohne jedes Gespür für die Vorläufigkeit aller Erfahrungswissenschaften haben hier zwei renommierte Wissenschaftler leichtfertig die erkenntnistheoretischen Grenzen ihrer Profession überschritten. Zwei an und für sich hochgescheite Autoren sind daran gescheitert, die Welt nicht mehr nur beschreiben, sondern auch noch erklären zu wollen. Kein "großer Entwurf", eher schon ein großer Bluff.

Stephen Hawking / Leonard Mlodinow: Der große Entwurf. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010, 192 Seiten, Euro 24,95

Reinhard Lassek

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