Ohne Angst

Differenzierte Sicht auf den Islam
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Michael Lüders zerlegt in seinem Buch über den Islam das gängige Drohbild in seine Einzelteile.

Der Islam hat hierzulande meist ein schlechtes Image. In Medien, Politik und Öffentlichkeit wird Islam häufig in einem Atemzug mit Gewalt, Terror, Ablehnung der Moderne oder Frauenfeindlichkeit genannt. Die islamisch geprägte Welt erscheint dabei als Bedrohung für das Abendland, das um seine Identität ringt. Diese Sichtweise ist jedoch verengt und blendet die Ursachen vieler Probleme aus, wie der Islamwissenschaftler und Publizist Michael Lüders betont. In seinem Taschenbuch zerlegt Lüders das Drohbild Islam in seine Einzelteile. Detailreich erklärt er, warum ganz unterschiedliche politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Konflikte im Orient und unter Muslimen in Europa nicht vermischt werden dürfen. Das Terrornetzwerk Al-Qaida und andere Extremisten stehen eben nicht für weltweit 1,5 Milliarden Muslimen - die Angabe von 15 Milliarden Muslimen in der ersten Taschenbuchauflage dürfte ein Druckfehler sein.

Ausgehend von Mohammed und dem Koran skizziert Lüders die Entwicklung des Islam und seine kulturelle Blüte im Mittelalter. Dabei wird deutlich, dass die koranischen Aufrufe zum Kampf gegen Ungläubige nicht als immer und überall gültiger Appell zu sehen sind - auch wenn sie von einigen Fundamentalisten so gedeutet werden. Der Dschihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes ist heutzutage nur im Verteidigungsfall zulässig, wie ein Großteil der modernen muslimischen Theologen hervorhebt.

Geistige Offenheit

Im Gegensatz zur heutigen Situation zeichneten sich die muslimischen Gesellschaften einst durch eine hohe Anpassungsfähigkeit an Veränderungen aus. Diese geistige und theologische Offenheit ging jedoch im Laufe der Zeit verloren. Sie wiederzuerlangen, ist nicht nur eine Forderung westlicher Politik. Auch viele muslimische Intellektuelle streben danach. Anschaulich schildert Lüders auch den Nahostkonflikt, die kolonialen Ränkespiele, das Aufkommen des modernen Islamismus als einer Art Protestbewegung und die Kriege im Irak und in Afghanistan. Ihm geht es darum, die Ursachen der Konflikte aufzuzeigen. Lüders Augenmerk gilt dabei vor allem der arabischen Welt, Iran und Afghanistan, die zwar nur einen Bruchteil der Weltreligion Islam umfassen. Angesichts der Bedeutung dieser Regionen in der westlichen Wahrnehmung ist diese Konzentration jedoch sinnvoll.

Anders als die Analysen zum Orient ist das Kapitel über den Islam in Europa und die Integrationsdebatte trotz wichtiger Denkanstöße zu knapp geraten. Komplexe und strittige Themen wie Ehrenmord, Parallelgesellschaften, Leitkultur oder die Ausgrenzung von Muslimen lassen sich auf einem Dutzend Seiten allenfalls anreißen.

Insgesamt eröffnet Lüders einen differenzierten Blick jenseits der gängigen Wahrnehmungsmuster. Dabei geht der Politikberater von zwei Grundthesen aus. Zum einen würden viele Menschen den Islam gelassener sehen, wenn sie mehr über seine Entstehung und seine kulturelle Blüte in der Vergangenheit wüssten. Zum anderen hat sich der Westen laut Lüders einen Großteil seiner Feinde in der islamisch geprägten Welt durch seine Politik selbst geschaffen. Beide Thesen laden zur kritischen Auseinandersetzung ein. Das Buch ist in jedem Fall hilfreich, allzu pauschale Deutungen des Islam zu hinterfragen und über Fehler des Westens in der Außen- und Integrationspolitik nachzudenken.

Michael Lüders: Allahs langer Schatten. Warum wir keine Angst vor dem Islam haben müssen. Herder Verlag, Freiburg 2010. 224 Seiten. Euro 9,95.

Andreas Gorzewski

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