Verwandte des Priesters

Vor 25 Jahren starb der russische Regisseur Andrej Tarkowskij
Filmszene aus Stalker Foto: dpa
Filmszene aus Stalker Foto: dpa
Wer sich als Künstler nicht auf die Suche nach der absoluten Wahrheit begibt, wird eine Eintagsfliege bleiben. So beschrieb der Regisseur Andrej Tarkowskij seine Mission, die ihn visionäre Bilderwelten schaffen ließ. Werner Milstein, Pfarrer und Filmexperte aus Brilon, über die unorthodoxe Religiosität eines orthodoxen Christen.

Es hatte Tauwetter eingesetzt, wieder einmal. Den sowjetischen Filmschaffenden erschien es wie eine zweite Chance. Schon einmal, 1956, als der XX. Parteitag sich vom Stalinismus lossagte, war unter den sowjetischen Intellektuellen eine Aufbruchsstimmung spürbar gewesen. Diese erwies sich jedoch als trügerisch, schon bald bekamen sie zu spüren, dass sich die Kunst weiterhin in den Dienst der politischen Propaganda zu stellen hatte. Einer der schärfsten Kritiker dieser Vereinnahmung war der Regisseur Andrej Tarkowskij, er wandte sich gegen den "Verrat der Spiritualität", der zum einen dem politischen Machtdenken folgte, zum anderen aber ebenso dem Konsumbedürfnis entgegenkam. Eindrückliches Dokument dieses ersten Tauwetters war der Streifen Wenn die Kraniche ziehen (1957) von Michail Kalatosow, dessen Antikriegsfilm die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges am Beispiel der Liebesgeschichte zweier junger Menschen aufzeigte. Mit Iwans Kindheit (1962) behandelte Tarkowskij fünf Jahre später dieses Thema neu. Als Kundschafter der Sowjetarmee zieht der Junge Iwan, dessen Eltern von den deutschen Truppen ermordet worden sind, durch die trostlos graue Kriegslandschaft. Der Wechsel von Rückblenden und Traumszenen verdichtet die Handlung und macht somit das ganze Ausmaß der Zerstörung offenbar. Übergroß ist in einer Landschaftsszene ein Kreuz zu erkennen.

Der russische Dichter und Symbolist Andrej Belyj schreibt über den Sinn der Kunst: "Die Kunst hat überhaupt keinen besonderen Sinn außer dem religiösen; in den Grenzen der Ästhetik haben wir es nur mit der Form zu tun. Wenn wir uns von dem religiösen Sinn der Kunst lossagen, entleeren wir sie jeden Sinnes: ihr Los ist es dann, zu verschwinden oder sich in Wissenschaft zu verwandeln ..." Dem dürfte Tarkowskij im Wesentlichen zugestimmt haben. Religiöse Motive durchziehen sein Werk, sei es, dass im Hintergrund immer wieder Stücke aus den Oratorien Johann Sebastian Bachs eingespielt werden, sei es, dass Bibeltexte gelesen werden, wie die Emmausgeschichte in Stalker (1979) oder die Dreieinigkeitsikone von Andrej Rubljew, die, wie zufällig aufgestellt, in Solaris (1972) und Der Spiegel (1974) zu sehen ist. Immer wieder kehren bestimmte Motive in den Filmen wieder, so dass sein ganzes Werk wie vernetzt wirkt.

Vielleicht wäre, wie einmal vorgeschlagen wurde, ein lexikalisches Verzeichnis aller Motive hilfreich, allerdings dürfte der Wert nicht allzu hoch zu veranschlagen sein, Tarkowskij war kein Symbolist, er sah in den Dingen zunächst nichts anderes als das, was sie sind. Befragt nach der Bedeutung der "Zone", die seine drei Protagonisten in Stalker durchwandern, antwortete er sehr nüchtern, sie sei das, was sie ist, nämlich eine Zone. Da der Film in der Nähe von Tschernobyl gedreht wurde, liegt über ihm eine unheimliche Vorahnung, weist die Atmosphäre doch sehr frappant auf die atomare Sperrzone hin.

Tarkowskij geht es in seinem Werk um die innere Sicht der Welt. Er selbst schreibt in seinen Gedanken zur Kunst und Ästhetik: "Man könnte sagen, dass die Kunst ein Symbol dieser Welt ist, die mit jener absoluten geistigen Wahrheit verbunden ist, die eine positivistisch-pragmatische Wahrheit verborgen hält."

Dieses Symbol, sagt er an anderer Stelle, sei unerschöpflich und grenzenlos. Nicht zufällig sieht Tarkowskij in dem Künstler einen Verwandten des Priesters, denn "der wirkliche Künstler steht immer im Dienst der Unsterblichkeit: er versucht, diese Welt und die in ihr lebenden Menschen unsterblich zu machen. Wenn er sich dagegen nicht auf die Suche nach der absoluten Wahrheit begibt, dieses globale Ziel vielmehr gegen Nichtigkeiten austauscht, dann bleibt er lediglich eine Eintagsfliege".

Der Regisseur war orthodoxer Christ mit einer völlig unorthodoxen Religiosität, wozu nicht zuletzt auch seine Vorliebe für die Anthroposophie Steiners geführt hat.

Unter Zensur gelitten

Die Beziehungen zu den deutschen Romantikern, die Tarkowskij sehr intensiv studiert hat, ist in seinen Filmen nicht zu übersehen, seine Vorliebe für das Motiv des Wanderns oder des Fensters dokumentiert diese, dennoch darf der Einfluss nicht überschätzt werden. Er bleibt in seinem Werk der russischen Bevölkerung eng verbunden. "Der Osten war der ewigen Wahrheit stets näher als der Westen. Aber die westliche Zivilisation hat den Osten mit ihren materiellen Lebensansprüchen verschlungen ... Der Westen schreit: Hier, das bin ich! Schaut auf mich! ... Der Osten dagegen sagt kein einziges Wort über sich selbst. Er verliert sich völlig in Gott, in der Natur, in der Zeit. Und er findet sich in all dem selbst wieder! Er vermag alles in sich selbst zu entdecken!"

Der Entstehungsprozess des großen Werkes Andrej Rubeljew (1966-69) wird mit Recht eine "kinematografische Passionsgeschichte" genannt. Der Film erzählt eindrücklich vom Umgang der Mächtigen mit der Kunst. Er offenbart ihre Unsicherheit und ihr Unvermögen, letztlich die Kunst zu unterdrücken. Aufschlussreich ist hier die zweite Szene des Films: ein Gaukler führt vor einer Gruppe von Bauern seine Späße vor. Kunst, das wird deutlich, ist harte Arbeit, und sie richtet sich an die einfache Bevölkerung. Der Gaukler wird denunziert, und die Soldaten nehmen ihn mit Gewalt fest und führen ihn ab. Erst viel später taucht er als gebrochener Mann wieder auf.

Dass sich Tarkowskij nach Ivans Kindheit mit einem mittelalterlichen Stoff beschäftigte, verwundert zunächst. Aber zum einen war auch der Inhalt von Ivans Kindheit nicht unbedingt ein aktueller Stoff - der Zweite Weltkrieg lag immerhin zwanzig Jahre zurück - zum anderen erinnert Andrej Rubljew nur zu sehr an die Situation der Kunst in der damaligen Sowjetunion.

Die Mächtigen reagierten dementsprechend. Die Idee zu diesem Film hatte der Regisseur bereits 1961, in den Jahren 1964 und 1965 fanden die Dreharbeiten statt. Ende 1966 wurde er in einem kleinen Kreis gezeigt und im Jahr darauf von der Sowjetunion für das Filmfest in Cannes nominiert, dann aber überraschenderweise wieder zurückgezogen. Es ging angeblich um "künstlerische Mängel". Zwei Jahre wurde der Film dann unter Verschluss gehalten, am Ende gab es Auflagen, ihn neu zu schneiden, einige Szenen empfand man als zu brutal. Eine Kuh wurde lebendig verbrannt, ein Hund auf grausame Weise zu Tode geprügelt und ein Russe durch die Tataren gemartert. Im Februar 1969 gab es dann die erste Aufführung in Moskau, allerdings immer noch in kleinerem Kreis. Als der Film dann im selben Jahr in Cannes in einer Sondervorstellung gezeigt wurde, fühlte sich die sowjetische Delegation brüskiert und reiste ab. Für vier Jahre gab es ein Exportverbot. In Cannes wurde der Film indes als ein "überragendes Werk" gefeiert "von außerordentlicher Schönheit und Gewalt", ein "Film der Hoffnung" (François Maurin, 1969). 1973 kam der Film in die DDR-Kinos und wurde bald danach auch in Westdeutschland gezeigt.

Der Prolog des Filmes, eine Heißluftballonfahrt, verkörpert das neue Lebensgefühl der Renaissance, das faszinierende Erlebnis einer grenzenlosen Freiheit und damit verbunden eine neue Sichtweise auf Menschen und Landschaft. "Ich fliege, ja!", ruft der Ballonfahrer begeistert aus. Aber dem grandiosen Höhenflug folgt ein jäher Absturz. Der Traum ist geplatzt, die irdische Wirklichkeit ist von brutaler Härte, der Boden, auf den der Ballonfahrer stürzt, wird zum Schauplatz von Hunger, Krankheit und Krieg.

In der russischen Kunstgeschichte wird die Renaissance mit dem Künstler Andrej Rubljew verbunden, dessen Dreifaltigkeitsbild zum Inbegriff der russischen Ikonenmalerei geworden ist. Tarkowskij erzählt von der Suche des Künstlers nach seiner Aufgabe. In dem Dialog mit dem byzantinischen Meister Theophanes dem Griechen zeigt sich die Wende. Sagt Theophanes betont "Ich diene Gott, nicht den Menschen", vollzieht Rubeljew die Hinwendung zu den Menschen. Seine Liebe gehört dem Volk, dem erniedrigten und geschundenen Volk, das all das Leid und die Not auf sich nimmt und bis an die Grenzen des Erträglichen gedrängt wird und dennoch bleibt und weiter besteht. "Das Volk hat immer wieder Ungemach getragen: Tatareneinfälle, Hungersnöte, Pestilenzen. Trotzdem aber arbeitet es weiter." Wie ein lebendiges breughelsches Gemälde erscheint die Passion, und während das Kreuz an dem Künstler vorbeizieht, sinniert er, dass auch der Tod Jesu eine Grausamkeit sei, schließlich habe er sein Volk allein gelassen.

Von erschreckender und eindringlicher Brutalität sind die Bilder, die Tarkowskij von dem Einfall der Tataren an die Leinwand wirft. Auch ohne die geschnittenen Szenen wird deutlich, was die russische Bevölkerung zu ertragen hatte. Sie sei das Bollwerk des Christentums gegen die Tataren, so heißt es in einem Brief Puschkins, aus dem in dem Film Der Spiegel gelesen wird. Inmitten des Gemetzels wird in einer Rückblende der heuchlerische Kuss zwischen dem Großfürsten und seinem Bruder gezeigt, der sich jedoch schon längst mit den Feinden verbündet hat. Gemeinsam überfallen sie die Stadt Wladimir.

Der neue Mensch

Wie kann Rubeljew inmitten dieser Zeit an der Wandmalerei zum Jüngsten Gericht arbeiten, das die Bevölkerung einschüchtern soll? Er will die Menschen nicht erschrecken, ihnen gehört seine tiefe Solidarität. Als sich bei der Erstürmung Wladimirs die Menschen in die Kathedrale flüchten, kommt es dort zu einem schrecklichen Gemetzel. Rubeljew rettet ein schwachsinniges Mädchen, indem er einen Soldaten tötet. Dann erschreckt er vor sich selbst und legt sich ein Schweigegelübde auf: "Den Menschen habe ich nichts mehr zu sagen."

In einer weiteren Szene lässt der Großfürst nach einem Glockengießer suchen, der eine große Glocke gießen soll. Aber seine Leute finden nur den Sohn des berühmten Glockengießers, der aber behauptet, sein Vater habe ihm sein Geheimnis anvertraut. Mit einer ungeheuren Tatkraft macht er sich ans Werk, wählt den richtigen Lehm aus, gibt Anweisungen und treibt immer wieder die Arbeiter an. In Anwesenheit des Großfürsten wird die Glocke geläutet und ihr Klang berührt alle Anwesenden. Rubeljew findet abseits den weinenden Sohn des Glockengießers, der ihm gesteht, dass ihm sein Vater sein Geheimnis nicht anvertraut hat. Für den Ikonenmaler wird er aber gerade darum zum "neuen Menschen", der "als Motor der Geschichte aus dem Nichts, die Form einer neuen Zeit und einer besseren Zukunft" schafft. Beide haben ihre Aufgabe und Bestimmung gefunden. "Wir ziehen gemeinsam weiter. Du wirst Glocken gießen und ich werde Ikonen malen. Du hast den Menschen eine große Freude bereitet." Und während der Film bislang in Schwarzweiß gehalten ist, was ihm eine geradezu dokumentarische Dichte gibt, gibt er nun in leuchtenden Farben die Werke Rubljews wieder.

Tarkowskijs Rubljew ist der "Gegenentwurf zu jener bigotten Ikonenmalerei des sozialistischen Realismus, die in den patriotischen Geschichtsfilmen der Fünfzigerjahre zu einer besonderen Form von stalinistisch-dogmatischen Byzantismus erstarrt war" (Klaus Kreimeier). Trotz seiner unbedingten Sympathie für sein Volk verließ Tarkowskij 1983 die Sowjetunion und kehrte von der sowjetisch-italienischen Co-Produktion Nostalghia nicht mehr nach Moskau zurück. Der Druck war zu stark geworden. Die Reaktion folgte umgehend, seine Filme wurden aus dem Verleih gezogen, die gerade gedruckte Filmenzyklopädie wurde eingestampft, seine Name durfte nicht mehr erwähnt werden. Tarkowskij selbst begründete seine Emigration mit der "unerträglichen Bürokraten-Arroganz" des Vorsitzenden der zentralen Filmbehörde Goskino, Filipp T. Jermasch. Der Regisseur lebte nun abwechselnd in Italien und Frankreich, erhielt dann 1985 ein Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes und begann mit seinem letzten Film Das Opfer, einer schwedisch-französischen Co-Produktion. Den Preis der Jury 1986 konnte er in Cannes schon nicht mehr entgegen nehmen, er war an Lungenkrebs erkrankt.

Derweil begann sich in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow das Tauwetter auch unter den Filmschaffenden auszuwirken. Für den Herbst war eine Retrospektive der Filme Tarkowskijs geplant und am 29. Dezember 1986 wurde Filipp T. Jermasch von der KPdSU abgelöst. An genau diesem Tag starb Andrej Tarkowskij in Paris im Alter von 54 Jahren - seine Freunde sahen dieses Zusammentreffen als eine bittere Ironie des Schicksals an. Der Regisseur Alexander Sokurow, der ihm sehr nahe stand, schrieb in Erinnerung an ihn: "Den Weg, den er ging, konnte nur er gehen: er selbst hat sich seinen Wald gesucht und dort seine Lichtung geschlagen, um dann nach eigenem Kompass gen Norden zu gehen - seinem Tod entgegen. Und an all dem ist nichts Besonderes: so geht jeder in Russland seinen Weg, diejenigen jedenfalls, die Glauben in sich tragen."

Werner Milstein

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