Wiedergänger

Neues von "Kinderzimmer Productions"
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Die Irritation darüber, ob man sich in einem Straßengedicht oder einem Spiel für Stimmen von Dylan Thomas befindet, ergeben ein intensives Hörerlebnis.

Rock Symphonies" nennt Geigenstar David Garrett sein Amalgam aus Rockband und Orchester. Den großen Klangkörper setzt er virtuos und fraglos intensivierend für Klassiker wie Nirvanas Smells Like Teen Spirit ein. Die Shows im nächsten Frühjahr werden voll sein, der Ansatz begeistert viele. Nörgler finden allerdings, das sei für den hohlen Zahn: technisch toll und handwerklich herausragend, aber uninspiriert. Was fehlt diesen Leuten? Vielleicht die Gänsehaut und das archaische Zittern, das Siouxsie and the Banshees auslösten, als sie 1983 eine Partie von Strawinskys Le Sacre du Printemps an den Beginn ihres Auftritts in der Royal Albert Hall setzten, bevor ihr Song "Israel" über das Publikum kam.

Noch der Albummitschnitt "Nocturne" wühlt auf, dabei kam ihr "Le Sacre" ganz schnöde vom Band. Die Synthese von Handwerk und Ritual beim Orchestereinsatz gelingt nun ausgerechnet einer HipHop-Formation, die sich zudem längst aufgelöst hat, Kinderzimmer Productions aus Ulm, die seit 1994 nicht wenige verzückten. Plattentitel wie Die Hohe Kunst der tiefen Schläge sprechen für sich und sie. "Unplugged" traten sie dann 2008 im Konzerthaus Dortmund ab.

Doch einem Österreicher gelang es, den KP-Wortmann Textor (bürgerlich: Henrik von Holtum - selbst diplomierter Orchesterbassist) mit der Vision eines großen Orchesters zu ködern. So kam es, dass Textor, Quasi Modo (bürgerlich: Sascha Klammt, Mann für Beats und Samplings) und ihr Live-Schlagzeuger Jürgen Schlachter im Sommer 2010 mit dem orf-Radiosymphonieorchster Wien auf der Bühne waren - als erste HipHop-Crew mit einem großen Klangkörper überhaupt.

Gegen den Strich heißt die CD mit dem denkwürdigen Auftritt, der auch als Konserve fasziniert. Lyrisches Ich in Rapdiktion und anschwellende Bläser, vertrackte Maschinenbeats, jazziger Bass in swingenden Filmscores, dazu melancholische Binnenprosa im Wortewiegeschritt und die Irritation darüber, ob man sich in einem Straßengedicht oder einem Spiel für Stimmen von Dylan Thomas befindet, ergeben ein intensives Hörerlebnis, das die Maschinenherkunft von HipHop ganz selbstverständlich in die biodynamische Größe des vital korrespondierenden Orchesterklangkörpers taucht und umgekehrt. Verächtern der Kappenreimer flößt das ebenso tiefen Respekt ein, wie es all jenen, die Kinderzimmer Productions schon immer mochten, Begeisterung beschert. Das Genre jedenfalls löst sich in diesem Miteinander zu etwas Eigenem, Größerem auf und ist vom Aufwand her sicher nicht zu wiederholen. So haben Kinderzimmer Productions als Wiedergänger noch einmal Maßstäbe gesetzt.

Kinderzimmer Productions: Gegen den Strich. Live mit dem RSO-ORF-Radio Symphonie Orchester Wien, Trikont/Indigo 2011.

Udo Feist

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