Mit den Vätern in die Wüste

"Ich glaube, jeder hat einen solchen Raum in sich, weiß, leer, lichtdurchflutet"
Mondlicht. Foto: Christian Reiser
Mondlicht. Foto: Christian Reiser
Christian Reiser verbrachte den Winter 2010/11 in einer kleinen Hütte in Lappland - ein Experiment, als Eremit zu leben, die längste Zeit in einer Schneewüste. Er ließ sich dabei durch die Worte frühchristlicher Wüstenväter motivieren und manchmal inspirieren.

Auf die Bitte nach einem tröstlichen Wort sagte Altvater Moses einem Bruder: "Geh in dein Kellion und setz dich nieder, und das Kellion wird dich alles lehren."

Zwischen 300 und 600 n. Chr. zog es Männer und Frauen in die Wüsten des Nahen Ostens, um dort allein oder in kleinen Gruppen als Eremiten zu leben. "Kellion" nannten sie ihre Mönchsklausen. Es waren einfache Hütten oder Höhlen. Mein Kellion stand nördlich des Polarkreises im lappländischen Schweden. Fünf Monate, von Oktober bis März, war es mein Lehrmeister. Es war eine rote Blockhütte und stand oberhalb von Seen am Südhang eines mit Kiefern, Birken und Fichten bewaldeten Berghangs. Ein unbefestigter Fahrweg führte an ihr vorbei und endete sechshundert Meter weiter in der sumpfigen, offenen Tundra. Als Ende Oktober der erste Schnee fiel, ersetzten die Ski das alte grüne Armeefahrrad. Das Wasser trug ich in Kanistern von einem Bachlauf hinauf. Als Licht dienten Kerzen und eine Stirnlampe. Über die Wochen wurde es immer kälter und dunkler, dann zunächst heller, dann wärmer. Das Kellion lehrte mich viel.

Ein Jäger ärgerte sich über den Frohsinn einer Eremitengruppe um Antonius. "Lege einen Pfeil auf den Bogen und spanne!", forderte Antonius ihn auf. Das tat der Jäger. "Spanne ihn noch mehr!" ... Da antwortete der Jäger: "Wenn ich den Bogen noch mehr spanne, wird er brechen." Da lächelte Antonius und sagte: "So ist es auch mit dem Werk Gottes. Wenn wir die Brüder über das Maß fordern, versagen sie schnell." (nach Anselm Grün)

Zu Beginn meiner Zeit im Norden flog ich in einem Traum auf eine Hochspannungsleitung zu. Vielleicht hätte ich sie überfliegen können. Sicher war das nicht. So landete ich im Traum und ging unter ihr hindurch - zum Meer.

Foto: Christian Reiser
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Am Anfang der langen Nacht

Foto: Christian Reiser
Der Mond ist aufgegangen. Foto: Christian Reiser

Der Mond ist aufgegangen

Foto: Christian Reiser
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Die Hütte

Harte Askese in Einsamkeit und frostiger Umgebung ist anstregend. Der Körper verbraucht viel mehr Kalorien, der Geist verrennt sich schnell. Meine "Askese" bestand aus einfachem Leben ohne Strom und fließend Wasser, ohne Fernsehen und Internet; ein Leben nur mit dem, was ich selbst dorthin tragen konnte. Doch es gab Kaffee satt und eine Büchse Leichtbier am Abend. Es gab auch andere Menschen: Einmal die Woche begegnete ich ihnen in einem kleinen Supermarkt, der, je nach Schnee und Eis, anderthalb oder zweieinhalb Stunden entfernt war. In einem Gästehaus, das Hundeschlittenfahrten anbot, das, bevor die Seen begehbar wurden, fünf Stunden, dann nur knapp eine entfernt lag, konnte ich Akkus aufladen, E-Mails lesen, Kaffee trinken und reden. Oft waren es drei, vier oder fünf Tage, an denen ich niemanden sah.

Als sich Abbas Arsenius zum Einsiedlerleben entschlossen und sich aus der Welt zurückgezogen hatte, betete er einmal: "Herr, zeige mir den Weg, wie ich gerettet werden kann." Da hörte er eine Stimme, die ihm riet: "Arsenius, fliehe, schweige, ruhe!"

Sie beteten viel, schliefen viel, die Wüstenväter, doch sie arbeiteten auch. Sie flochten Körbe aus Palmfasern und verkauften sie auf dem Markt. Arbeiten und Geld verdienen musste ich im hohen Norden nicht. Nach achtzehn Jahren als Dozent, Pfarrer und Referent war es ein langer Sabbat. Meine "Pflichten" beschränkten sich darauf, Holz zu hacken, das Ofenfeuer in Gang zu halten, Wasser zu holen, einzukaufen und zu kochen. Nichts war so befriedigend, wie mit dem Zwanzig-Liter-Kanister keuchend die Hütte zu erreichen oder bei minus 20 Grad Celsius und den ersten zaghaften Strahlen der zurückgekehrten Sonne mit dem Beil Holz zu hacken.

Foto: Christian Reiser
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Wer sich's zutraut, kann sich auf den Hunderschlitten wagen

Schnell entwickelte ich einen Tagesrhythmus: Aufwachen ohne Wecker, Ofen anmachen, die erste Tasse Kaffee im Bett, während es langsam wärmer wurde, Tagespsalm und Meditation, Müsli, dann raus, meist auf Skiern, immer mit Kompass, Stirnlampe, Anzündern und Feuerzeug zur Sicherheit. Die zweite Mahlzeit gab es oft erst nachmittags, im Dezember und Januar musste ich schon davor die Kerzen anzünden. Bibellese, kochen, essen, Tagebuch und Briefe, dann ein Sachbuch und eine Büchse Bier.

Abbas Isidor: "Brüder, sind wir nicht wegen der Mühe an diesen Ort gekommen? Und nun bereitet er keine Mühe mehr?"

Das Leben wurde einfach. Die Möglichkeiten waren beschränkt. Der tiefe Schnee machte das Fortkommen jenseits von Hundeschlitten-, Schneescooter- oder eigenen Skispuren mühsam. Das Bücherregal bestand aus einem kurzen Brett, der Weltempfänger lieferte (manchmal) die Deutsche Welle, die täglich ihr zweistündiges Programm immer wiederholt. Was es zu essen gab, hatte ich zuvor weit getragen. Plötzliche Gelüste nach Pizza, Restaurants, gezapftem Bier quälten gar nicht erst. Das entschleunigte Leben atmete nicht die Mühsal der guten, aber stets aufgebbaren Vorsätze. Es war so, wie es war. Das war der Weg zum Glück.

Ein Bruder suchte Altvater Poimen auf und klagte: "Vater, ich habe vielerlei Gedanken und komme dadurch in Gefahr." Poimen führte den Gast ins Freie und riet ihm: "Breite dein Obergewand aus und halte die Winde auf!" "Das kann ich nicht", erwiderte der Bruder. Da sagte der Greis: "Wenn du das nicht kannst, dann kannst du auch deine Gedanken nicht hindern, zu dir zu kommen. Doch es ist deine Aufgabe, ihnen zu widerstehen."

Foto: Christian Reiser
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Sonnentag

Foto: Christian Reiser
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Der überlebenswichtige Ofen

Und die Ruhe. Es gab kaum Geräusche, keine Motoren, nur mal ein Flugzeug, Rabengekrächze, das Schilpen eines Unglückshähers, aus der Ferne ab und an das Heulen der Schlittenhunde. In der Hütte bullerte der Ofen, mal rutschte ein Scheit. Stille. Doch je ruhiger es äußerlich wurde, desto lauter wurden die Gedanken, Pläne, Sorgen, Sehnsüchte, der Hader mit Vergangenem. Die schmerzhaftesten Erinnerungen kamen und gingen wie Zahnschmerzen. Beim Abklingen hatte ich immer die trügerische Hoffnung, nun gingen sie für immer. Doch diese Gedanken wiederholten sich zum Überdruss.

Altvater Paphnutios riet: "Geht, liebt die Bedrängnis mehr als die Ruhe, die Missachtung mehr als die Ehre, das Geben mehr als das Nehmen."

Den Wüstenvätern waren die Versuchungen vertraut, die sie von ihrer Kontemplation abbrachten. Sie beobachteten sie genau. Sie verstanden sie als Dämonen, die es zu besiegen galt. In meiner kleinen Hütte von zwanzig Quadratmetern fühlte ich mich an Matthäus 12,43-45 erinnert: Der ausgetriebene Dämon kehrt in sein altes Haus zurück und findet es "leer, gekehrt und geschmückt", dann zieht er dort wieder ein und bringt noch sieben andere Geister mit. Erschwerend war die Erkenntnis, dass die peinigenden Gedanken auch Richtiges und Wichtiges enthielten, nicht integrierte Schattenseiten forderten endlich ihr Recht. Als der Strudel sich immer schneller drehte, half der Ausbruch aus dem Alleinsein, Gespräche mit einem norwegischen Pfarrer und der Schweizerin, die das Gästehaus leitete. Ich fühlte mich wie ein ratsuchender Bruder bei seinem Wüstenvater, seiner Wüstenmutter.

Foto: Christian Reiser
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Nordlicht

Ich zögerte oft, meine Gedanken "Dämonen" zu nennen und ihnen den Zugang zu verweigern. Evagrius Ponticus, der quasi das Lehrbuch für die Wüstenmönche schrieb, riet ihnen, ihre Stimmungen genau zu beobachten. Erst dann könnten sie wissen, mit welchen Dämonen sie es zu tun hätten. Mit dem richtigen Namen angesprochen, würden sie sich vertreiben lassen. In einer deprimierten Stimmung erinnerte ich mich daran. Ich erkannte den Kern meines Problems und forderte den so benannten Dämon auf, zu gehen. Er verschwand sofort. Eine tiefe Stille trat ein.

Der einsame Aufenthalt in nordischer Kälte war risikoreich. Geborstenes Eis, ein gebrochenes Bein, ein Herzanfall - bei Temperaturen bis minus 35 Grad Celsius kommt Hilfe schnell zu spät. Und woher sollte sie überhaupt kommen? Das war mir bewusst - und ich habe gut damit gelebt. Die Sorge vor dem, was kommen mag, wich Ergebenheit und Vertrauen. Sicher, ich stand unter Gottes Segen. Einmal brach das Eis, doch nur unter einem Ski. Ein anderes Mal verirrte ich mich im Tiefschnee, doch ausgerüstet mit Kompass und Stirnlampe. Die Kälte ließ die Lippen platzen, der eine Zeh, der andere Finger waren mal taub. "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden" (Psalm 90,12).

Abbas Poimen wurde einmal gefragt, auf wen das Wort der Heiligen Schrift zutreffe: "Sorget euch nicht um das Morgen." Er erwiderte: "Das ist einem Menschen zugesprochen, der versucht wird und voller Sorgen ist und sich fragt: ‚Wie lange muss ich diese Anfechtung noch ertragen?‘ Doch sollte er lieber nachdenken und sich immer wieder sagen: 'heute!'"

Foto: Christian Reiser
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Christian Reiser

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Sonnentag

Es gab viele glückliche Momente: der erste Schnee, ausnahmsweise frisches Brot, gestillter Hunger, der erste Sonnenstrahl nach einem Monat, grün schillernde Nordlichter, Sternenhimmel, Vollmond, die Wärme des Ofens. Es gab auch Sorgen, Ängste, Zweifel. Doch sie hatten nichts mit Heute, sondern nur mit Morgen oder Gestern zu tun. In der Gegenwart war alles gut. Was tun, wenn die Gasflasche leer wäre, mit der ich mein Essen kochte, fragte ich mich fast jeden Tag. Als ich nach 140 Tagen ging, war immer noch Gas da. Wer heute nicht glücklich ist, wird es auch am nächsten Donnerstag nicht sein, "jetzt ist die Zeit der Gnade" (2. Korinther 6,2). Doch das Glück, so wurde mir im Norden entdeckt, hängt nicht an Vollmond, Essen oder einem Elch auf dem Weg. Ganz tief in mir, so wurde mir klar, gibt es einen Raum. Er ist ganz leer, weiß und lichtdurchflutet. Dort bin ich glücklich. Ich glaube, jeder hat einen solchen Raum in sich.

Von sich bekannte Altvater Matoe: "Es ist nicht die Tugend, deretwegen ich die Einsamkeit gewählt habe, sondern die Schwäche. Nur die Starken können unter Menschen leben."

Was wird bleiben von den ruhigen Tagen mit den Wüstenvätern? Ich bin nicht optimistisch. Hektik, Aufgeregtheit und Tagesgeschäft drohen schnell, die Oberhand zu gewinnen. Vielleicht kann ich das Lesen des Psalms am Morgen bewahren, die Stille-Übungen, das bewusste Anzünden einer Kerze. Ein wenig Gelassenheit. Das hoffe ich.

"Trauerst du der Wüste nach? Bedenke, was du dort jetzt noch tun könntest, denn du bist alt geworden." Da schaute ihn der Alte (Abbas Sissoes) missmutig an und entgegnete: "Was sagst du mir da, Amun? Genügte mir nicht schon allein die Freiheit des Denkens in der Wüste?"

Literatur

Hermann Multhaupt: Worte aus der Stille. St. Ulrich Verlag, Augsburg 2010 , 144 Seiten, Euro 14,90 (hieraus sind die kursiv gesetzten Worte der Väter entnommen).

Anselm Grün: Der Himmel beginnt in dir. Herder Verlag, Freiburg i.B., 2008, 140 Seiten, vergriffen, antiquarisch im Internet.

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Christian Reiser

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