Fische in klarem Wasser

In Hamburg lockt eine "Kirche der Stille" zur Meditation
Weiß ist auch die Farbe der Ruhe und Klarheit: der Kirchenraum als Raum zur Meditation.
Weiß ist auch die Farbe der Ruhe und Klarheit: der Kirchenraum als Raum zur Meditation.
Vor einigen Jahren wurde die kleine St. Christopherus-Kirche in Hamburg-Altona Ost zu einer "Kirche der Stille" umgewidmet. Ausgehend vom ortho­doxen Herzensgebet werden hier heute verschiedene Meditationsformen ­praktiziert, die auch aus anderen Religionen stammen können.

Vor kurzem schrieb Wiebke Johannsen, 29, ihre Bachelor-Arbeit über das "Burnout-Syndrom" und trat bald danach ihre erste Stelle in der Kinder- und Jugendarbeit an. Jetzt hat sie sich zu einem Meditationstag in der Kirche der Stille angemeldet. "Weil ich gemerkt habe, dass ich meine Vorstellungen von Pausen im hektischen Getriebe nicht durchhalte", sagt die junge Frau. Der Meditationstag brachte ihr eine neue Erfahrung: "Ich hab vorher noch nie in einer Gruppe still dagesessen." Kein angespanntes Schweigen sei das gewesen, sondern eine Stille, in der sie sich wohlgefühlt habe. Ihre Gedanken seien gewandert, dann aber wieder zu dem Mantra zurückgekehrt, das ihnen in die Meditation mitgegeben worden war. Unterbrochen wurde das Schweigen durch Liedverse, Texte und die gemeinsame Pause. Das Erlernte will sie doppelt nutzen: für sich und ihre Konfirmandenarbeit.

Ruhe und Klarheit

Von außen sieht die Kirche der Stille wie eine gewöhnliche Gemeindekirche aus, ein neugotischer Backsteinbau mit hohen schmalen Fenstern, Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Drinnen wirkt der Raum ungewohnt und fremd, es ist ein hoher, fast leerer Innenraum, der eine Atmosphäre von Ruhe und Klarheit ausstrahlt. Kerzen sind angezündet. Es gibt keinen Altar und keine Kirchenbänke, auf dem Parkettboden in der Mitte des Raums ist ein großes Achteck aufgemalt, das von Matten, Meditationsbänkchen und -kissen umrahmt wird. An der Ostseite hängt am Rand ein Kreuz aus Treibholz an einem Ständer, im Chor steht eine in Rottönen gemalte Ikone der Muttergottes mit Kind.

Das Zentrum der Stille in einem verborgenen Winkel in Hamburg-Altona ist die einzige Kirche in Deutschland, die sich ganz der Meditation verschreibt. Zeiten zum Singen und Tanzen, Töne hervorbringen und Gottesdienste feiern mit eingeschlossen. In der Woche ist sie täglich von 12 bis 18 Uhr geöffnet, Kirchenhüterinnen erwarten in dieser Zeit Besucher, die Ruhe suchen und meditieren wollen. Ria, eine energische Frau mittleren Alters, ist schon länger dabei. Noch nie sei es vorgekommen, dass in den zwei Stunden, in denen sie die Kirche hütet, keiner gekommen sei. "Manche kommen regelmäßig. Viele lassen sich für ein paar Minuten nieder, andere bleiben eine ganze Stunde. Manchmal sitzen mehrere Menschen im Kreis und meditieren."

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Pastorin Irmgard Nauck hat das orthodoxe Herzensgebet schon als Schülerin für sich entdeckt.

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"Kirche der Stille" - St. Christopherus-Kirche in Hamburg-Altona Ost.

Wie in einer Moschee oder beim Yoga-Kurs ziehen die Besucher im Vorraum der Kirche die Schuhe aus und schließen Taschen in ein Schließfach. Wer einen der zahlreichen Kurse besucht, bezahlt eine Kursgebühr, die meisten Kurse kosten acht Euro, ermäßigt fünf oder sechs Euro. Daneben gibt es kostenlose Angebote wie die Meditation am Abend, die täglich von Montag bis Freitag stattfindet, den Gottesdienst für den Frieden einmal im Monat oder ein offenes Singen. Ob Herzensgebet, Soul Motion (Tanzen zu spiritueller Musik), Zen oder Sufi-Tanz: Überall ist das Ziel, den Menschen einen Zugang zum Inneren, einen Weg zu einem ru­higen Herzen zu zeigen. Beschreibt das Zentrum der Stille auch einen Weg in die Zukunft der christlichen Kirche?

Immer stillere Gottesdienste

Die schmale Frau mit dunklem, gewelltem Haar gießt Tee ein und lehnt sich mit angezogenen Knien im Korbstuhl zurück. Irmgard Nauck, Initiatorin und Leiterin des Zentrums, seit fünfzehn Jahren Pastorin der Gemeinde Altona-Ost, hat die orthodoxe Tradition des Herzensgebets schon als Schülerin entdeckt, beim Lesen der Bücher von Fjodor Dostojewskij. Als Pfarrerin hat sie bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Meditation wahrgenommen - "meine Gottesdienste wurden immer stiller" - sie hielt "Predigten, die Raum für eigene Gedanken boten", ließ den Gottesdienstbesuchern Zeit zum Beten in der Stille, veranstaltete Taizé-Lieder-Singen und meditatives Tanzen.

Seit einigen Jahren steht fest, dass sich die City-Gemeinden wandeln müssen, um eine Zukunft zu haben, um weiter zu bestehen. Die Pastorin schlug vor, die kleine Christophorus-Kirche in eine Oase der Stille zu verwandeln. Der Kirchenvorstand bewilligte ein Projekt für zunächst fünf Jahre. Gemeindehaus und Pastorat wurden verkauft, wodurch ein Teil der Renovierungskosten gedeckt wurde. Am 1. März 2009 feierten mehrere hundert Menschen die Einweihung der "Kirche der Stille".

Herzensgebet

Donnerstagabend, Zeit des Herzensgebets: Einige der elf Besucher verneigen sich mit vor der Brust gefalteten Händen in den Raum hinein. Andere suchen sich gleich einen Platz am Boden und lassen sich kniend auf Bänkchen oder Kissen nieder, sie bilden einen Kreis. Für zwei ältere Frauen, die nicht am Boden knien können, stellt eine Mitarbeiterin einen hohen Stuhl in die Runde. Pfarrerin Irmgard Nauck ist darauf bedacht, Störungen von außen fernzuhalten. Draußen schüttet es wie aus Kübeln, sie wischt rasch die Wasserlachen weg, die Schuhe und Schirme im Vorraum hinterlassen, damit niemand seine Meditation in nassen Socken beginnen muss. Arbeitstaschen oder Laptops kommen nicht in den Kirchenraum, kein Handy ertönt, und an der Pforte gibt es keine Klingel. Lauschen, horchen, das gehört zu den besonderen Erlebnissen einer Oase der Stille.

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Meditationskurs.

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Auch Kinder lassen sich gern zu ­meditativem Spiel anleiten.

Es geschieht nichts Spektakuläres: Anfangs lockern die elf Gäste ihre Gelenke, erspüren ihre Beweglichkeit, bevor sie für längere Zeit knien. Einer der beiden Leiter führt in die Meditation hinein - Sätze, die das Loslassen von belastenden Gedanken erleichtern. Die Pfarrerin sagt: "Gott hat dich ins Leben gerufen", "Du bekommst den Atem von Gott geschenkt", "Ängste und Zweifel umgibst du mit deinem warmen Mantel".

Manchmal zitiert sie Bibelverse oder Sätze eines christlichen Mystikers: "Abba Moses, einer der Wüstenväter, vergleicht den Meditierenden mit ei­nem Fischer, der still in seinem Boot sitzt und wartet, dass das Wasser sich um ihn beruhigt. Nun erkennt er, wie im klaren Wasser die Fische aufsteigen, die er fangen kann. So sitzt du in der Meditation und erkennst, was an Gedanken in dir aufsteigt. Das nimm in deine Hand und halte es Gott hin, betrachte es im Licht der Güte Gottes. Dann erkennst du, welcher Fisch dich nähren kann und welchen du wieder ins Wasser zurückwerfen solltest."

Dann lässt sie den Gong ertönen. Die Besucher meditieren still mit einem Gebetswort, einem Mantra, das sie selbst gewählt haben. Die Phasen der Stille werden durch eine kurze Gehmeditation im Raum unterbrochen. Am Schluss sprechen Irmgard Nauck oder Pfarrer Wolfgang Lenk den Segen. Danach bleibt noch Zeit, in der Gruppe zu reden. Eine sehr lange Pause entsteht. Kaum vorstellbar, dass Menschen sich anderswo so lange Zeit geben, so lange abwarten, bis einer vielleicht das Wort ergreift. Genau das aber passiert. Einzelne Besucher schildern ihre persönlichen Wahrnehmungen in der Stille oder stellen Fragen, und sie bekommen von den Leitern und anderen Teilnehmern Antwort.

Offen für andere religiöse Traditionen

Das Herzensgebet aus der ostchristlichen Tradition ist nur einer der Wege, die in der Kirche der Stille praktiziert werden. Im Unterschied zu Einkehrhäusern und Klöstern ist die Altonaer Kirche offen für andere religiöse Traditionen. Auch die aus dem Buddhismus hervorgegangene Zen-Meditation, der dem Islam entsprungene Sufi-Tanz oder spirituelle Lied- und Tanzformen haben hier ihren Ort. "Stille, Weite, Rhythmus" seien die verbindenden Elemente, sagt Irmgard Nauck. "Da verschwimmen die Religionsgrenzen." Mystiker verschiedener Religionen eint die Vorstellung, dass Gott in den Herzen der Menschen wohne und sie ihm in der Stille begegnen könnten. In einer Schale liegen Gebetskarten mit Worten von Luther, Rumi, Gandhi zum Mitnehmen.

Häufig melden sich Kindergruppen und Schulklassen zu einem Besuch in der Kirche an und oft werden Meditationslehrer anschließend in die Schule eingeladen, um mit den Kindern Wege in die Stille auszuprobieren, erzählt die Pastorin. Wie sich "heilsame Unterbrechungen" gestalten lassen, das lassen sich Kinder, Lehrer und Erzieher gerne zeigen. Diese Angebote sind religionsneutral. "Ein Lichtritual macht auch ein muslimisches Kind mit", so die Erfahrung von Irmgard Nauck.

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Meditationszenen.

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Für viele Leute ist diese Kirche ein Ort, der ihrem Bedürfnis nach innerer Einkehr und Seelenruhe entspricht, ein Ort, an dem sie aufatmen können. Die offene Kirche lädt alle gleichermaßen ein. Zu den Kursen hingegen kommen nur diejenigen, die einen Eintritt zahlen können - auch wenn die Pfarrerin Einzelne auf Anfrage von der Kursgebühr entbindet.

Führt die Versenkung ins Innere zu Weltflucht und Abkehr von gesellschaftlicher Not? Die Seelsorgerin ist vom Gegenteil überzeugt: "In der Stil­le passiert nicht nur Schönes. Ich nehme mich stärker wahr. Meine Achtsamkeit für mich und für andere wächst." Sie sagt es auch in den Formeln traditioneller Frömmigkeit: "Es geht da­rum, die Liebe Gottes hereinzulassen, mich ganz Gott hinzugeben."

Keine Abschottung

Ein von gesellschaftlichen Problemen abgeschotteter Raum ist die Kirche der Stille nicht. Das würde der leidenschaftlichen Seelsorgerin nicht entsprechen. Einmal monatlich findet ein Friedensgebet statt. Im Vorraum stehen derzeit selbst gebastelte Papiertüten, die gegen Spenden für "Patchwork" abgegeben werden, ein Projekt, das von Gewalt betroffene Frauen unterstützt.

"Eine lebendige Gottesbeziehung findet ihren Prüfstein darin, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe", meint die Pfarrerin. "Weniger Verachtung und Abscheu für Andersdenkende, mehr Herzensnähe, mehr Mitmenschlichkeit", so erlebt sie selbst die Praxis der Meditation.

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Ohne Schuhe geht's in die ­Kirche.

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Meditationsszene.

Text: Hedwig Gafga / Fotos: Dörte Hagenguth

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