Siegfried war's, nicht Helmut

Wir können so handeln, wie wir wollen - aber können wir auch das Wollen wollen?
Sind wir im Grunde hilflose Marionetten unseres Hirns? - "Immanuel Kant" von Thomas Bernhard, Aufführung des Berliner Ensembles, 16. Dezember 2010. (oto: Braun/drama-berlin.de)
Sind wir im Grunde hilflose Marionetten unseres Hirns? - "Immanuel Kant" von Thomas Bernhard, Aufführung des Berliner Ensembles, 16. Dezember 2010. (oto: Braun/drama-berlin.de)
Wenn es mit unserer Willensfreiheit nichts ist, wie es Hirnforscher behaupten - sind wir dann unschuldige Automaten? Diese Annahme führt stracks in das Gefängnis der Selbstbezogenheit.

Besondere Brisanz erhält die hitzige Diskussion um die Willensfreiheit durch die immer wieder erneut vertretene Behauptung, die Bestreitung der Willensfreiheit stelle unsere Praxis in Frage, Menschen für ihre Taten verantwortlich zu machen und nach persönlicher Schuld zu fragen.

Die Rede von der Sünde weist in die entgegengesetzte Richtung. Denn Sünde wird in der christlichen Tradition als Synthese von Schicksal und Schuld zur Sprache gebracht, als ein Zugleich von Unfreiheit und Verantwortlichkeit. Doch ist dieses Zugleich von Unfreiheit und Verantwortlichkeit überhaupt nachvollziehbar? Und was meinen wir eigentlich, wenn wir eine Handlung als "frei" bezeichnen?

Handeln wir frei?

Wir haben konkrete Vorstellungen von dem, was Freiheit nicht ist, insofern wir Freiheit stets gegen erzwungene und von außen festgelegte Handlungen abgrenzen. Frei ist ein Mensch, wenn er ohne äußeren Zwang seinen Wünschen, seinen Ansichten, seinen Trieben und seiner Natur gemäß handeln kann und dabei nicht durch äußere Umstände entscheidend beeinträchtigt ist.

Mit diesen Überlegungen ist bereits ein wesentliches Element der Rede von Freiheit in Bezug auf menschliches Handeln in den Blick gekommen: Wir bezeichnen eine Handlung als "frei", wenn eine Handlung selbstbestimmt ist, wenn sie sich auf ihren Urheber zurückführen lässt. Eine Person, die nicht ihren Wünschen, Überzeugungen und Motiven gemäß handeln kann, ist in ihren Handlungen dagegen nicht frei.

Wir sprechen daher von Freiheit, wenn die Handlungen in der Natur, dem So-und-nicht-anders-Sein der Person begründet sind und wenn die Person daher für die Handlungen "etwas kann". Eine so verstandene Autonomie ist eine wesentliche Voraussetzung für Freiheit.

Eine zweite Voraussetzung ist für Freiheit wesentlich: Abgegrenzt werden muss die Freiheit auch von Zufällen. Sie können genauso gut eintreten wie ausbleiben. Zufällig zustande gekommene Handlungen sind also dem Einfluss des Handelnden entzogen, Zufallsentscheidungen sind das Gegenteil von freien Entscheidungen.

Eine freie Handlung muss sich auf ge­nau die Person zurückführen lassen, die das Subjekt der jeweiligen Handlung ist. Es muss also möglich sein, mit Bezug auf die handelnde Person zu erklären, warum die Handlung so und nicht an­ders ausgefallen ist.

Autonomie und Urheberschaft

Wenn wir festgestellt ha­ben, dass Autonomie und Urheberschaft die wesentlichen Be­dingungen dafür sind, eine Handlung als "frei" zu be­zeichnen, so darf nicht übersehen werden, dass diese Freiheit gra­duell ist. Es gibt kein Handeln, dass nicht auch äußeren Umständen Rechnung tragen muss. Wenn wir tun, was wir wollen, müssen wir immer Kom­promisse mit den äußeren Um­ständen schließen.

Und natürlich differieren un­sere Lebenssituationen auch hinsichtlich der Zahl der Kompromisse, die wir schließen müssen. Es gibt Menschen, denen mehr Möglichkeiten offen stehen als an­deren. Und es gibt Situati­o­nen, in denen wir mehr Kompromisse schließen müs­sen als in anderen. Aber insofern unsere Handlungen nicht ausschließlich durch Zwang oder Zufall beherrscht werden, kann eine Handlung als frei bezeichnet werden.

Auch unser Gefühl der Frei­heit ist hierin begründet: Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist dafür, dass wir Handlungsoptionen haben. Das heißt: Wir müssen uns glaubhaft vorstellen können, dass wir jetzt oder in einer vorgestellten Situation A oder auch B tun könnten. Von daher können wir formulieren: Voraussetzung dafür, sich in einer Handlung als frei zu erleben und diese auch so zu bezeichnen, ist die Existenz von Handlungsalternativen.

Frei bin ich, wenn ich alternative Handlungsmöglichkeiten habe und daher auch anders handeln könnte, wenn ich denn anders handeln wollte.Die Behauptung der Existenz der Willensfreiheit geht aber darüber hinaus: Es wird behauptet, dass es für die Rede von der Freiheit nicht ausreicht, dass eine Person auch anders handeln könnte.

Vielmehr sei nur dann von Freiheit zu reden, wenn die Person auch anders wollen könnte. Frei - so die Behauptung - sind wir nicht bereits dann, wenn wir gemäß unseren Motiven und Intentionen handeln, sondern wenn wir auch unseren Motiven und Intentionen als freier Herr gegenüberstehen. Doch ist dies nachvollziehbar?

Ein Willensakt bedarf eines Motivs. Aber von welchem Motiv sollte die Entscheidung darüber, was für mich ein Motiv ist, geleitet sein? Wir kämen hier in einen unendlichen Regress. Die Richtung des Wollens kann nicht wieder durch einen Willensakt bestimmt sein. Es kann kein "Wollen-wollen" geben.

Worauf wir aus sind

Und daher bedarf es einer dem Wollen vorausgehenden Haltung, um den Willen zu motivieren. Diese Haltung hat nicht den Charakter des Wollens, sondern qualifiziert unmittelbar das Sein der Person. Was für uns ein Motiv wird, bestimmen unsere Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ge­fühle - nennt man sie nun mit Gerhard Roth "Meta-Motive" oder mit Robert Spaemann das "fundamentale Aussein-auf".

Von hier aus gewinnen Gründe ihren Charakter des Grundseins. Diese "Meta-Motive" beziehungsweise das "fundamentale Aussein-auf" verdanken sich nicht unserem Wollen, sondern bestimmen, was wir wollen. Freiheit ist somit zu verstehen im Sinne der Handlungsfreiheit (tun können, was man will), nicht im Sinne der Willensfreiheit (wollen können, was man will).

Kaum einer von uns könnte auf die Frage, was er denn unter "Schuld" verstehe, sofort eine Antwort geben, indem er eine exakte Definition vorträgt. Dennoch gebrauchen wir das Wort - und zwar in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, in denen wir Menschen in Bezug zu ihren Taten setzen.

Wenn wir Menschen zu ihren Taten in Beziehung setzen und dabei von Schuld reden, nehmen wir gekonnt Differenzierungen vor: Wir unterscheiden, ob ein Erwachsener oder ein Kind etwas getan hat, ob derjenige, der etwas getan hat, wusste, was er damit tut oder nicht, ja auch, ob er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.

Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein Bekannter verspricht, mich vom Bahnhof abzuholen. Nachdem ich auf dem Bahnsteig bereits vierzig Minuten in der Kälte gewartet haben, steigt in mir die Wut hoch und ich übe in Gedanken schon die Anklage, die ich erheben werde, sobald ich im Auto des Bekannten sitze.

Nun macht es einen Unterschied, ob ich dann als Entschuldigung höre, dass der Bekannte den Termin einfach vergessen hat, oder ob er seine Vergesslichkeit damit begründet, dass er auf Grund beruflicher Sorgen in der Nacht nicht hatte schlafen können. Ganz zu schweigen natürlich davon, wenn ich erfahre, dass ich aus Versehen die falsche Uhrzeit der Ankunft des Zuges mitgeteilt habe, so dass der Bekannte über die tatsächliche Ankunft meines Zuges in Unkenntnis war.

Warum hast du das getan?

Von diesen Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen her bestimmen wir unseren Umgang mit dem Phänomen Schuld. Schuld ist das, was sich gleichsam herausschält, was übrig bleibt, wenn wir nicht durch besondere Umstände der Tat oder Zustände des Täters entschuldigen können. Offenkundig hat die Rede von Schuld ihren Ort innerhalb unserer Praxis, eine Handlung einer bestimmten Person zuzurechnen. Zurechnung ist die Verbindung zwischen einer Handlung und einem Handelnden.

Wenn Siegfried auf einem Spaziergang mit Ursula in einen Streit gerät und handgreiflich wird, während Helmut zu Hause sitzt und im Internet surft, ist es Siegfried und nicht Helmut, dem diese Tat zugerechnet wird, insofern Siegfried der Verursacher der Tat ist.

Und wenn wir uns der Frage zuwenden, wie es kommt, dass Menschen andere Menschen attackieren, müssen wir uns mit Siegfried und seinen Motiven und Intentionen befassen: Siegfried und nicht Helmut "konnte etwas" für die Tat. Und daher hat auch Siegfried und nicht Helmut die Tat zu verantworten und zwar im eigentlichen Sinne des Wortes: Auf die Frage "warum hast du dies oder jenes getan?" ist es Siegfried, der zu einer Antwort genötigt wird.

Gerade auf Grund des intentionalen Charakters menschlicher Handlungen differenzieren wir hinsichtlich des Grades der Verbindung zwischen einer Handlung und einem Handlungssubjekt. Wir fragen, inwieweit die Person "etwas kann" für ihre Handlung. Hätte die Person überhaupt "an­ders handeln" können?

Entscheidend für unsere Beurteilung ist dabei, inwieweit eine Handlung durch die Motive, Wünsche und Intentionen einer betreffenden Person be­stimmt ist.Wir haben bereits gesehen, dass Autonomie und Urheber­schaft die wesentlichen Bedingungen einer Handlung sind, die wir als selbstbestimmt und frei bezeichnen.

Wenn ich gesagt habe, dass wir hinsichtlich der Verbindung zwischen einer Handlung und einem Handlungssubjekt graduell differenzieren, so können wir auch sagen: Wir differenzieren hinsichtlich des Grades der Handlungsfreiheit im Blick auf die Autonomie und Urheberschaft. In dieser Differenzierung ist auch der Begriff "Schuld" verortet.

Blicke auf Christus

Unsere Bewertung der Schuld hängt ab von dem Grad der Handlungsfreiheit, die wir einer Person zuschreiben. Je weniger eine Tat in dem So-und-nicht-anders-Sein der Person begründet ist, desto eher sind wir geneigt, die Person zu entschuldigen; je mehr sie Ausdruck der Motive, Wünsche und Intentionen einer Person ist, desto weniger sind wir bereit, sie zu entschuldigen.

Eine Tat lässt sich also nicht von mir trennen, sondern offenbart eben jene Grundbestimmtheit meines Willens und gesamten Lebensvollzugs. Daher ist die Behauptung, dass die Einsicht in die Unverfügbarkeit und Unentrinnbarkeit der Bestimmtheit unseres Willens es verbiete, von Verantwortlichkeit und Schuld zu sprechen, grundfalsch.

Vielmehr ist es die Bestreitung dieser Unverfügbarkeit und Unentrinnbarkeit im Theorem der Willensfreiheit, die es uns ge­stattet, uns von unserer ei­ge­nen Schuld und Verantwortung zu distanzieren. In un­seren Taten spiegeln sich un­sere Motive und unsere Be­dürfnisse, unsere Sehnsüchte und unsere Ängste wider.

Das Theorem der Willensfreiheit sieht unsere Ta­ten gerade nicht als ausschließlichen Ausdruck unseres So-und-nicht-anders-Seins, sondern eines Willensentschlusses, der mit unserem So-und-nicht-anders-Sein gar nichts (oder zumindest nicht ausschließlich) zu tun hat, der eher kontingent ist. Das Theo­rem der Willensfreiheit erlaubt uns zu denken, wir hät­ten eine bestimmte Tat ge­nauso gut unterlassen können, wir hätten genauso gut an­ders handeln können und würden das nächste Mal auch anders handeln.

Damit ist das eigentliche Problem unseres Handelns aber bereits im Ansatz entschärft. Das eigentliche Problem be­steht nämlich darin, dass wir die Tat nicht haben unterlassen können, weil wir eben so und nicht anders sind! Auch die verabscheuungswürdigste Tat lässt sich nicht wegschieben, sondern sie ist zutiefst und unauflöslich mit mir verwoben. Die Tat trägt unverkennbar und unaufhebbar mein Ich-Vorzeichen, in ihr spiegelt sich wider, wer ich bin.

Der Wille, der eine bestimmte Tat verursacht hat, ist zutiefst mein Wille, nicht etwas, das genauso gut anders hätte sein können. Mein Wille ist aus meinem So-und-nicht-anders-Sein erwachsen und daher von ihm nicht zu lösen. In der jeweiligen Tat zeigt sich, wer ich wahrhaft und eigentlich bin, sie ist keineswegs etwas Zufälliges, das auch anders hätte sein können und das ich von mir als mir nicht zugehörig wegschieben könnte.

Mein Wille verursacht mein Handeln

Es ist mein Wille, der etwas verursacht, und ich will etwas, weil ich es will. Natürlich kann ich die Entstehungsbedingungen meines Willens erkennen und auch mir über Umstände klar werden, denen ich in meinem Leben ausgeliefert war, die mich haben werden lassen, was und wie ich bin - lange bevor ich mir darüber klar geworden bin.

Aber ich kann mich davon nicht trennen, eben weil ich ja will. In jedem Akt des Wollens bleibe ich dem Willensraum, in den ich gestellt bin, verpflichtet und bejahe ihn erneut. Schicksal und Schuld sind zwei Seiten derselben Medaille. Gerade dies bringt die Lehre von der Sünde zum Ausdruck, die die Sünde als Synthese von Schicksal und Schuld versteht.

Mit der Sünde ist die den Willen bestimmende Grundverkehrung des menschlichen Lebensvollzugs in den Blick genommen und nicht etwas, was in oder am Menschen einen kleineren oder größeren Mangel darstellt.

Diese Grundverkehrung ist daher als eine solche zu verstehen, die nicht durch unser Wollen zu beseitigen, sondern als eine unverfügbare und daher unentrinnbare Ausrichtung unseres Willens zu verstehen ist, als eine Macht, die unsere Entscheidungen bestimmt und gefangen hält. Die Grundrichtung unseres Lebensvollzugs ist vom Willen zu sich selbst bestimmt.

Mit dem "Willen zu sich selbst" wird eine schonungslose Antwort auf die Frage gegeben, was das für Motive sind, die mich letzten Endes treiben, die mein Wollen und Handeln bestimmen. Nach christlicher Auffassung besteht die Bestimmung des Menschen darin, nicht durch sich selbst, sondern im Blick auf Christus gerecht zu sein.

Von der Macht der Sünde bestimmt

Blicke auf Christus, das bist du für mich! Wohlgemerkt: Die Bestimmung des Menschen besteht nicht darin, geschenkweise gerecht zu sein, sondern auf das eigene Gerechtsein zu verzichten. Von dieser Bestimmung wird auch die Sünde, als Widerspruch zur Bestimmung des Menschen, in ihrer Tiefe erschlossen: Sünde ist das Unvermögen, im Vertrauen auf die fremde Gerechtigkeit zu existieren und die Unfähigkeit, auf das eigene Gerechtsein zu verzichten.

Das Bestreben, selbst gerecht sein zu wollen, lässt den Willen des Menschen auf sich selbst gerichtet sein und sich in allem suchen. Das Gesagte verdeutlicht, inwiefern die Rede von Sünde unaufhebbar mit der Rede von der Unfreiheit des Willens verbunden ist. Reformatorische Theologie weiß daher von keinem integren Teil des Menschen, der sich gegen die Sünde behaupten könnte.

Gerade weil der Mensch ganz und gar von der Macht der Sünde bestimmt ist, kann auch jeder Versuch, sich von der Sünde zu befreien, nur Teil der Sünde selbst sein. Befreiung kann es nicht als Selbstbefreiung geben, sondern nur als "ander Wort" (Martin Luther), das den Menschen von sich selbst absehen lässt und die unheilvolle Selbstbezüglichkeit von außen unterbricht. LITERATUR Michael Roth: Willensfreiheit? CMZ Verlag, Rheinbach 2011, erscheint im April.

Michael Roth ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Bonn.

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Michael Roth

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