Engel oder Drache?

Caroline Fliedner, Familienmensch, untertänige Ehefrau, emanzipierte Managerin
Foto: Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth
Foto: Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth
Vor zweihundert Jahren wurde Caroline Fliedner geboren. Sie leitete im 19. Jahrhundert gemeinsam mit ihrem Mann die Kaiserswerther Diakonie in Düsseldorf. Der Leiter der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth, Norbert Friedrich stellt eine Frau vor, die zu ihrer Zeit den Spagat zwischen Familie und Beruf gemeistert hat.

Melancholisch schaut die noch junge Frau in der Rüschenhaube, auch ein wenig schüchtern. Die zarte Schönheit, als die uns hier Caroline Fliedner Anfang der 1850er-Jahre in einer frühen Fotografie entgegentritt, ist eine zentrale Person der Kirchen- und Diakoniegeschichte des 19. Jahrhunderts. Wer heute etwa in einer Internetsuchmaschine nach ihrem Namen sucht, erhält mehrere Tausend Einträge - oftmals Hinweise zu Häusern der Alten- oder Sozialhilfe, die nach ihr benannt sind. Doch in der reichen Erinnerungsliteratur, die in der Diakonie zu finden ist, tritt sie keineswegs als nur zart und empfindsam entgegen: Zwar wird einerseits ihre große persönliche Lebensleistung gerühmt - sie habe, modern gesagt, den Spagat zwischen Familie und Beruf gut gemeistert -, andererseits aber wird ihr Stil des Führens und Leitens in Kaiserswerth häufig als zu konservativ, zu streng, zu sehr auf Disziplin setzend beschrieben.

War sie also Engel oder Drache? Spontan geantwortet: Weder noch. Gewiss trat sie als Person aus den üblichen Konventionen des 19. Jahrhunderts heraus: als Ehefrau, "Diakonissenmutter" und Diakoniemanagerin.

Sie war eine Frau mit außergewöhnlichen Begabungen, mit dem Talent, einen Großkonzern zu leiten und eine gute Mutter zu sein. Sie war sich ihrer eigenen Stärken bewusst und besaß die Fähigkeit, diese in den Dienst einer Sache, einer Idee zu stellen, von der sie überzeugt war, und an die sie mit tiefer Herzensfrömmigkeit glaubte.

Ihr Leben kreiste geografisch um zwei Mittelpunkte: Hamburg und Kaiserswerth. In und um Hamburg lebte sie die ersten 32 Jahre ihres Lebens, geprägt von der Stadt und der Hamburger Erweckungsbewegung. In Kaiserswerth, diesem ursprünglich katholischen Ort, wirkte sie vierzig Jahre als Vorsteherin der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, dort wurde sie an der Seite ihres Mannes Theodor Fliedner begraben.

Von Hamburg nach Kaiserswerth

Geboren wurde Caroline Bertheau am 26. Januar 1811 in Hamburg in eine gutbürgerliche Hamburger Familie hinein, aber auch in eine Zeit der politischen und ökonomischen Unsicherheit. Die seit 1807 durch die Franzosen ausgerufene Kontinentalsperre traf die Hafenstadt sehr. Die Bertheaus, eine alte und traditionsreiche Hugenottenfamilie, wurden durch die Wirtschaftskrise stark getroffen, der Weinhandel des Vaters kam fast zum Erliegen.

Nach den Krisenjahren musste Bertheau das Geschäft praktisch neu aufbauen, doch der alte Erfolg stellte sich nicht wieder ein. Das waren schwere Jahre für die Familie. Doch funktionierte das bürgerlich-protestantische Netzwerk der Hansestadt, denn es gelang trotz der materiellen Not, allen Geschwistern - Caroline hatte vierzehn Schwestern und Brüder - eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Mangel und Noterfahrungen gehörten also zu Carolines Kindheits- und Jugenderinnerungen. Allmählich wurde ihr der evangelische Glaube zur wegweisenden Richtschnur.

Längst hatte sie gute Kontakte zur lutherischen Erweckungsbewegung und insbesondere zu Amalie Sieveking (1794-1859), von ihr wurde Caroline unentgeltlich in deren kleiner Schule unterrichtet. Amalie Sieveking, Angehörige des protestantischen Establishments der Hansestadt, wendete sich später der Krankenpflege zu. Sie gründete einen Krankenbesuchsverein von Frauen, der auch Theodor Fliedner beeindruckte.

Als Caroline 21 war, starb ihr Vater, für sie, die sehr an ihrer Familie hing, ein tiefer Einschnitt. Sie verließ Hamburg und ging nach Holstein, um dort bei adeligen Familien als Erzieherin zu arbeiten, doch sie vermisste dort Hamburg, die Familie und eine sie erfüllende Aufgabe.

1840 kommt es zu einer Wende in ihrem Leben: Sie kann mit Sievekings Hilfe nach Hamburg zurückkehren und im großen, weit über die Stadt hinaus berühmten Krankenhaus St. Georg die Stelle als Oberaufseherin übernehmen, heute nennt man die Position "Pflegedirektion". In dem nur wenige Jahre alten und allgemein als vorbildlich betrachteten Krankenhaus mit tausend Betten war sie für 25 männliche und weibliche Pflegekräfte sowie für nicht ausgebildete Pflegekräfte und vierhundert Patienten zuständig. Hier lernte sie im Februar 1843 Theodor Fliedner (1800-1864) kennen, der ihr Ehemann werden sollte. Der war im April 1842 Witwer geworden; seine Frau Friederike (geboren 1800) war im Kindbett gestorben.

Mangel und Noterfahrungen

Fliedner war eigentlich wegen Amalie Sieveking nach Hamburg gekommen, die er schon länger kannte, deren Arbeit er sehr schätzte und die er für Kaiserswerth gewinnen wollte. Daneben hatte er den Auftrag, für das in Berlin auf Anregung des preußischen Königs entstehende Diakonissenmutterhaus Bethanien eine Oberin zu suchen - und auch da dachte er an Amalie Sieveking. Die aber wollte die eigene Unabhängigkeit nicht aufgeben und Hamburg nicht verlassen. Sie verwies ihn an ihre vielleicht beste Schülerin: Caroline Bertheau.

So lernten sich die beiden kennen - und offenbar funkte es zwischen ihnen, denn Theodor Fliedner stellte ihr die Doppelfrage: Willst du Oberin in Berlin werden oder mich heiraten - und damit Vorsteherin der noch kleinen Diakonissenanstalt Kaiserswerth werden? Caroline entschied sich nach kurzer Bedenkzeit für die Heirat und damit für Kaiserswerth. Das war für sie kein einfacher Entschluss, den sie aber gläubig interpretierte: In einem Brief an ihren Bruder Ernst vom 4. März 1843, kurz nachdem sie den Antrag angenommen hat, schreibt sie: "Ich trage in mir die Ueberzeugung, daß, indem ich Fliedners Antrag annahm ein Wille Gottes über mir in Erfüllung ging."

Theodor Fliedners Werben war aus seiner Sicht ausgesprochen rational. Denn Caroline besaß Kompetenzen, die er suchte und in den beiden Kernbereichen der Kaiserswerther Diakonissenanstalt brauchte: in der Krankenpflege und in der Erziehungsarbeit, denn dort wurden seit 1836 Diakonissen in der Erziehungsarbeit und der Krankenpflege ausgebildet - und der Bedarf und das Interesse wuchs spürbar.

Außerdem hatte sich Caroline schon als Führungskraft bewiesen, und überhaupt schien die Empfehlung von Amalie Sieveking Gewähr zu bieten, eine Frau zu haben, die zu dem religiösen Gepräge der Anstalt passte. Nach der Trauung im Mai 1843 durch das informelle Oberhaupt der Hamburger Erweckungsbewegung, Pastor Johann Wilhelm Rautenberg, folgte Caroline ihrem Theodor nach Kaiserswerth - nicht ohne zuvor den immer arbeitsamen und effizient Denkenden auf einer als Hochzeitsreise getarnten Inspektionsreise nach Berlin und andere Orte begleitet zu haben.

In Berlin leitete sie schnell die Diakonissen an, die in der Charité auf einer neuen Außenstation arbeiten sollten, noch bevor sie überhaupt ihre Position in Kaiserswerth einnehmen konnte. Caroline Fliedner wurde den drei noch lebenden Kindern Theodor Fliedners aus erster Ehe eine offenbar gute Mutter, sie selbst bekam zwischen 1844 und 1854 acht Kinder, eines davon starb bei der Geburt 1847. Doch zunächst empfand Caroline ihre Ehe als schwierig, wirklich glücklich war sie nicht. Den Umgang, den ihr Gatte bestimmte, empfand sie als zu förmlich, Platz für Romantik gab es nicht.

Stabilisierende Kraft

Theodor konzentrierte sich ganz auf die Entwicklung der Anstalt, er war das Gegenteil eines gefühlsbetonten Menschen. Dennoch entwickelte sie, lutherischen Ehevorstellung verhaftet, eine tiefe Liebe zu ihrem Mann, verbunden mit dem Wunsch einer innigen Zweierbeziehung. Es dauerte lange, bis sich Caroline mit der Rastlosigkeit und der nach außen drängenden Ideenkraft Theodor Fliedners arrangieren konnte. Auf Dauer kam es wohl zu einer glücklichen Ehe, und nicht nur zu einer erfolgreichen Leitungsarbeit.

Die wachsende Anstalt und die größer werdende Zahl von Diakonissen und Einsatzgebieten im In- und Ausland erforderte immer mehr Organisationsaufwand und auch ein Mehr an normierenden Ordnungsideen. Hier lag die Stärke Caroline Fliedners: der Anstalt eine feste Form zu geben, etwas, wofür später die Mutterhausdiakonie berühmt werden sollte. Caroline wurde je länger umso mehr gefordert. Ihr Mann weitete seinen Aktionsradius immer mehr aus, und so wurde sie in ihrer Rolle der Vorsteherin eine stabilisierende Kraft mit der entsprechenden Autorität.

Auch wenn Caroline immer wieder einmal auf so genannte Inspektionsreisen ging und Diakonissen in den Gemeinden und Krankenhäusern im In- und Ausland besuchte - blieb sie doch die konstante Managerin vor Ort: Sie war Mutter der Schwestern, Verwalterin des Mutterhauses, erste Ansprechpartnerin für fast alle Belange, auch wenn es natürlich viele weitere Helferinnen und Helfer gab. Sie entschied mit über die Finanzen, die Landwirtschaft, sie empfing die wichtigen Gäste. Theodor war gern und viel auf Reisen, er sammelte Geld, gab Rat, half und organisierte.

Er war in Verbindung mit dem Vorstand für letzte Entscheidungen zuständig. Äußerlich wurde die Verantwortung der Vorsteherin dadurch sichtbar, dass Caroline seit 1849 Sitz und Stimme im Vorstand erhielt. Auf seine Ehefrau konnte sich Theodor verlassen - auch wenn er streng darauf achtete, die Geschlechterhierarchie nicht aufzugeben.

Kein einfacher Entschluss, aber gläubig interpretiert

Ein tiefer Einschnitt stellte Theodors Tod im Jahr 1864 dar. Mit 53 Jahren wurde sie Witwe, 21 Jahre war sie verheiratet gewesen. Gemeinsam hatten sie Großes aufgebaut - in Kaiserswerth und darüber hinaus. Gemeinsam hatten sie Zuspruch bis zum preußischen Hof erfahren - und natürlich Widerspruch, etwa aus dem konfessionellen Bereich. Nach dem Tod Fliedners war die Nachfolge gesichert: Gemeinsam mit dem Schwiegersohn Julius Disselhoff, der die Tochter Luise aus erster Ehe geheiratet hatte, sicherte sie das Werk, half mit bei wegweisenden Entscheidungen des Ausbaus der Arbeit - und begleitete die größer werdende Familie stolz, wie man auf den Fotos sehen kann.

Im Jahr 1883 übergab sie das Amt der Vorsteherin an Mina Fliedner, ihre Tochter, und zog sich ins Privatleben zurück; sie verbrachte ihren Ruhestand in Kaiserswerth und Monheim bei ihrem Sohn Carl, der dort als Mediziner arbeitete (übrigens eine damals noch für die Familie eher ungewöhnliche Berufswahl, entschieden sich die die weitaus meisten Fliednersöhne doch für ein Theologiestudium). Sie reiste zu den Kindern, nach Spanien und in den Orient. Auch wenn es keine dienstlichen Reisen mehr waren - die Vorsteherin und Diakonisse war immer im Dienst. Wer also war nun Caroline F.? - Eine berufstätige Frau, die mit den Fragen von Frauenemanzipation nichts anfangen konnte und wollte. Eine Ehefrau, die ihrem Mann auf gleicher Ebene begegnete und dabei seinen Anspruch, "Herr im Haus" zu sein rückhaltlos anerkannte. Eine Mutter, die sich liebevoll und intensiv um die Kinder kümmerte, ohne dabei ihren Beruf zu vernachlässigen. Eine tiefgläubige Christin, die sich durch den Glauben offenbar frei fühlte, manche Entscheidungen auch autoritär und streng zu vertreten. Eine Netzwerke- rin, die sich der Idee der Mutterhausdiakonie, tätiger Nächstenliebe und diakonischer Gemeinschaft verbunden fühlte. Literatur Katrin Irle: Leben und Werk Caroline Fliedners geb. Bertheau, der zweiten Vorsteherin der Diakonissen-Anstalt Kaiserswerth. Diss. Phil., Siegen 2002. Im Internet abzurufen unter:

Katrin Irle: Leben und Werk Caroline Fliedners

Norbert Friedrich

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