Ohne Worte

Jörg Widmanns Messe
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Der 1973 in München geborene Komponist und Klarinettist Widmann hat sich wohl von den Worten, auch vom Sprachrhythmus einer klassischen Messe inspirieren lassen. Aber dann sind ihm die Worte unter das Messer geraten und haben ihre Konturen und Botschaften verloren.

Hat sich Gott so weit von den Menschen entfernt? Jörg Widmanns Messe klingt spröde, sperrig, stellenweise furchterregend. Aber was schwerer wiegt: Ihr sind die Worte abhanden gekommen. Wo früher die Botschaft stand, ist nurmehr noch Klang. Und der lässt sich bekanntlich in viele Richtungen auslegen - auch wenn sich das Booklet seltsam Mühe gibt, eine bestimmte Sichtweise vorzugeben.

Der 1973 in München geborene Komponist und Klarinettist Widmann hat sich wohl von den Worten, auch vom Sprachrhythmus einer klassischen Messe inspirieren lassen. Aber dann sind ihm die Worte unter das Messer geraten und haben ihre Konturen und Botschaften verloren. Brachiale Orchesterpassagen wechseln sich mit kaum hörbaren Tonfolgen, die großen dynamischen Unterschiede sind eine Herausforderung für die Ohren. Christoph Poppen und die Deutsche Radio-Philharmonie formen Klangwelten, die unmittelbar gefangen nehmen, als befände man sich ständig am Rand eines Abgrunds. Besonders das Schlagwerk trägt zur großen Intensität des Werkes bei. Und schließlich drängt sich eine zweite Frage auf: Wie kann ein so schwer fassbarer Gott zugleich so unentrinnbar sein?

Mit der Messe beginnt die neue Widmann-CD, sie ist auch vom Umfang her das prägende Werk dieser Veröffentlichung. Namensgeberin ist jedoch die Elegie, die an den Schluss der CD gesetzt wurde. Die Komposition aus dem Jahr 2006 greift einige Akzente der 2005 entstandenen Messe auf, doch wirkt ihre Grundstimmung - dem Titel zum Trotz - etwas heller, mutvoller. Auch dieser Klagegesang hat keine Worte, dafür übernimmt die Klarinette die Rolle der Stimme. Sie lotet all die Gefühlsvarianten zwischen verzagtem Innehalten und zornigem Kummer aus. Der Komponist selbst spielt das Soloinstrument in einer virtuosen, packenden Darbietung.

Eingebettet in die beiden Orchesterwerke befinden sich die "Fünf Bruchstücke für Klarinette und Klavier" aus dem Jahr 1997 - eine kluge Entscheidung. Hier haben die Ohren die Gelegenheit, wieder frei zu werden, auf dem Weg von einer Klangkaskade zur nächsten.

Auch bei den Bruchstücken ist der Titel wieder eine Sache für sich. Bruchstückartig klingt diese Musik nämlich überhaupt nicht. Vielmehr locken Jörg Widmann an der Klarinette und Heinz Holliger am präparierten Klavier die Hörerin beziehungsweise den Hörer tief in einen ganz und gar schlüssigen Kosmos hinein. Gegenüber den beiden anderen Kompositionen hat er einen Vorteil: Die Interpretation bleibt jeder und jedem selbst überlassen.

Ralf Neite

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