Die Zeit erzählen

Jenseits der Turbulenzen. Über Peter Kurzeck
Peter Kurzeck. Foto: dpa/Arne Dedert
Peter Kurzeck. Foto: dpa/Arne Dedert
Die Kritik hat sich mit Peter Kurzeck immer schwer getan - und sie tut es noch. Nachdem sie ihn jahrzehntelang ignoriert hat, lobt sie ihn jetzt in den höchsten Tönen

Das erste Gebot für fernöstliche Landschaftsmaler lautet: Konzentriere dich auf das Nichtkonkrete! Willst du einen Baum zeichnen, vergiss Äste, Blätter und Blüten. Male das Blau, Grau oder Schwarz der Zwischenräume. Am Ende wird auch der Baum ganz deutlich hervortreten. Auch wenn es Peter Kurzeck vermutlich nie so ausdrücken würde, hat er doch von Anfang an ein ähnliches Konzept verfolgt. Mit dem vorläufigen Ergebnis, dass ihn das Bild, das er so aus dem Negativ herausschneidet, nicht mehr sonderlich interessiert.

Von Roman zu Roman haben die Zwischenräume immer mehr an Kontur gewonnen. Das Soziale, der Plot, das Klischee oder eine wie immer geartete politische Meinung sind ihm fremd geworden. Der Autor lässt sich nicht von Theorien lenken und nicht vom Zwang zum Psychologisieren leiten. Er will sehen, schmecken, riechen - und es aufschreiben. Sein größenwahnsinniges Programm lautet: "Die ganze Gegend erzählen, die Zeit."

Einmal erzählt Kurzeck von den Lektüren der Kindheit und vom Zwiespalt, in den sie ihn stürzten. Wie alle seine Freunde war auch er ganz versessen auf spannende Abenteuergeschichten. Doch schon nach wenigen Seiten war das Bedauern groß. Immer dann, wenn die Beschreibung des unspektakulären Lebens der Helden endete und die Turbulenzen begannen.

Endlos lesen

Eigentlich wollte er endlos davon lesen, wie deren Tage vergingen zwischen Frühstück, angeregten Gesprächen oder ausgelassenem Versteckespielen. Die Befriedigung am Alltagsprotokoll ist geblieben. Er findet sie im eigenen Schreiben. Im Nacherzählen von Stunden und Tagen, die nichts Besonderes an sich haben. Ihren Zauber erhalten sie erst dadurch, dass sie in Sätze verwandelt werden. Im Kurzeckschen Duktus zwischen Minimalbewegung und Stillstand.

Die Kritik hat sich mit Kurzeck immer schwer getan - und sie tut es noch. Nachdem sie ihn jahrzehntelang ignoriert hat, lobt sie ihn jetzt in den höchsten Tönen. Fast ausnahmslos in falschen Tönen. Mal klingt das gönnerhaft, mal geschmäcklerisch, aber immer verharmlosend. Mit Erscheinen des jüngsten Bandes seines Zyklus Das alte Jahrhundert, dem tausendseitigen Opus Vorabend, will ihn das Feuilleton gar bis zum Büchnerpreis hochjubeln. Die Kriterien dafür sind alles, nur nicht literarisch. Es sei denn, man verwechselt das lahme Bild vom Proust aus der Provinz mit einem wissenschaftlichen Urteil.

Doch es ist nur eine Platitude, die sich auf wenig mehr als den schieren Umfang von Kurzecks Büchern beziehen kann. Anders als der Dichter der wiedergefundenen Zeit sucht der in Frankfurt und im südfranzösischen Uzes lebende Autor nicht das Paradies der Erinnerung, er will die Gegenwart festhalten. Dass er diese bevorzugt in den Achtziger- und den Fünfzigerjahren findet, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Er hat damit zu tun, dass das Schreiben immer nachträglich ist. Und damit, dass es Kurzeck darauf anlegt, jeden Augenblick festzuhalten. Sein Projekt ist maßlos und wider jede Vernunft.

Man muss sich Peter Kurzeck als einen von Neurosen gepeinigten Menschen vorstellen. Als einen Autor, dem innere Zwänge das gigantische Unterfangen einer Zeit-Mitschrift aufgebürdet haben. Aber man darf ihn sich auch als einen heiteren Menschen vorstellen, einen mit dem Talent zum Glücklichsein. Beides scheint zusammen zu gehören. Erst seine aufreibenden Ticks und Manien öffnen ihm die Augen für die Details, die alle anderen übersehen.

Ludwig Laibacher

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