Indignez-vous

Drei Arten der Empörung
Foto: privat
"Enrichessez-vous!" lautete der ironische Wahlspruch, der zur Zeit des französischen Bürgerkönigs zur Bereicherung aufrief. Die aktuelle in diskutierte Variante "Empört euch!" zielt hingegen auf Größeres.

In Deutschland wäre eine solche Schrift, wäre sie hier entstanden, als naiv belächelt worden. In Frankreich wurde sie, eine Art Flugblatt, mindestens eine Mil­lionmal verkauft: Indignez-vous! ("Empört euch"). Verfasser ist der 93-jährige Stéphane Hessel.

"Enrichessez-vous!" ("Bereichert euch") lautete der ironische Wahlspruch zur Zeit des Bürgerkönigs. "Empört euch!" zielt auf Größeres: Nicht um den Eigennutz geht es, sondern um die Ideale, um das, was der Einzelne zur Verbesserung der Welt tun kann - und, schon um seiner Selbstachtung willen, tun soll. Keine postanarchistische Schrift also, die den Sinn im Unsinn der Welt in der aus der Empörung erwachsenden Aktion sieht, sondern ein schlichtes Manifest über die Notwendigkeit des Bürgerprotestes, nebst der Aufzählung all der guten Ziele, für die sich jeder, des­sen Herz links schlägt und überhaupt jeder Wohlmeinende erwärmen kann. Aber der Titel macht es! Nämlich in Frankreich, wo Zolas "J’accuse" unvergessen ist.

Die große Geste

Dazu kommt das Charisma des 93-jährigen Autors Stéphane Hessel: ein Widerstandskämpfer, der das KZ überlebt hat, und - auch das gehört zu seiner Aura - der der Sohn des Berliner (jüdischen) Schriftstellers Franz Hessel und der Journalistin Helen Grund ist, deren Ménage-à-trois mit dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché von François Truffaut unter dem Titel Jules und Jim verfilmt wurde. Die Franzosen lieben diese Überblendungen von Heroismus, Kultur und Politik: Weniger auf die Moral kommt es an als auf die große polit-ästhetische Geste. Und deren eigentlicher Bestimmungsort ist die Straße, die idealer­weise in Paris liegt, die Inszenierung eines Spiels namens "Revolution", das - erinnert euch! - nämlich an 1789 - jederzeit ernst werden könnte. Doch auch die Franzosen waren damals nicht vor dem Elend gefeit, das folgt, wenn sich Ideologie ein moralisches Mäntelchen umhängt.

Auch wir Deutschen lebten einmal wie Götter, zweihundert Jahre später, auch wir verspürten den schönen Rausch der Freiheit, der Mauern überwindet. Allzu bald holte uns die Erfahrung, dass das Niederlegen der Mauer aus Beton noch die leichteste Übung war, auf den tristen Boden der Tatsachen herab. Hierzulande und heutzutage ist die moralische Attitüde ein bis zum Über­druss genutztes Mittel in der politischen Auseinandersetzung - glücklicherweise zur Zeit nur im Gewand eines neuen, engagierten Biedermeiers: Gegen Atomkraft, gegen einen Bahnhofsbau, gegen klimaerwärmenden Schadstoffausstoß, gegen Tierversuche (all das lässt sich natürlich positiv in "Für-Formulierungen" gießen).

Moralkeule des Medien-Chors

Nun konnte man in den letzten Wochen auf allen Kanälen beobachten, wie in arabischen Ländern sinngemäß "Wir sind das Volk" gerufen wurde (was daraus geworden ist, wenn dieser Kommentar erscheint, liegt im Dunkel des Augenblicks). Die Erinnerung an 1989 beflügelte den begleitenden Medien-Chor in erster Linie darin, die Moralkeule gegen einheimische Politiker zu schwingen: Zu lange hätten die es versäumt, gegenüber Tyrannen Klar­text zu reden, nun müssten sie sich unverzüglich öffentlich entschuldigen, undemokratische Machthaber mit starken Worten ermahnen und den Aufständischen ermutigenden Zuspruch gönnen. Welchen Namen diese Art von Empörung auch verdienen mag: es ist nicht die, die Stéphane Hessel meint, und schon gar nicht die der Menschen, die unter Lebensgefahr gegen die Unterdrückung in ihrem Lande aufstehen.

Helmut Kremers

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