Drei Irrtümer über die Arbeit

"Arbeit macht das Leben süß ... der nur hat Bekümmerniß, der die Arbeit haßt"
Viel "arebeit"? Abbau der Lutherzwerge im September 2010 in Wittenberg. Foto: epd/Steffen Schellhorn
Viel "arebeit"? Abbau der Lutherzwerge im September 2010 in Wittenberg. Foto: epd/Steffen Schellhorn
Inbegriff protestantischer Arbeitsethik ist das möglichst freudlose Schaffen von früh bis spät: Nur einer von drei Irrtümern, die die Vorstellung von Arbeit bestimmen, wie Torsten Meireis, Professor für Systematische Theologie/Ethik in Bern erläutert.

Wer sich in einer Diskussion über Arbeit als Protestant outet, der hat sein Etikett meist schon von vorne herein weg: Sind das nicht diejenigen, die Arbeit so bedeutsam finden, dass sie unablässig und ohne Pause oder Genuss arbeiten? Und heißt es nicht schon in der Bibel, dass das Leben nur dann als köstlich gelten dürfe, wenn es Mühe und Arbeit sei? Immerhin, so wird dann zuweilen zugestanden, sei so viel ja daran richtig, dass Arbeit und Arbeitsplätze doch mit das wichtigste politische Ziel seien. Alle drei Positionen aber halten einer Überprüfung nur eingeschränkt stand.

Irrtum Nr. 1: Die Reformatoren haben die Arbeitsethik erfunden. Wird heute im deutschsprachigen Raum nach dem Grund für wirtschaftlichen Erfolg oder effiziente Arbeitsdisziplin gefragt, wird oft auf die protestantische Arbeitsethik verwiesen. Max Weber, von dem das Konzept stammt und der die These eines spezifisch protestantischen Arbeitsethos wirkmächtig verbreitet hat, würde diese Auffassung wahrscheinlich so nicht teilen.

Am Ende der Abhandlung, die der "protestantischen Ethik" ihren Namen gegeben hat, stellt er fest, dass der moderne Kapitalismus mit Religion gar nichts mehr zu tun habe und den Menschen gar keine andere Möglichkeit mehr lasse als die disziplinierte Einfügung - seine Erwartung ist dabei durchaus pessimistisch: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein - wir müssen es sein." Die Wirtschaftsordnung bestimme heute den Lebensstil aller Einzelnen mit überwältigendem Zwange, vielleicht "bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist".

Keine Rechtfertigung durch gute Werke

Welche Entwicklungen haben die Mentalität hervorgebracht, die die westliche Rationalität - und damit auch den modernen Kapitalismus - ermöglicht hat? Webers These lautet, es seien die lebensweltlichen, nicht-intendierten Konsequenzen des Calvinismus gewesen. Die These ist freilich wirtschaftshistorisch umstritten, weil entsprechende Vorstellungen auch schon in der Stadt- und Kaufmannskultur der Renaissance nachweisbar sind und die Bedeutung der Religiosität für die Motivation nicht leicht messbar ist.

Für Luther jedenfalls (und das gilt gleichermaßen für Calvin) ist das Problem der Arbeit nebensächlich, seine Frage zielt auf das Gottesverhältnis. Luther hatte als Augustinermönch verzweifelt gebetet und gefastet, doch stets blieb Verfehlung übrig: Die Rechtfertigung vor Gott durch gute Werke war ihm nicht möglich.

Die Antwort auf dieses Problem findet Luther bei Paulus. Dessen Aussage, dass der Gerechte aus Glauben leben werde, versteht er im Sinne einer Rechtfertigung des Sünders allein in Christus, die im Glauben zugänglich wird. Gott sieht uns in Christus als Gerechte an, auch wenn wir Sünder sind - alles, was wir zu tun haben, ist, demütig vor Gott zu treten und auf seine Gnade zu vertrauen. Damit wird für Luther das Streben nach Verdienst vor Gott überflüssig, ja gefährlich: Der Mensch kann sich nicht aus eigener Kraft vor Gott rechtfertigen. Aus diesem Grund lehnt Luther alle Formen außeralltäglicher religiöser Existenz entschieden ab: Wallfahrten und Pilgerreisen, den Bettel, der in Grenzen als akzeptierter Stand gesehen wurde, sofern er die Almosen der Reichen mit Fürbitten vergalt, und das gesamte Ordensleben.

Beruf als Berufung

Gleichwohl führt die Rechtfertigungslehre Luther zufolge nicht in Fatalismus und Untätigkeit, sondern zu Dankbarkeit und Tatendrang, der sich nun aber auf den Dienst am Nächsten und ein dieser Dankbarkeit angemessenes Leben richtet. Wir finden uns immer schon in Verhältnissen vor, in denen wir dem Nächsten dienstbar sein können. Die Tatsache, dass wir an einen Ort gestellt sind, an dem wir dem Nächsten dienen können, sollten wir als äußere Berufung durch Gott verstehen - sie entspricht der inneren Berufung zum Christentum. Die alltägliche Tätigkeit des Dienstes am Nächsten, so lautet Luthers Auskunft, so wenig angesehen oder mühsam sie auch sei - "arebeit" steht in jener Zeit vor allem für mühsame oder gefahrvolle Tätigkeit -, ist unser Beruf.

Calvin übernimmt Luthers Berufskonzept mit dem Schwergewicht auf der auch von Luther vertretenen Ordnungsvorstellung: Jeder sei an seinen Beruf als den Ort gewiesen, an den Gott ihn oder sie gestellt habe. Die Frage des angemessenen Handelns sieht er - anders als Luther - durch einen positiven Bezug auf das Gesetz Gottes beantwortet. Indem wir diesem Gesetz im Vertrauen auf Gottes erwählende und rechtfertigende Gnade folgen, sind wir Calvin zufolge auf dem rechten Weg, seiner Heiligkeit zu entsprechen. Die Reformatoren werten so die alltägliche Tätigkeit im Dienst am Nächsten auf, weil sie sie nicht als Bedingung, sondern als Folge der Liebe Gottes verstehen, die letztlich auf den Dienst am Nächsten zielt.

Produktivität im Vordergrund

Irrtum Nr. 2: Arbeit hat es schon immer gegeben. Wenn wir heute von Arbeit reden, denken wir in der Regel an eine irgendwie produktive und in diesem Sinn auch sinnvolle Tätigkeit, die Anerkennung und materielle Kompensation verdient. In diesem Sinn ist Arbeit historisch aber meist gerade nicht verstanden worden, obwohl es natürlich Tätigkeiten, die wir unter dem Arbeitsbegriff zusammenfassen, immer schon gegeben hat.

Wie erwähnt, war arebeit noch zu Luthers Zeiten in der Regel nicht produktive Tätigkeit, sondern mühsame Plackerei, labor. So lässt sich auch Luthers Übersetzung von Psalm 90,10 verstehen: "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn 's hoch kommt, so sind 's achtzig Jahre, und wenn 's köstlich gewesen ist, so ist 's Mühe und Arbeit gewesen, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon." Nicht die Köstlichkeit der Arbeit wird hier gepriesen, sondern selbst das Köstliche ist bloß Mühe und Plackerei. In der griechisch-römischen Antike zählte ohnehin nicht derjenige, der eine Tätigkeit ausführte, sondern der, der sie befahl.

Doch angestoßen durch Renaissance und Reformation ändert sich das Konzept der Arbeit in Neuzeit und Aufklärung. Während die Welt für die meisten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Menschen vorrangig einen Ort der Vorbereitung zum ewigen Leben darstellte, verstärkt sich nun eine Entwicklung, die die Produktivität menschlicher Tätigkeit und die Verbesserung der Lebensumstände in den Fokus stellt, so dass die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten menschlichen Fortschritts immer wichtiger wird. Zunehmend wird der Aspekt der Produktivität im Arbeitsbegriff betont. Selbstverständlich stehen diese begrifflichen Wandlungsprozesse in Wechselwirkung mit den organisatorischen und technologischen Entwicklungen dieser Epoche. Im deutschsprachigen Raum sind es dabei besonders die protestantischen Aufklärer, die die Bedeutsamkeit der Arbeit betonen.

Arbeit verspricht Lebensglück

Arbeit wird nun nicht mehr als bloße Mühe verstanden, sondern als Basis materieller Teilhabe und sozialer Wertschätzung. Dazu kommt, dass die Beteiligung an produktiver Arbeit nun auch als Argument politischer Partizipationsforderungen verwendet wird. Schließlich kann sie sogar als Lebenssinn und Lebensglück in den Blick treten, wie es im berühmten Gedicht von Gottlob Burmann heißt: "Arbeit macht das Leben süß/Macht es nie zur Last;/Der nur hat Bekümmerniß,/der die Arbeit haßt."

Im Zuge der Entstehung einer durch zunehmende rechtliche Gleichheit, den Arbeitsvertrag und Arbeitsmärkte gekennzeichnete Arbeitsgesellschaft bildet sich auch der Vorstellungskomplex heraus, den man als "Arbeitsversprechen" bezeichnen kann und der die Debatten seit dem 19. Jahrhundert bis heute prägt: Wer sich in der Arbeit engagiert, mit der sich menschliche Gesellschaft reproduziert, darf mit materieller Teilhabe, politischer Teilnahme, mit sozialer Wertschätzung und einem guten Leben rechnen.

Allerdings kann von einer vollständigen Einlösung dieses kulturellen Versprechens von Anfang an keine Rede sein. Noch Ende des 18. Jahrhunderts sind 80 Prozent der Menschen in Deutschland im Agrarsektor beschäftigt und Hungersnöte sind an der Tagesordnung. Die Befreiung der Bauern von Lasten und Fronverpflichtungen ist ein ambivalentes Geschehen, weil die Adressaten dieser Verpflichtungen entschädigt werden müssen, was die Leistungskraft vieler Bauern übersteigt. So ergibt sich aus der Einführung von Vertrags- und Gewerbefreiheit sowie der Bauernbefreiung auch eine Erhöhung der Zahl der Armen, die als "Pauperismus" wahrgenommen wird. Die Einführung von Freizügigkeit und Vertragsfreiheit führt aufgrund fehlenden sozialen Schutzes und mangelnder Ressourcen dazu, dass die Arbeiter den Fabrikherren ausgeliefert sind - erst nach langwierigen Kämpfen bahnt sich der wohlfahrtsstaatliche Kompromiss an, der soziale Sicherung und gewerkschaftliche Organisation der Arbeitenden impliziert.

Versprechen nicht eingelöst

In diesen Kämpfen wird im Protestantismus durchaus unterschiedlich agiert: Einerseits sucht man die sich hier zeigenden Probleme oft im Rückgriff auf vormoderne Gesellschaftsvorstellungen zu bearbeiten. So werden die Probleme industrieller Erwerbsarbeit kaum gesehen oder mit einem theologischen Berufskonzept bearbeitet, das, jenseits aller Realität, familiäre Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschwört.

Andererseits aber entwickeln sich die Wahrnehmung für die Not der Menschen, eine Kultur praktischer Hilfe und zunehmend auch ein Sinn für die Ungerechtigkeit, die in der mangelnden Einlösung des Arbeitsversprechens liegt. So kann der Pfarrer Friedrich Naumann 1889 schreiben: "Noch vor hundert Jahren lagen Reichtum und Armut nicht soweit auseinander wie in diesen Tagen. Hier wird geschwelgt, dort wird gedarbt. Der Fabrikant fährt mit zwei blanken Rappen, sein Mitarbeiter, der Eisengießer Müller, geht aus Not in zerrissenen Stiefeln ... Wollt ihr denen den Mund zuhalten, die nach Brot schreien? Wollt ihr dem Lazarus vor des reichen Mannes Türe gebieten, daß er nicht merke, wie jener alle Tage herrlich und in Freuden lebt?"

Das Doppelgesicht der Arbeit

Im zwanzigsten Jahrhundert tritt der theologische Berufsbegriff zugunsten des Arbeitskonzeptes zurück. Arbeit wird dabei unter Bezug auf Karl Barths Bestimmungen als tätige Entsprechung des Menschen zur geschöpflichen Existenz verstanden, als doppelgesichtiges Phänomen, das Chancen auf allgemeinen Wohlstand, aber auch Ausbeutung von Mensch und Natur, der Ausgrenzung oder Abstumpfung der Arbeitenden mit sich bringen kann und daher unter dem Kriterium der Gerechtigkeit, der Humanität und der Nachhaltigkeit zu gestalten ist.

In Westdeutschland entwickelt sich eine weitgehend abgesicherte Arbeitswelt, in der Tarifverträge im Kontext von Massenproduktion und Massenkonsum geschlossen werden - Stichwort "Vollbeschäftigung", alles unter der Bezeichnung "Soziale Marktwirtschaft", die protestantische Wurzeln hat.

Im kirchlichen Kontext entsteht eine Praxis, die sich - unter dem Titel eines kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt - dem Ziel einer humanen und gerechten Gestaltung der Erwerbsarbeit verbunden weiß, zu dem neben Entlohnung oder Arbeitsbedingungen auch der gleichberechtigte Zugang der Frauen zu selbstständiger ökonomischer Absicherung und Karrierechancen gehört. Am Horizont erscheinen hier die Fragen nach der Anerkennung, Absicherung und Kompensation derjenigen Tätigkeiten, die nicht durch den Markt organisiert werden: etwa die Familienarbeit oder das freiwillige Engagement. Arbeit ist endgültig zu einem Begriff geworden, mit dem man Tätigkeiten als anerkennenswert auszeichnet.

Irrtum Nr. 3: Hauptsache Arbeit! In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Zahl der Erwerbstätigen vervielfacht. Aber ein Erwerbsarbeitsplatz ist zunehmend keine Garantie mehr für gesellschaftliche Teilhabe und sichere Lebenschancen. Das ist schon in den reichen Industrienationen des Nordens so, in denen die Prekarisierung, das Brüchig-Werden der mit dem Erwerb verbundenen Erwartungen und sozialstaatlichen Sicherungsgarantien mehr Menschen verunsichert, als tatsächlich von ihr betroffen sind - immerhin sind hier 22 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 in atypischer Beschäftigung, mit steigernder Tendenz. Auch hier hat sich die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen hochbezahltem Management und mit Niedriglöhnen abgespeisten einfachen Dienstleistern erschreckend weit aufgetan.

Gute Arbeit

Noch problematischer ist die Situation weltweit, wie einige Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ilo) zeigen. 40 Prozent der Arbeitenden leben mit ihren Familien von Löhnen unter zwei Dollar am Tag, die Hälfte aller Beschäftigten weltweit arbeitet in sozial ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Dennoch ist die arbeitsgesellschaftliche Kopplung von Produktion und Verteilung durch den Arbeitsvertrag ein Erfolgsmodell, das Anreize zu produktiver Tätigkeit setzt und bis zur Finanzkrise im globalen Kontext auch für fallende Raten arbeitender Armer und ungesichert Beschäftigter gesorgt hat. Ein Erfolgsmodell kann die Arbeitsgesellschaft aber nur dann bleiben, wenn das Arbeitsversprechen sich nicht als Bluff erweist und die Arbeit nicht nur als Ware verstanden wird, die lediglich möglichst effizient zu verteilen sei.

In dieser Situation muss der Protestantismus an die Kriterien guter Arbeit erinnern. Dazu gehört erstens die Frage sozialer Gerechtigkeit, die sich etwa an den Zugangsbedingungen zu erfolgversprechender Qualifikation, den Chancen auf erfolgreiche Verhandlungen am Arbeitsmarkt und der sozialen Absicherung festmachen lässt. Zu diesen Kriterien guter Arbeit gehört aber auch diejenige reformatorische Bestimmung, die auf die Gehalte der Tätigkeit abhebt. Sie lautet schlicht: Gute Arbeit lässt sich als Dienst am Nächsten verstehen. Das ist in Zeiten weitgehender globaler Arbeitsteilung nicht einfach zu konkretisieren, aber es bleibt aus protestantischer Perspektive unhintergehbar.

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Torsten Meireis

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Torsten Meireis

Torsten Meireis ist Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik und Hermeneutik, Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Berlin Institute for Public Theology


 

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