Heilige auf Zeit

Das Mutter-Teresa-Hospiz lockt viele ehrenamtliche Helfer aus den Industrieländern an
Welch ein Team: Der englische Punk-Metal-Fan Lion und die italienische Krankenschwester Teresa bei der Arbeit. Foto: Jörg Böthling
Welch ein Team: Der englische Punk-Metal-Fan Lion und die italienische Krankenschwester Teresa bei der Arbeit. Foto: Jörg Böthling
Das Mutter-Teresa-Hospiz am Kali-Tempel in Kalkutta ist das Gründungshaus des Mutter-Teresa-Ordens. Die meisten ehrenamtlichen Helfer stoßen hier auf das Gegenteil ihrer gewohnten Lebenswelt: Hunger, Elend, Schmerz, Leid und Verlassenheit. Viele wachsen bei der Arbeit mit den Sterbenden über sich selbst hinaus.

Selbst ein Kerl wie Lion hat seinen schwachen Moment. Sonst wirkt der am ganzen Körper tätowierte baumlange Brite wie aufgezogen. Brüllt Witze durch den Saal, über die er selbst am lautesten lacht. Und gibt Ratschläge an die Neuen: "Du brauchst hier wirklich einen guten Magen."

Nun braucht er ihn selbst. Mit seinen kräftigen Armen drückt er sanft den ausgemergelten Körper des Patienten auf die Matratze. Sein Gesicht hat Lion abgewendet. Nur manchmal riskiert er einen Blick auf das Bein - beziehungsweise auf das, was davon nach Zugunfall und Amputation noch übrig ist. Teresa aus Italien reinigt die offene Wunde am Stumpf. Wochen auf der Straße ohne medizinische Versorgung haben einen unbeschreiblichen Eiterherd entstehen lassen.

"In meiner langen Zeit als Krankenschwester in Italien habe ich solche Wunden nicht gesehen", sagt Teresa ohne den Blick von dem Beinstumpf abzuwenden. Eine geschlagene halbe Stunde dauert der Verbandswechsel. Teresa arbeitet ruhig und konzentriert. Am Ende sitzt Lion zusammengesunken auf der Bettkante. Verstohlen drückt er sich mit Zeigefinger und Daumen die Tränen aus den Augen. Teresa gibt ihm einen aufmunternden Klaps auf den Hinterkopf.

Den Ärmsten der Armen helfen

Welch ein Team. Der vierzigjährige ehemalige Punk-Metall-Freak und Waffennarr aus Stratford-upon-Avon, der Geburtsstadt William Shakespeares. Und die 73-jährige pensionierte Krankenschwester aus Padua am Rande der Poebene, streng gläubige Katholikin. Beide teilen eine Leidenschaft: Den Ärmsten der Armen helfen. In Kalkutta, der Stadt Indiens, die ihre Armut wohl am offensten zur Schau trägt.

1952 gründete die Heilige und Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa, die in diesem Jahr einhundert Jahre alt geworden wäre, in Kalkutta ihr weltberühmtes Hospiz. In dem Haus sterben Menschen in Würde, die ansonsten einsam auf den Straßen der Millionenmetropole verenden würden.

Das ist nur möglich dank einer großen Zahl freiwilliger Helfer, wie dem tätowierten Lion oder der italienischen Krankenschwester Teresa, die nur zufällig so wie die Friedensnobelpreisträgerin heißt. Die ehrenamtlichen Helfer waschen Wäsche, teilen Essen oder Medikamente aus, scheuern den Fußboden, massieren den Patienten die Füße oder reden ihnen einfach nur gut zu. Anreise und Kosten ihres Aufenthaltes tragen die Heiligen auf Zeit selbst. Nicht einmal ein Essen in der Mittagspause schenkt ihnen das Hospiz.

Foto: Jörg Böthling
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Straßenszene in Kalkutta.

Foto: Jörg Böthling
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Auf den Straßen Kalkuttas, der Stadt Indiens, in der die Armut besonders krass sichtbar ist.

In den vier Häusern des Ordens in Kalkutta arbeiten neben den Ordensschwestern jedes Jahr fast fünftausend dieser Ehrenamtlichen. Einige bleiben nur für wenige Tage, suchen auf ihrem Indientrip nach Bodenhaftung. Andere kommen jedes Jahr oder verbringen sogar einen Großteil ihres Lebens im Hospiz. Fast alle verlassen dafür ein warmes Nest, in den USA, Japan, Korea, Neuseeland, Frankreich, Deutschland oder Österreich. In Kalkutta konfrontieren sie sich mit genau dem Gegenteil - mit Hunger, Elend, Schmerz, Leid und Verlassenheit. Was treibt diese Menschen an?

"Wie soll ich in Padua meinen Lebensabend genießen, solange hier dieses Elend herrscht?" Teresas Augen funkeln hinter ihrer großen Brille. Sie steht vornüber gebeugt an dem Waschbecken aus grauem Stein und spült das OP-Besteck. Vierzig Jahre hat sie in Italien als Krankenschwester gearbeitet. "Schon bevor die erste Rentenzahlung auf dem Konto einging, war mir klar: Ich kann nicht einfach aufhören." Seitdem lebt Teresa elf Monate im Jahr in einer kleinen Pension im Zentrum Kalkuttas. Es ist laut und stickig in dem kleinen Zimmer. Draußen tobt ein mörderischer Verkehr. Bettler und Straßenkinder bevölkern jeden freien Quadratmeter. "Ich mag diese Stadt nicht - aber ich liebe ihre Armen", sagt Teresa und nickt bestimmt.

Teresa ist klein und energisch, spricht gestenreich. Zwölf Stunden arbeitet sie täglich im Hospiz. Nach Italien fährt sie nur, um ihr Visum für Indien neu zu beantragen. Familie hat sie keine, aber viele Freunde. Verstehen die, was sie tut? "Sie hören mir zu und stellen höflich Fragen." Teresa lächelt. Dann schüttelt sie heftig den Kopf. "Aber ich weiß genau, sie verstehen überhaupt nichts."

Fast jeden Tag ein Toter

Wie sollen sie auch. Auf den rund einhundert Eisenrohrbetten in den beiden Sälen des Hospizes liegen Menschen in einem Zustand, den man in unserer Welt selten oder gar nicht zu Gesicht bekommt. Bis auf die Knochen abgemagert, starren die Patienten aus tiefliegenden Augen ins Leere, brabbeln vor sich hin, fantasieren, schreien oder rufen um Hilfe. Sie haben Tuberkulose, Aids oder Krebs im Endstadium. Auch wenn einige wenige wieder gesund aus der Tür gehen - die meisten werden in diesem Haus sterben. Fast jeden Morgen wird eine der hageren Gestalten in ein Leinentuch gewickelt und aus dem Saal getragen.

Foto: Jörg Böthling
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Diese Allgegenwart des Todes ist einer der Gründe, weshalb Philippe immer wieder nach Kalkutta kommt, um im Hospiz zu helfen. "Die indische Gesellschaft akzeptiert den Tod, anstatt ihn zu tabuisieren und mit Angst zu belegen." Philippe fällt erst auf den zweiten Blick auf. Doch seine Geschichte und Motivation steht für die der meisten freiwilligen Helfer im Hospiz. Mit seiner modischen Hornbrille sieht Philippe aus wie so viele Medienarbeiter in den Metropolen Europas.

In Paris sitzt der 36-Jährige als Werbekaufmann hinter einem Computer in einem großen Verlagshaus. Nun hockt er auf dem Steinfußboden neben dem Bett eines Patienten. Der Mann undefinierbaren Alters ist bis auf die Knochen abgemagert. Sein Kopf erinnert an den eines Vogels. Geduldig schiebt Philippe ihm einen Löffel mit Reisbrei nach dem anderen zwischen die zahnlosen Kiefer. Zwischendurch wischt er mit einer Serviette Speichel und Essenreste aus den Mundwinkeln.

Wie eine Therapie

"Du kannst hier etwas sehr Einfaches tun und damit sehr viel helfen." Vor sechs Jahren war Philippe das erste Mal in Indien, auf Geschäftsreise. Als Tourist kam er wieder und besuchte das Hospiz. Wenige Monate später stand Philippe vor einer Ordensschwester in Kalkutta, um sich als Freiwilliger registrieren zu lassen, eine einfache Registrierung genügt. Am nächsten Tag konnte er anfangen. "Mein Leben steckte damals fest, ich war unzufrieden mit dem Job, hatte Probleme mit meiner Freundin."

Der Dienst an den Armen sorgte für einen Bruch und einen radikalen Perspektivwechsel. "Ich weiß, es klingt pathetisch - aber seitdem betrachte ich die Menschen um mich herum mit mehr Liebe." Philippe verlässt sein komfortables Leben in Paris zweimal pro Jahr für rund zehn Tage. "Die Tage hier sind für mich wie eine Therapie." Dafür opfert er den Großteil seines Urlaubs. "Ich wachse in Kalkutta über mich hinaus, kann Dinge tun, zu denen ich in Paris nie in der Lage wäre", sagt er.

Mittagspause. Draußen vor der Tür zündet Philippe sich eine Zigarette an. Vor den Steinstufen liegt eine Mutter mit ihrem nackten Kind auf einem Stück Pappkarton. Das Hospiz befindet sich in einer ehemaligen Pilgerherberge direkt neben dem Kali-Tempel im Süden Kalkuttas. Kali ist die Lieblingsgöttin der Westbengalen. Um die Hüften trägt sie eine Kette aus Totenköpfen. Wer es sich leisten kann, opfert ihr eine Ziege. Im Tempel gibt es dafür eigens einen Raum mit Guillotine. In den belebten Straßen rund um den Tempel bieten Straßenhändler bunte Devotionalien feil. Priester, Fremdenführer und verkrüppelte Bettler warten auf Kundschaft. Wenige Ecken weiter buhlen grell geschminkte Prostituierte um Freier.

Foto: Jörg Böthling
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Etwas Einfaches tun und dadurch helfen.

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Nur wenige werden wieder gesund durch die Tür gehen.

In Paris wohnt Philippe mit seiner Freundin in einer teuren Wohnung im feinen Ersten Arrondissement. "Wir blicken auf den Louvre", sagt er lachend und bahnt sich seinen Weg durch das bunte Chaos. Die Wohnung gehört zu seinem alten Leben. "Früher stand ich auf dicke Autos und schicke Klamotten - aber das bedeutet mir alles nichts mehr."

Die Mittagspause verbringt Philippe oft am Kalighat, einer rituellen Badestellen. Das schmutzige Wasser stinkt zum Himmel. Philippe lehnt sich gegen die von der Monsunfeuchtigkeit schwarz geschimmelte Mauer. "Das erste Mal in Kalkutta war ein Schock, all die Schlafenden nachts auf den Straßen, der Schmutz und das Elend." Philippes wache Augen wandern hin und her. Gläubige gehen die Stufen hinunter, benetzten sich mit dem Wasser die Stirn oder nehmen in der Kloake ein heiliges Bad. Philippe nickt ihnen freundlich zu.

Dann muss er zurück. Im Eingang des Hospizes steht Schwester Glenda in ihrem blauweißen Ordenskleid. Ein kurzes Nicken zu Philippe, dann blickt die füllige Hospizleiterin streng zu den drei jungen Männern im Backpacker-Outfit. "Sorry Schwester, wir sind etwas spät dran", sagt einer von ihnen mit amerikanischem Akzent und eilt in den Waschraum.

Was alles in den Menschen steckt

Oben auf der Dachterrasse sitzt Lion. Vor ihm liegt ein Haufen Bettlaken. Der Brite hilft sieben Wochen lang im Hospiz. "Die Schwestern waren anfangs nicht begeistert von meinem Aussehen." Ein breites Grinsen macht sich auf seinem verschwitzten Gesicht breit. Lion trägt ein faustgroßes Frankenstein-Tattoo auf dem Hinterkopf. Auf einem Unterarm prangt ein duster dreinschauender Sensenmann.

Als junger Mann ist Lion kreuz und quer durch Europa gereist, um Schauplätze aus den beiden Weltkriegen zu besichtigen. In Rumänien landete er per Zufall in einem Waisenhaus. "Das hat mich verändert", sagt er und zupft an seiner Trainingshose. Seitdem spart er den Lohn seiner Gelegenheitsjobs und sammelt Spenden für das Waisenhaus. Ein Geschäftsmann aus seiner Heimatstadt hat ihm den Aufenthalt in Kalkutta gesponsert. "Besser ich helfe hier, anstatt zuhause auf meinem Arsch zu sitzen." Lion lacht auf - laut und dreckig. Dann nimmt er eines der Laken vom Haufen, legt die Kanten akkurat übereinander und streicht den Stoff glatt. Es ist doch ein Wunder, was alles in den Menschen steckt.

Foto: Jörg Böthling
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Text: Klaus Sieg / Fotos: Jörg Böthling

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