Schizophren

Jesus und sein Bruder Christus
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Philip Pullmans erzählt die märchenhafte Geschichte der ungleichen Zwillinge Jesus und Christus. Das hat seinen Reiz. Doch leider bleiben die Figuren schablonenhaft und sind lediglich Repräsentanten unterschiedlicher Religionsmodelle, die ihren Streit stellvertretend für den Autor ausfechten.

Dies ist die Geschichte von Jesus und seinem Bruder Christus: wie die beiden geboren wurden, wie sie lebten, und wie einer von ihnen starb. Der Tod des anderen gehört nicht zur Geschichte." Mit diesem Clou beginnt Philip Pullmans märchenhafte Erzählung der ungleichen Zwillinge Jesus und Christus. Jesus, der impulsivere und lebensverbundenere, wird zunächst Zimmermann, zieht aber schließlich als Wanderprediger durch die Lande. Christus hingegen "hing immer am Rockzipfel seiner Mutter und verbrachte endlose Stunden mit Lesen und Beten". Beflissen, angepasst und menschenscheu, ist er zunehmend fasziniert vom Auftreten seines Bruders und reist ihm heimlich nach.

In die Faszination mischt sich bald Enttäuschung, weil Jesus Wunder gering schätzt und sich nicht von der richtigen Organisationsform für seine Ideen überzeugen lassen will. "Ich sehe es ganz deutlich vor mir, Jesus", schwärmt Christus. "Es wird Konzilien gelehrter Männer geben, die jedes rituelle und liturgische Detail erörtern. ... Sie stellen Regeln auf für die komplexen Fragen des Glaubens und legen fest, was man glauben soll und was nicht. ... Ich sehe, wie alle Zweifel beseitigt werden, ich sehe, wie jeder Widerspruch, jede Abweichung ausgeräumt wird." Vergebens: In Jesu Vorstellung kommt das Reich Gottes unmittelbar durch Gott selbst - nicht durch eine Kirche, deren Macht und Selbstgerechtigkeit er fürchtet.

Wenn das Reich Gottes denn kommt. Denn in einem fast schon abrupten Wechsel erlebt der Leser Jesus als zutiefst zweifelnden Mann - getrieben von einer Gottessehnsucht, auf die er keine Antwort erfährt. "Du sagst nichts", hören wir ihn beten. "Gott - gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen dieser Aussage und der, dass du gar nicht da bist?" Solche Brüche in der Darstellung der Personen offenbaren eine der größten literarischen Schwächen des oft wenig kohärenten Romans: Denn den Figuren werden quasi von außen Handlungsmotivationen zugesprochen, ohne dass sie sie nachvollziehbar aus ihrer Person und ihrem Erleben entwickeln dürfen. Sie bleiben schablonenhaft, Repräsentanten unterschiedlicher Religionsmodelle, die sie für den Autor austragen sollen. Das zeigt sich nicht zuletzt in den langen Anteilen wörtlicher Rede, denen gänzlich die eigene Stimme der Sprechenden fehlt.

Neues Testament als Komplott

Es wundert nicht, dass Pullman in diese Konstruktion die Figur eines unbekannten "Fremden" einführen muss, um das eigentliche Drama überhaupt in Gang zu bringen: Dieser Mann - seine Identität bleibt unklar, er wirkt aber wie ein Abgesandter der römischen Kurie - stiftet Christus zunächst an, als Geschichtsschreiber seines Bruders zu dienen: "Indem Du die Dinge so aufschreibst, wie sie hätten sein müssen, fügst du zu den historischen Fakten die Wahrheit hinzu." Und da Zwillingsgeschichten immer das Potenzial für Verwechslungen bergen, besteht am Ende die Pointe darin, dass Christus erst zum Judas wird, um nach Jesu Tod in seine Rolle zu schlüpfen und der Welt seine Auferstehung vorzuspielen.

Pullman interpretiert so das Neue Testament als ein Komplott mit dem ideologischen Ziel einer hierarchischen, autoritären Organisationsform namens Kirche. Anfangs hat diese literarische Idee einen gewissen Witz, denn sie schärft den Blick für das Vielschichtige, auch Widersprüchliche der Motive des Neuen Testaments und das interpretative Interesse der Autoren. Doch die dualistische Zuordnung eines historischen Jesus und einer sich dessen nachträglich durch die Kirche bemächtigenden Christologie wirkt schlicht, die dahinterstehende Religionskritik nur allzu klischeehaft, der Ton ist oft unangenehm altklug.

Was Pullman allerdings schafft, ist, dem Leser die erzählerische und sprachliche Stärke der Bibel vor Augen zu führen, denn sein Text ist dann am eindringlichsten, wenn er sich das Neue Testaments zur Vorlage nimmt.

Philip Pullman: Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 240 Seiten, Euro 18,95.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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