Oase in der Stadt

Die neue Gedächtniskirche in Berlin wurde vor fünfzig Jahren geweiht
Der verhängte alte und der neue Turm von Egon Eiermann ragen nebeneinander in den Himmel. Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Otto Musterbild
Der verhängte alte und der neue Turm von Egon Eiermann ragen nebeneinander in den Himmel. Foto: Natascha Gillenberg
Die Gedächtniskirche gilt als eines der bekanntesten Wahrzeichen Berlins. Rund eine Million Besucherinnen und Besucher kommen im Jahr hierher, um das Mahnmal für Frieden und Versöhnung zu besichtigen und die besondere Architektur auf sich wirken zu lassen. Doch die Gedächtniskirche ist mehr als eine Sehenswürdigkeit: Hier wirkt eine lebendige evangelische Kirchengemeinde.

Es gibt Orte in Berlin, da schlägt einem die Stadt erst einmal wie mit einem kalten Waschlappen ins Gesicht. Der Breitscheidplatz am Kurfürstendamm ist so ein Ort: Die besten Westberliner Jahre hinter sich, aber mit Sehnsucht in den Augen und den Schaufenstern. Immer ein wenig schmuddelig, nach Bratwurst riechend, nach Urin stinkend; der einst berüchtigte Bahnhof Zoo ist gleich um die eine Ecke, die Feinkostabteilung des KaDeWe um die andere. Erwartungshungrige Touristen suchen alten Glanz und finden ein paar Postkarten, ein weißes Pseudohochhaus aus Plastikfolie, unter der sich der alte Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verbirgt, und ein ganz neues Hochhaus, ihn weit überragend. Die Gedächtniskirche: Ein grauer, steiniger Brocken, der Eingang zwischen Souvenirläden und Crêpeständen verborgen.

Eingehüllt in tiefes Blau

Also hinein. Mit einem leisen „Klong“ verschluckt die Bronzetür den Straßenlärm, das Hupen der Autos, die Rufe und Trommeln der Straßenmusiker, das Beifallklatschen der Passanten. Die Schritte werden langsamer, die Augen blinzeln einen Moment im dämmrigen Licht, dann ist man wie eingehüllt in ein tiefes Blau. Es legt sich auf Stirn und Schultern, lässt den Atem tiefer werden und die Gedanken ruhig.

Der oktogonale Kirchbau, der bei Tag von außen so unscheinbar und grau wirkt, birgt in seinem Inneren einen unerwarteten Anblick. Das blaue Licht dringt von allen Seiten aus mehr als zwanzigtausend kleinen, wabenförmigen Fenstern, jedes von ihnen ein Unikat aus zweieinhalb Zentimeter dickem Glas, die wie Scherben aneinander gesetzt sind, zum Teil versehen mit roten, grünen und gelben Einsätzen, angefertigt vom französischen Künstler Gabriel Loire aus Chartres.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Die goldene Christusfigur vor nächtlichem Blau.

Besucher bewegen sich langsam durch den Raum, den Blick zu den Fenstern erhoben; einige von ihnen sind an ihrem Rucksack auf dem Rücken und dem Fotoapparat in der Hand unschwer als Touristen zu erkennen. Andere suchen sich einen Platz in den Stuhlreihen, verharren dort für eine Weile, schweigend.

Über dem Altar schwebt eine übergroße goldene Christusfigur, fast ein wenig unwirklich im Dämmerlicht, die Arme in Kreuzeshaltung geöffnet: Eine Geste des Segnens, der Behutsamkeit, der Einladung. Oder eine angedeutete Umarmung. Der Künstler Karl Hemmeter hat sie gestaltet.

Einfach sein dürfen

Kein Zweifel, der moderne Bau ist eine Oase der Stille inmitten der belebten Westberliner Innenstadt. Doch die Gedächtniskirche ist auch Gemeindekirche. Und die Gemeinde schottet sich keineswegs ab. Ganz im Gegenteil versteht sie sich als "Kirche in der Stadt und für die Stadt", wie Cornelia Kulawik, die neben Martin Germer hier als Pfarrerin tätig ist, betont. "Diese Kirche ist wichtig für die Stadt, weil sie die Aufgabe hat, ein anderer Ort zu sein." Das beginnt schon damit, dass das Kirchengebäude einen Raum bietet, in dem Menschen einfach sein dürfen, unabhängig von ihrem Hintergrund und Ziel, ohne den funktionellen Anspruch, den so viele andere Orte unserer Gesellschaft heute stellen.

Rund eine Million Besucherinnen und Besucher strömen jährlich in die Gedächtniskirche. Die Türen des Gotteshauses sind für sie vom Morgen bis zum Abend geöffnet. Eine große Chance, ist Kulawik überzeugt, denn so sind nicht nur die Menschen zu erreichen, die bereits einen Zugang zum christlichen Glauben haben, sondern auch "distanzierte Menschen, vorsichtig Schauende".

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Drinnen Mosaik in der Gedächtnishalle im alten Turm ...

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

... draußen Souvenirs und Süßigkeiten.

Was der einzelne von der Begegnung mit diesem Ort mitnimmt? Wer weiß. Für die Gemeindeglieder bedeutet der ständige Zustrom den Verzicht auf die familiäre und vertraute Atmosphäre einer typischen Ortsgemeinde. Aber sie wollen diesen Fremden, die nur vorübergehend hier weilen, großzügige Gastgeber sein. Die Gemeinde stellt sich immer neu der Frage: Was braucht die Stadt? Welche Aufgabe haben wir als Gemeinde in der Öffentlichkeit, welcher Frage, welcher Anregung, welcher Herausforderung können und wollen wir uns stellen?

Fast täglich Musik

Dazu gehören seit mittlerweile fünfzig Jahren die kurzen Andachten zur Mittagszeit und am Abend, die sich vor allem an jene richten, die mit den Geschichten und der Sprache des Glaubens wenig vertraut sind. Die Glocken erklingen, die Orgel spielt, ein Gebet wird gesprochen, es gibt eine kurze Meditation - und den Segen mit auf den Weg. Für manche der Besucher ist das eine der seltenen Begegnungen mit Kirche - und in der Schlichtheit das, worauf sie sich einlassen können. Anders bei den Gottesdiensten am Sonntagmorgen: Auch hier sind viele Touristen zu sehen, Menschen, die nur für kurze Zeit in Berlin sind und die Stadt bald wieder verlassen werden. Doch in der Regel gehen sie auch in ihrer Heimat in die Kirche, sind geübt in den gottesdienstlichen Formen.

Zu den Bach-Kantaten-Gottesdiensten, die alle zwei Wochen am Samstag stattfinden, kommen hingegen überwiegend Berliner: Kulturinteressierte, meist Bildungsbürger, nicht unbedingt der Gemeinde zugehörig - und auf diese Weise ebenfalls auf Durchreise. Fast täglich wird in der Gedächtniskirche Musik aufgeführt - ob Bach, ob Jazz, ob Soul - fast nie erhebt die Gemeinde dafür Eintrittsgeld. Denn zum einen geht es dabei um Gottesdienste, zum anderen soll hier niemand ausgeschlossen werden, der sich Kultur sonst nicht leisten kann.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Glockenstuhl.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Das Nagelkreuz aus Coventry.

Dabei ist die Gedächtniskirche auch normale Ortsgemeinde mit Mitgliedern aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten, wie sie in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg eben zu finden sind: Die Gutsituierten, die sich die teuren Wohnungen am Kurfürstendamm leisten können, gehören genauso dazu wie die Menschen aus den Sozialwohnungen, die nur wenige Straßen weiter leben. Und so kann es passieren, dass in einem Konzert am Sonntagabend zwei Reihen hinter dem Ehepaar in Abendgarderobe ein Obdachloser neben seiner abgenutzten Plastiktüte sitzt und dem Vokalensemble lauscht, das Musik von Arvo Pärt zur Aufführung bringt.

Für Zweifler und Suchende

300.000 Protestanten im Berliner Westen werden zur Gemeinde gerechnet. Viele von denen, die hierhin kommen, sind alleinstehend, darunter viele ältere Menschen. Dennoch: Auch in dieser Gemeinde gibt es selbstverständlich Spielgruppen für Kinder und Familiengottesdienste, daneben einen Bibel- und einen Seniorenkreis, mehrere Chöre; in diesem Sommer sind gerade fünfzehn Jugendliche konfirmiert worden. Ein wichtiger Teil dieses Gemeindelebens spielt sich dabei nicht auf dem Breitscheidplatz ab - das Gemeindehaus liegt nicht direkt neben der Kirche, sondern ist einen knappen Kilometer entfernt.

Und doch sorgen viele der rund einhundert Ehrenamtlichen dieser Gemeinde dafür, den Kontakt zu den Reisenden und fremden Besuchern der Gedächtniskirche aufzunehmen. Sie engagieren sich in der Verkaufsstelle im Alten Turm, helfen mit bei Gottesdiensten und Konzerten, sind im Rahmen der "Kirche für Neugierige" ansprechbar für ein Gespräch und Fragen über Gott und den christlichen Glauben. Die Gemeinde öffnet die Türen für Zweifler und Suchende, bietet seelsorgerliche Beratung - und eine Kircheneintrittsstelle an prominenter Stelle in Berlin.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Brot beim Erntedankfest.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Der Eine-Welt-Laden befindet sich im neuen Turm.

Die Offenheit der Gemeinde hin zur umgebenden Stadt korrespondiert mit ihrer Zugewandtheit zur geschichtlichen Vergangenheit, dem Offenhalten von Wunden, der Auseinandersetzung mit einer fatalen Nähe von Staat und Kirche, von Macht und Glaube, Thron und Altar. Denn ursprünglich wurde die Gedächtniskirche errichtet als neoromanischer Prachtbau zum Gedächtnis des deutschen Kaisers Wilhelm I. und zur Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg. 1895 eingeweiht, übertraf die Kirche in ihrer Größe sogar den Berliner Dom.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Motorradandacht.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Currywurst draußen vor der Tür.

Nach ihrer Zerstörung durch Bombenangriffe im Winter 1943 blieb nur noch der Stumpf des Hauptturms stehen sowie ein Teil des Kirchenschiffs. Da die Bevölkerung sich vehement gegen den Abriss dieser Gebäude wehrte, entwarf der Architekt und Möbeldesigner Egon Eiermann ein Konzept, dass den Turm als Ruine in ein Ensemble neuer Kirchengebäude integrierte. Neben dem Kirchenschiff gehören dazu ein frei stehender, sechseckiger Kirchturm mit den gleichen blauen, wabenförmigen Fenstern, sowie eine Kapelle und ein Foyer.

Der Kontrast zwischen den Gebäuden könnte nicht größer sein. Und dennoch bilden die Bauten der Nachkriegsmoderne, so wie sie sich auf den lebendigen Breitscheidplatz ausdehnen, mit dem als Ruine erhaltenen Turm ein gemeinsames Ganzes, beziehen sich aufeinander. Das eröffnet auch eine interessante theologische Sicht, findet Pfarrerin Kulawik: Denn Menschen, die Glauben neu erfahren, dürfen dabei erst einmal etwas Neues erleben. Erst dann erschließt sich für sie auch das Alte.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Blick aus dem neuen Turm.

Foto: epd/Matthias Hauser
Foto: epd/Matthias Hauser

So wird sich die Kirche nach der Renovierung wieder präsentieren.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

((ohne Bildttext im Heft))

Im Inneren der Turmruine sind die Spuren der alten Pracht zu erahnen - auch hier aber sind die Narben der Vergangenheit deutlich sichtbar. Die Mosaiken in der Gedenkhalle lassen die Risse bestehen, die die Geschichte gewaltsam in sie hineingekerbt hat; die Bilder bleiben brüchig, der alte Glanz trägt deutliche Makel.

Es ist dieses Anerkennen der deutschen, der kirchlichen Vergangenheit, das eine Annäherung an einstige Feinde ermöglicht hat. Während die Glasfenster der Neubauten von einem Franzosen gestaltet wurden, stammt ein wichtiges Geschenk der alten Gedenkhalle aus England, genauer: aus der Stadt Coventry, die 1940 von den Deutschen zu großen Teilen zerstört wurde - "Coventrieren" nannten die Angreifer ihre Bombenabwürfe damals.

Verschwunden hinter einem Gerüst

1987 überreichte die Gemeinde der Coventry-Kathedrale der Gedächtniskirche ein Nagelkreuz als Zeichen der Versöhnung und der Vergebung; die deutsche Kirchengemeinde ist seither Mitglied der weltweiten, ökumenischen Nagelkreuzgemeinschaft. Und so erleben Besucher an einem Freitagmittag, wie hier, direkt neben dem Kreuz, inmitten der Touristenströme, der Markthallenatmosphäre, neben den prunkvollen Mosaiken der Hohenzollernzeit, dass das Versöhnungsgebet gesprochen wird - es wird zeitgleich auch in der Kathedrale von Conventry gesprochen.

Der Turm, längst zur "Symbolruine" geworden, ist ausgerechnet jetzt, zum 50-jährigen Jubiläum der Kirchweihe, hinter einem Gerüst verschwunden; bis 2012 soll er saniert werden. Die Ruine - für Berliner und Menschen weltweit zum Wahrzeichen der Stadt und zum Mahnmal für Frieden und Versöhnung geworden - ist hinter dieser Fassade, die aussieht wie ein Plattenbau, nicht einmal ansatzweise zu erahnen. "Das gibt einem vielleicht eine Vorstellung davon", meint Pfarrerin Kulawik, "wie unsere Städte aussähen, wenn wir keine Kirchen hätten."

Literatur

Kai Kappel/ Evangelische Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirchengemeinde: Egon Eiermann - Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche 1961/2011, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2011, 80 Seiten, Euro 9,80.

Informationen

Veranstaltungen zum Jubiläum:

"12 Minuten Ewigkeit": bis zum 31. Dezember, Montag bis Freitag, 18.30 und 19 Uhr - thematische Kurzgottesdienste

Am ersten Sonntag im Monat Abendgottesdienste mit Predigten von Menschen des öffentlichen Lebens

Sonderbriefmarke im November

Andachten:

Montag bis Freitag 13 Uhr, 17.30 Uhr, und 18 Uhr, Gottesdienst am Sonntag 10 Uhr und 18 Uhr.

Homepage der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Bach-Chor an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Spendenportal der Stiftung Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Werden Sie Fugenpate!

Text und Fotos: Natascha Gillenberg

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


Ihre Meinung