Den kranken Nachbarn auch

EKD legt neue Denkschrift zur Gesundheitspolitik vor
Zu teuer, zu unübersichtlich? Das Gesundheitswesen in Deutschland.Foto: dpa/CHROMORANGE/Peter Widmann
Zu teuer, zu unübersichtlich? Das Gesundheitswesen in Deutschland.Foto: dpa/CHROMORANGE/Peter Widmann
Privatisierung und Eigenverantwortung: Das Gesundheitswesen in Deutschland steht vor großen Veränderungen. Aus diesem Grund hat die EKD nun eine Denkschrift zur Gesundheitspolitik verfasst. Die Journalistin Eva Richter stellt sie vor, und der Theologieprofessor Hartmut Kress wird sie in der Dezemberausgabe einordnen.

Der Titel ist Programm: "Und unsern kranken Nachbarn auch!" lautet die Überschrift der kürzlich erschienenen neuen Denkschrift der EKD zur Gesundheitspolitik. Der Tenor: Mehr Eigenverantwortung der Bürger ja - aber nur, wenn die Rahmenbedingungen eine gerechte Teilhabe und Befähigung Benachteiligter ermöglichen. Und: Solidarität bleibt ein unverzichtbares Gut. Im Frühjahr 2010 hatte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Ad-hoc-Kommission einberufen, die sich mit den aktuellen Herausforderungen im Gesundheitswesen befassen und Handlungsempfehlungen formulieren sollte. Der Grund dafür war die Sorge vor einem immer weniger solidarischen und zunehmend "vermarktlichten" Gesundheitswesen. Bereits im Herbst 2010 erschien eine erste Orientierungshilfe mit dem Titel "Das Prinzip der Solidarität steht auf dem Spiel". Jetzt hat die Kommission unter Vorsitz des Erlanger Theologieprofessors Peter Dabrock eine umfangreiche Denkschrift vorgelegt.

Zum Hintergrund: Der demografische Wandel und die Weiterentwicklung der Medizin haben die sozialen Sicherungssysteme deutlich verändert. Die Kommissionsmitglieder stellen fest, dass zunehmend auf Wettbewerb, Privatisierung und Eigenverantwortung gesetzt werde, um das Gesundheitssystem finanzierbar und zukunftsfähig zu halten. Hier sei jedoch Augenmaß erforderlich, mahnt der Rat der ekd. Wettbewerb im Gesundheitswesen bedeute nicht nur Preisdruck, sondern erfordere auch Anreize für mehr Qualität und stärkere Bedürfnisorientierung. Wer für Privatisierung und Eigenverantwortung plädiere, so heißt es in der Denkschrift, müsse die Bürger außerdem in die Lage versetzen, eigene Entscheidungen treffen zu können: Dies sei angesichts der herrschenden "Informationsasymmetrie" jedoch kaum möglich, monieren die Verfasser. Versicherte wüssten häufig viel weniger über die Leistungsangebote der Kassen als Ärzte oder Pflegedienstler. Auch sollten benachteiligte Gruppen stärker unterstützt werden, beispielsweise durch Patientenbeauftragte oder Verbandsklagerechte.

Um eigenverantwortlich handeln zu können, benötige der Bürger eine entsprechende generationengerechte Infrastruktur, wie zum Beispiel Mehrgenerationenhäuser oder auch "Betreutes Wohnen". Die Kommunen müssten da her finanziell so ausgestattet werden, dass sie diese vorhalten können. Vor allem gemeindenahe Dienste der Rehabilitation und Assistenz und selbstbestimmte Wohnformen außerhalb von Heimen sollten weiterentwickelt werden.

Um das Gesundheitsbewusstsein der Bürger zu stärken, setzen die Experten eher auf eine Änderung der Verhältnisse als des individuellen Verhaltens: Exemplarisch zeige die Tabakprävention, dass verhaltenspräventive Maßnahmen wie Aufklärung und Widerstandstrainings gegen sozialen Druck enttäuschend geringe Effekte erzielten im Vergleich zu verhältnisbezogenen Maßnahmen wie Steuererhöhungen, Verfügbarkeitsbeschränkungen und Werbeverboten. Die Kommission regt daher an, Politik für einen gewissen Zeitraum auf Strategien der Verhältnisänderung zu konzentrieren, um mehr Effizienz zu erzielen.

Zugleich sei es wichtig, die Rahmenbedingungen, unter denen Menschen leben und arbeiten zu beeinflussen - zum Beispiel durch Förderung "gesunder" Betriebe oder Schulen.

Pflegekräfte stärken

Eine zentrale Rolle wird in der Denkschrift den Leistungserbringern zugewiesen, also Ärzten und Pflegepersonal: Hier fordert der Rat der ekd eine Stärkung der nichtärztlichen Pflege- und Therapieberufe - sie sollten mit einer eigenständigen beruflichen Selbstverwaltung in das Gesundheitswesen eingebunden werden. Eine Option ist die Einrichtung von Pflegekammern.

Um dem drohenden Fachpersonalmangel in der Pflege zu begegnen, empfiehlt die Kommission attraktivere Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, ausreichend entlohnte Beschäftigungsverhältnisse sowie mitarbeiter- und patientenfreundliche Arbeitszeitmodelle. Zur Stärkung der Selbstverwaltung wird angeregt, beim Gemeinsamen Bundesausschuss eine Art Gesundheitsbeirat zu etablieren: Hier könnte öffentlich darüber diskutiert werden, welche Gesundheitsziele in Deutschland als erstes verfolgt werden sollen. Alternativ wäre auch die Einsetzung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages denkbar.

Ausführlich geht die EKD-Denkschrift auf die Weiterentwicklung der Kranken- und Pflegeversicherung ein: Um die Finanzierung zu sichern, sollten auch andere Einkommensarten wie Kapitaleinkünfte in die Beitragsberechnung miteinbezogen werden. Den derzeit geltenden festen Beitragssatz sieht die Kommission kritisch: Die Krankenkassen sollten wieder mehr Spielräume für die Beitragsgestaltung bekommen.

Bei der Pflegeversicherung müsse geprüft werden, ob der Anstieg der Beiträge durch das vorherige Ansparen eines Kapitalvermögens bei den Pflegekassen oder einen gesonderten Fonds gemildert werden kann. Eine ergänzende individuelle kapitalbildende Pflichtversicherung halten die ekd-Experten nicht für sinnvoll.

Dem Systemwettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Versicherung erteilen sie eine Absage. Analog zu den Niederlanden sollte auch hierzulande über eine weitgehende Zusammenfassung von gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen nachgedacht werden.

Abschließend wird in der Denkschrift die Rolle der Kirche im Gesundheitswesen betont: Gesundheit sei nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit, sondern beinhalte vielmehr die Fähigkeit, auch mit Einschränkungen gut zu leben und sorgsam umzugehen. Dies zu vermitteln sei nicht nur Sache der Ärzte und Pflegekräfte, sondern auch eine Aufgabe für Seelsorger: "Die Trennung von wissenschaftlicher Medizin, ökonomisierter Gesundheitswirtschaft und dem geistlichen Leben der Gemeinschaften muss überwunden werden."

LITERATUR

"Und unsern kranken Nachbarn auch!": Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 144 Seiten, Euro 5,99.

Eva Richter

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