Der Tröster kommt

Die Offenkundigkeit des Todes
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"Blumenberg" ist ein Roman, der auf artistische Weise Bildkraft, rhythmischen Fluss, poetischen Ausdruck einerseits und kalkulierte Unstimmigkeiten, rasante Anschlusswechsel und Metaphernzauber andererseits zusammenbringt.

Es gibt keine korrekten Tode. Nur Todesarten. Es gibt unangekündigte Tode, ohne Vorwarnung wie aus dem Nichts heraus. Es gibt geplante Tode, die einen ratlos zurücklassen. Es gibt sanfte Tode, geborgenes Sterben in Demut vor einer Welt, die uns erwartet. Es gibt Tode aus dem Hinterhalt und Mord aus Habgier und Lust. Es gibt verwaltete Tode in Form von Lager, Haft und Arbeit. Wie und wann uns der Tod wie eine Pranke ins Leben greift, das wissen wir nicht. Die Offenkundigkeit des Todes, wie er uns zufällt, wie er unversehens zuschlägt, dieses Thema ist das Leitmotiv eines Romans, den Sibylle Lewitscharoff unter dem lapidaren Titel "Blumenberg" versammelt.

Den tatsächlichen Philosophen Hans Blumenberg, der sich im Namen des Romans versteckt, müssen die Leser nicht kennen. Die Formel aber vom Verlässlichkeitsmangel der Welt, ein Gedanke, der Hans Blumenberg nächtelang verfolgte, und den er in seinen Vorlesungen an der Universität Münster beständig umkreiste, diese Wen dung hat Sibylle Lewitscharoff ihrem eremitischen Philosophen abgelauscht. Gegen den Verlässlichkeitsmangel der Welt setzt Lewitscharoff, wie der Philosoph Blumenberg, auf die schöpferische Kraft der Imagination und die metaphorischen Freiheitsgewinne von Sprache.

Doch zum Inhalt: Der Löwe ist eine "täuschend echte Erscheinung". Eines Tages gesellt er sich zu dem Philosophen, der in nächtlichen Arbeitsstunden ein "sublimes Geistgehäus um sich aufgebaut und sich darin eingesponnen hatte."

Ohne Zweifel, der Löwe ist da. Nur für ihn. Eine "Traumgeburt von unbedingter Präsenz". Mit dem unvermuteten Auftauchen des Löwen hebt der Roman an. Von nun an folgen die Leser dem Experiment, das Lewitscharoff zwischen der Welt der Fakten und dem Kraftstrom der Einbildungskraft aufbaut. Typisch dafür ist das Experiment, das Blumenberg für den Realitätsbeweis des Löwen vornehmen möchte. Blumenberg träumt von einem Projekt, seinen Löwen den Kollegen der Universität vorzuführen.

Mit dem Imaginationswunder des leibhaftigen Löwen verbindet Lewitscharoff ein liebevolles wie diskretes Porträt des Philosophen Hans Blumenberg. Dieses Porträt gelingt, weil Lewitscharoff Blumenberg im Spiegel seiner Wirkungen erscheinen lässt, in den Lebenswegen seiner Studierenden. Alle Wege führen zurück nach Münster. Der Tatort ist der Hörsaal der Universität im Schloss. Blumenbergs Vorlesungen genießen Kultstatus. Auch wegen seiner eigenwilligen Vortragsrhetorik aus Erziehung und Entertainment, die an präzisen Weltbenennungen nicht spart, sich aber bewusst jeder schlussgültigen Konklusion enthält. Hier treffen wir sie alle über den Hörsaal verteilt: Hansi Bitzer, das "Gedichtmonster", Gerhard, ein "Muster an Stabilität", Elisabeth Kurz, nur Isa genannt, die "flackerhaft Unstete", kerzengerade ihrem Bewunderten folgend, und Richard, ein Lümmel, Schwadroneur und Womanizer. In allen wirken Blumenbergs Vorlesungen nach. Alle tragen sich an Projekten, die Blumenbergs Vorlesungen in ihren Gedanken hinterlassen haben. Von hier lässt Lewitscharoff Lebensgeschichten beginnen, bewegt durch Drive und Soul, Musik und Aufmerksamkeit für Kontingenz und Finalität des Lebens.

"Blumenberg" ist ein Roman, der auf artistische Weise Bildkraft, rhythmischen Fluss, poetischen Ausdruck einerseits und kalkulierte Unstimmigkeiten, rasante Anschlusswechsel und Metaphernzauber andererseits zusammenbringt. Sprachspiele, poetische und religionsphilosophische Reflexionsschnipsel, Lokalkolorit, das Abenteuer der Weltbenennung aus vermischten Nachrichten, Todesanzeigen, Protokollen, Sinn für theologische Obertöne: All dies gewinnt bei Lewitscharoff eine Sprachgestalt, die lesbar bleibt und genossen werden kann.

Absonderlich geht es in diesem Roman zu, sonderbar bleiben alle ihre Figuren, seltsam bleibt der Löwe. Was als Rettung erscheint, erweist sich als Täuschung. Was für Täuschung gehalten werden könnte, zeigt sich als Rettung. "Wenn der Tröster kommt, werden wir ihn womöglich nicht einmal erkennen." Gegen den Absolutismus der Wirklichkeit gibt es keinen korrekten Trost. Es sei denn, wir sind nicht ganz bei Trost.

Joachim von Soosten

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