Pietät, Friede, Kultur

Der Friedhofszwang schützt nachhaltig Tote und Lebende
Gruftanlagen auf dem Friedhof Stahnsdorf. Foto: dpa/Hans Joachim Rech
Gruftanlagen auf dem Friedhof Stahnsdorf. Foto: dpa/Hans Joachim Rech
Der Friedhofszwang, die Vorschrift, dass Tote auf Friedhöfen beigesetzt werden müssen, ist umstritten. Doch es gibt gute Gründe für seine Beibehaltung.

In Hamburg besuche ich, wenn möglich, den Ohlsdorfer Friedhof. Er ist - wie ein Park angelegt - eine grüne Oase, und im Mai, wenn die mannshohen Rhododendren blühen, ein Farbenmeer. Aber mich locken nicht nur Flora, Fauna und Stille. Vielmehr zieht es mich auch an das Grab meiner Großeltern mütterlicherseits. Dort liegt auch ein Urgroßvater. Geboren 1847, war er 1938 gestorben, vierzehn Jahre bevor ich zur Welt kam. Aber durch Erzählungen meiner Mutter wuchs mir der Mann ans Herz, der seine Eltern noch mit "Frau Mutter" und "Herr Vater" angeredet hatte. An diese und andere Geschichten aus seinem Leben erinnere ich mich, wenn ich an dem Grab stehe, aber auch an meinen Großvater, den ich kannte und der Journalist war wie ich. Auf dem Grabstein steht noch der Name der Großmutter, aber es fehlt der der Urgroßmutter. Denn sie starb 1933, ein Jahr bevor in Deutschkand der Friedhofszwang eingeführt wurde. So wurde ihre Urne - aus Gründen, die ich nicht kenne - auf dem Feriengrundstück der Familie in der Nordheide beigesetzt. Wollte ich ihre letzte Ruhestätte besuchen, müsste ich den Vetter, der das Ferienhaus geerbt hat, um Erlaubnis fragen. Sie zu bekommen, dürfte kein Problem sein. Aber die Fahrt dorthin ist umständlicher, als die mit S-oder U-Bahn nach Ohlsdorf.

Nun verbindet mich mit der Urgroßmutter weniger als mit dem Urgroßvater. Aber darum geht es nicht, sondern um Probleme, die die Aufhebung des Friedhofszwanges schaffen würde. Wo ein Toter beigesetzt wird, betrifft ja nicht nur diesen und seine engsten lebenden Angehörigen. Auch Freunde, Bekannte und spätere Generationen verspüren das Bedürfnis, das Grab eines Menschen zu besuchen, der ihnen wichtig war und ist. Das können sie nur, wenn die letzte Ruhestätte öffentlich zugänglich ist. Und das ermöglicht der Friedhofszwang.

Heute werden bekanntlich viele Ehen geschieden. Und dabei wird oft genug über Geld gestritten und das Sorgerecht der Kinder. Würde der Friedhofszwang aufgehoben, käme der Streit über Tote hinzu. Lässt der Mann die Urne seiner Mutter wieder ausgraben, wenn er aus dem gemeinsamen Haus auszieht? Oder nehmen wir an, die Urne der Mutter wird beim Haus der Tochter beigesetzt. Irgendwann verkracht sie sich mit ihrem Bruder und will ihn nicht mehr sehen. Dann muss dieser vor Gericht den Zugang zum Grab seiner Mutter erkämpfen.

Die Tübinger Weingärtner, die "Gogen", galten als Grobiane. Das spiegeln auch die Witze, die über sie gemacht wurden. Da hat ein Gog die Urne seiner Frau beim Friedhofsamt abgeholt. Auf dem Heimweg fängt es an zu regnen, und der gefrorene Boden vereist sofort. Der Witwer rutscht immer wieder aus. Schließlich sieht er nur noch einen Ausweg. "'S hilft älles nix, Alte", grummelt er, "aber jetzt wirscht Du gestreut." Der Witz übertreibt wie alle Witze. Aber unfreiwillig erinnert er daran: Nur der Friedhofszwang verhindert einen Missbrauch der sterblichen Überreste eines Menschen. Nur so kann die Totenruhe geschützt werden. Wie soll denn sonst kontrolliert werden, was mit der Asche Verstorbener geschieht. Und wer soll das tun? Es ist schon absurd: Auf der einen Seite nimmt die Zahl der Tierfriedhöfe zu, und auf der anderen soll jeder das Recht bekommen, eine Urne im Garten beizusetzen oder die Asche eines Menschen irgendwo zu verstreuen. Und wer möchte schon einen Minifriedhof auf dem Nachbargrundstück haben, ein Haus mit einem solchen kaufen oder barfuß über eine Wiese mit Totenasche gehen?

Grabsteine erzählen Geschichte(n)

Noch bis in die Fünfzigerjahre wurde in Deutschland die Freiheit des Einzelnen durch Tradition, Religion und gesetzliche Vorschriften über die Maßen eingeschränkt. Heute besteht dagegen die Gefahr, dass Individualismus zum Egoismus verkommt, das Öffentliche dem Privaten geopfert wird und die Gesellschaft zerfällt. Tote werden aus der Öffentlichkeit verdrängt und mit ihnen der Tod. Doch das schadet den Lebenden. Denn erst das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gibt dem Leben Tiefe. Wer sich bewusst macht, dass er sterben muss, lebt bewusster. Und ein Friedhof, genauer: ein Spaziergang auf ihm, erinnert an den Tod. Die Grabsteine erzählen Geschichte(n). Und sie erinnern an eine simple Tatsache, die heute oft vergessen wird: Wir verdanken uns nicht uns selbst, auch nicht nur unseren Eltern, sondern vielen Menschen, ob bekannt oder unbekannt, die vor uns gelebt haben.

Man kann dem Christentum vorwerfen, dass es der menschenfreundlichen Botschaft Jesu immer wieder untreu wurde und wird. Aber diese hat Christen immer wieder daran erinnert, dass jeder Mensch etwas Besonderes, Einmaliges ist. Daher verscharrten Christen die Toten nicht einfach, sondern setzten sie in Gräbern bei, und das heißt: auf Friedhöfen. Diese kulturelle Errungenschaft sollten wir, ob Christ oder Nichtchrist, bewahren. Und das ist nur möglich, wenn die Gesellschaft, genauer: die Landtage am Friedhofszwang festhalten.

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Jürgen Wandel

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