Deutsche Seele

Eine Aufklärungsschrift
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Gegen Kollektivverdammung eines Teiles der Menschheit setzt Şenocak auf Aufklärung, Wissenschaft, Vernunft und Herz. Ein Beitrag dazu leistet sein Buch.

Eigentlich eine Binsenweisheit: Nur wer weiß, wer er ist, und seine eigene Identität annimmt, kann auch andere Menschen annehmen. Nur wer ein ungebrochenes Verhältnis zu sich selbst hat, ist auch in der Lage, ein offenes und unverkrampftes Verhältnis zu Fremden aufbauen.

Mit Blick auf die Deutschen und ihr Verhältnis zu Menschen anderer Herkunft ist das, was hier als Binsenweisheit daherkommt, ein echtes Problem, ja sogar das eigentliche Problem. Weil es den Deutschen nach der Barbarei des Naziregimes, nach der deutschen Teilung und auch nach der Wiedervereinigung kaum gelungen ist, ein positives Verhältnis zu sich selbst und zu ihrem Land zu entwickeln, tun sie sich so schwer (schwerer als die europäischen Nachbarn), Menschen anderer Herkunft willkommen zu heißen. "Denn wer keinen Frieden in sich hat, kann dem anderen auch nicht sicher und gelassen begegnen." So formuliert das Zafer Şenocak in seinem Buch Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, und auf jeder der gut 180 überzeugenden und fesselnden Seiten, auf denen er die deutsche Geschichte und die deutsche Seele erkundet, ist offenkundig: Hier ist einer am Werk, dessen Handwerkszeug die Sprache ist.

Şenocak ist Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer. Deshalb weiß er: Die Sprache ist der Schlüssel zur Kultur eines Volkes. Literatur, Geschichte, Geistesgeschichte - sie alle erschließen sich nur dem Sprachkundigen. Und das Sprachgefühl, so schreibt er, ist der "Kompass zur Heimatfindung". Aber Heimat finden viele Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deutschland nicht - selbst wenn sie in der dritten Generation hier leben, selbst wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Das ist eine traurige Bilanz nach fünfzig Jahren Einwanderung. Nach vielen Forderungen an die Adresse der Migranten ist es jetzt an der Zeit, den Blick selbstkritisch auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu richten. Sie muss sich, wie Şenocak sagt, neu erfinden, auf Verfassungspatriotismus und zivilisatorische Werte setzen, und vor allem muss sie diese emotional erden.

Und das geht nur über die Sprache: "Wir brauchen heilsame Wörter", sagt Şenocak, "Wörter, wie die Wunderlampe Aladins, die auch dann leuchten, wenn sich Finsternis in der Sprache breitmacht."

Zafer Şenocak, vor fünfzig Jahren in Ankara geboren, in Deutschland aufgewachsen und heute in Berlin lebend, ist in zwei Sprachen zuhause und verkörpert auf ideale Weise seine eigene These, dass es nicht nur gelingen kann, in kultureller Vielfalt zu leben, sondern dass es eine Bereicherung ist - für den Einzelnen wie für die ganze Gesellschaft.

"Einheit", "Homogenität" - diese Begriffe entlarvt Şenocak zur Recht als Fantasien der Deutschen, die keinen Anhalt an der Wirklichkeit haben. Eine homogene Gesellschaft hat es in Deutschland nie gegeben. Dass sie dennoch konstruiert wird, nimmt er verständlicherweise nicht ohne Bitterkeit wahr. "Dieser tumbe Identitätsentwurf eines christlich-jüdischen Abendlandes bezweckt nur eines: die Abgrenzung gegenüber dem Islam."

Zu Recht beklagt er auch Tendenzen zu einer Vereinfachung des Menschenbildes. Da wird nicht nach dem Charakter eines Menschen gefragt oder seinen Fähigkeiten: Zuerst wird er dagegen einer Gruppe zugeordnet, wie es beispielsweise der türkischstämmigen niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan geschehen ist.

Gegen solche "Kollektivverdammung eines Teiles der Menschheit aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Glauben" setzt Şenocak auf Aufklärung, Wissenschaft, Vernunft und Herz. Ein Beitrag dazu leistet sein Buch, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.

Zafer Şenocak: Deutschsein. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2011, 190 Seiten, Euro 19,--.

Annemarie Heibrock

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