Der Pop-Aufklärer

Vor 200 Jahren starb der Religionspädagoge Christian Gotthilf Salzmann
Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), Porträt um 1880. Foto: akg-Images
Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), Porträt um 1880. Foto: akg-Images
Christian Gotthilf Salzmann ist nur bei Fachleuten unvergessen - dabei war er einer der energischsten und wirk­mächtigsten Aufklärer, einer, der sowohl mit der Feder als auch als Praktiker ­unermüdlich sein fernes Ziel im Auge behielt: den "Himmel auf Erden" zu schaffen. Rainer Lachmann, Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Bamberg, würdigt ihn.

Bei Salzmanns Abreise aus Erfurt "geschah etwas für die damalige Zeit ganz Besonderes: den Kindern wurden die Haare verschnitten, Mützen und Zöpfe genommen und runde Hütchen aufgesetzt. Der Vater erschien ohne die damals gewöhnliche Amtsperücke - und die Mutter trug statt der Modefrisur ihr natürliches, schön gelocktes Haar", eine sprechende Szene aus den Erinnerungen aus dem Leben Christian Gotthilf Salzmanns, des Gründers der Erziehungsanstalt Schnepfenthal. Den älteren Lesern können da unwillkürlich Erinnerungen an die Achtundsechzigerjahre kommen: Lange Haa­re als Protest gegen den "Muff unter den Talaren", mit aufklärerischem Impetus, emanzipatorischem An­spruch und dem Optimismus, die Gesellschaft grundlegend verändern zu können, wirkungsvoll provozierend in Szene gesetzt.

Die geschilderte Szene verdichtet gleichsam in einer symbolischen Handlung Erfahrungen und Auffassungen, die für Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), sein Leben, Wirken und Werk charakteristisch waren und bis heute bedenkenswert bleiben: Religion, Aufklärung und Erziehung blieben die tragenden Säulen seines Lebenskonzeptes.

Gerade das Jahr 1780 sollte in Salzmanns Leben zum entscheidenden Wendejahr werden. Als Pfarrerssohn 1744 in Sömmerda bei Erfurt geboren, studierte er von 1761 bis 1764 an der Universität Jena evangelische Theologie und bekam 1768 in dem kleinen Dörfchen Rohrborn seine erste Pfarrstelle. 1772 wechselte er nach Erfurt und wirkte hier acht Jahre als Pfarrer an der Andreaskirche. Seine Pfarramtsführung war geprägt durch ein ungemein umtriebiges Engagement auf den verschiedensten Gebieten. Seine Kanzelreden erfreuten sich großen Zulaufs. Um die Schulen in seiner Gemeinde war er gewissenhaft bemüht. Die Seelsorge an seinen Gemeindegliedern nahm er sehr ernst, und nicht zuletzt engagierte er sich über die Maßen diakonisch auf sozialem Gebiet, kümmerte sich um Krankenhäuser und Gefängnisse und kämpfte an allen Fronten gegen das Elend und die grassierende Armut in seiner Gemeinde und der Stadt Erfurt.

"Beyträge zur Aufklärung"

Bei all dem fand Pfarrer Salzmann noch Zeit zum Bücherschreiben. Richtungweisend sind dabei die Titel der Salzmannschen Veröffentlichungen dieser Zeit: "Beyträge zu Aufklärung des menschlichen Verstandes in Predigten (1779)" und dann im Wendejahr 1780 "Anweisung zu einer zwar nicht vernünftigen, aber doch modischen Erziehung der Kinder und Ueber die wirksamsten Mittel Kindern Religion beyzubringen". Im engen Verbund von verstandesmäßiger Aufklärung, vernünftiger Erziehung und lehrbarer Religion sind damit bereits die entscheidenden Lebens- und Lehrthemen markiert, die Salzmanns Wirken und Werk in den kommenden dreißig Jahren maßgeblich bestimmen sollten.

Freilich trugen gerade die beiden Bücher aus dem Jahr 1780 nicht unwesentlich dazu bei, dass Salzmann seinen Pfarrdienst in Erfurt quittierte und von 1781 bis zur Gründung seiner Erziehungsanstalt im thüringischen Schnepfenthal 1784 als Liturg und Religionslehrer an Basedows berühmtem Philanthropin in Dessau tätig wurde. Die Gründe lassen sich unschwer den Titeln der drei in Erfurt veröffentlichten Bücher entnehmen. Zugleich enthalten sie aber bereits in nuce wesentliche Argumente, weshalb es sich auch heute nach zwei­hundert Jahren noch lohnt, sich mit Christian Gotthilf Salzmann zu beschäftigen.

Da ist einmal die aufklärerisch-theologische Aufgeschlossenheit, die Salzmann in Leben und Lehre, pfarramtlicher Praxis und Veröffentlichungen glaubwürdig und tatkräftig vertrat. Ihm ging es vordringlich um ein vorbildli-ches Glaubensleben, um Religion als Angelegenheit des Menschen, um ein tätiges Christentum, das - so weit möglich - dem aufgeklärten Menschenverstand einsichtig gemacht werden konnte. Ziel war dabei eine christliche Gesinnung, die das Elend in der Welt und unter den Menschen nicht negierte, sondern mit allen wirksamen Mitteln bekämpfte.

Auf Rousseaus Spuren

Leibhaftig hatte er Armut an den Dorfbewohnern von Rödichen erfahren, als er dort als Pfarrer, Seelsorger und praktischer Aufklärer wirkte. Hier wurde er theologisch zum Neuerer, zum "Neologen", wie die Anhänger einer dezidiert aufklärerisch ausgerichteten Theologie damals genannt wurden. Das setzte ihn in Gegensatz zu einer orthodoxen lutherischen Theologie, der es vorrangig um die Richtigkeit der Lehre zu tun war. Solcher Orthodoxie begegnete Salzmann auch unter seinen Erfurter Pfarrkollegen. Als er seine aufklärerischen Ansichten und Absichten nicht nur praktizierte, sondern auch noch publizierte, dauerte es nicht lange und er wurde von seinen "rechtgläubigen" Kollegen der Ketzerei bezichtigt.

Wäre der Vorwurf, ketzerischer Neuerer zu sein, für Salzmann eigentlich schon Grund genug gewesen, seine Erfurter Pfarrstelle aufzugeben, so wurde sein pädagogisches Interesse zu einem weiteren Beweggrund, um nach Dessau an das Basedowsche Philanthropin zu wechseln. Denn dieses stand damals nicht von ungefähr im Ruf, die Pflanzstätte zu sein, an der in Deutschland die neue Wissenschaft der "Kinderkenntniß", die Pädagogik, am meisten gepflegt wurde und am besten gedeihen konnte.

Schon in den Siebzigerjahren war Salzmann auf den aufklärerisch-pädagogischen Spuren John Lockes und Jean-Jacques Rousseaus zum begeisterten Jünger der Pädagogik und entschiedenen Kämpfer für das Eigenrecht des Kindes und seines jeweiligen Entwicklungsstandes geworden. Und dabei hatte Salzmann einen großen Vorteil: Er konnte schreiben und seine pädagogische Aufklärungsmission in verständlicher, praxistauglicher und volksnaher Sprache zum Erfolg werden lassen. Erstes Beispiel dafür war eben jene Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder aus dem Jahre 1780, die seinen Ruhm als Pädagoge begründete. Bezeichnenderweise nannte Salzmann die­se Schrift ab der 3. Auflage 1791 Krebs­büchlein, um so mit ironischem Witz die "Rückschrittlichkeit" all der Mittel zu demonstrieren, die er seinen Lesern als Exempel für unvernünftige Erziehung drastisch anschaulich erzählte - beginnend mit "Mitteln, sich bei den Kinder verhaßt zu machen" und endend mit einem "schönen Mittel, seine Kinder zu Krüppeln zu machen".

Das Krebsbüchlein bildete den Auftakt für eine Vielzahl pädagogischer Schriften, die Salzmann noch veröffentlichen sollte. Ihre bekannteste Frucht war zweifellos das Ameisenbüchlein (1806), das nicht nur seine pädagogische Schriftstellerei krönte, sondern als "Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher" auch den Bogen zum Krebsbüchlein zurückschlug - dieses wie jenes lesenswerte Dokumente eines aufklärerischen Pädagogen, der fest davon überzeugt war, durch Belehrung und Erziehung die Menschen bessern und vervollkommnen zu können. Dass Salzmann so die neue Wissenschaft Pädagogik im wahrsten Sinne des Wortes populär gemacht hat, bleibt sein Verdienst.

"Religion beyzubringen"

Wenn auch häufig im Schatten des pädagogischen Ruhms und Erinnerns steh­end und übersehen, kommt schließlich dem dritten Grund für Salzmanns Wechsel an Basedows Dessauer Philanthropin zentrale Bedeutung für sein Gesamtwirken und -werk zu: der Kritik seiner orthodoxen Kollegen an seiner religionspädagogischen Schrift "Ueber die wirksamsten Mittel Kindern Religion beyzubringen". Vor allem an ihr entzündete sich in theologischer und katechetischer Hinsicht der Ketzereivorwurf. Und der traf Salzmann bis ins Mark. Denn in seiner Religionspädagogik fanden seine Auffassungen von Religion und Erziehung als Garanten und Mittel für einen wirksamen Religionsunterricht zusammen. Hier zählten jetzt nicht mehr nur die (Katechismus-)Stoffe und ihre Richtigkeit und Vollständigkeit, sondern mussten die Kinder in ihrer Kräfteentwicklung berücksichtigt werden. Das hatte einen Religionsunterricht mit neuen Inhalten und kindgemäßen Methoden zur Folge - Salzmann entwickelte als erster eine regelrechte Theorie des Erzählens.

Bei aller, besonders theologischen, Zeitbedingtheit der Salzmannschen Auffassungen sind hier zweifellos die Wurzeln moderner Religionspädagogik angelegt, wonach ein Religionsunterricht stets sowohl theologisch wie pädagogisch verantwortet werden muss. Dass eine so verstandene Religionspädagogik ein unverzichtbares Wesenselement von Salzmanns Pädagogik ausmachte, zeigt sich nicht nur daran, dass er bis zuletzt selbst Religionsunterricht erteilte, sondern auch an der Vielzahl religiös und religionspädagogisch thematisierter Schriften (knapp die Hälfte) beteiligt war. Für jeden der von ihm unterschiedenen Grade des Religionsunterrichts verfasste Salzmann ein eigenes Religionsbuch. Das letzte, "Unterricht in der christlichen Religion", 1808, drei Jahre vor seinem Tod geschrieben, spannt, wie in pädagogischer Hinsicht das Ameisenbüchlein, seinen Bogen religionspädagogisch zurück zu seinem ­religionsunterrichtlichen Grundlagenwerk aus dem markanten Schwellenjahr 1780.

Bis heute fruchtbar

Salzmann blieb nur vier Jahre an Basedows Dessauer Philanthropin, dann gründete er - wie zuvor publikumswirksam angekündigt - 1784 seine eigene Erziehungsanstalt Schnepfenthal. Schön und pädagogisch passgenau an den Ausläufern des Thüringer Waldes in der Nähe von Friedrichroda gelegen, ist Schnepfenthal bis heute nicht nur aus landschaftlichen Gründen einen Besuch wert. Mit ihr verwirklichte Salzmann seine (religions-) pädagogischen Ideen und Vorstellungen in geradezu genialer Weise. Dabei bewies er ein so hohes Maß an vernünftigem Realismus und praktischer Tauglichkeit, dass die Erziehungsanstalt Schnepfenthal bis weit über Salzmanns Tod hinaus Bestand hatte. Sogar heute lebt die Schnepfenthaler Tradition - unterbrochen durch Nazizeit und ddr - in der neuen "Salzmannschule Schnepfenthal" als "Spe­zialgymnasium für Sprachen" weiter.

Bewusst auf das Land verlegt und familienmäßig strukturiert baute Salzmann seine Erziehungsanstalt genau nach dem angekündigten pädagogischen Plan aus. Es dauerte nicht lange, da erfreute sie sich, nicht zuletzt we­gen ihrer sehr tüchtigen Lehrer, wie J. C. F. GutsMuths oder J. M. Bechstein, großen Zulaufs und eines Rufes, der sie für die damalige pädagogische Welt geradezu zur Pilgerstätte werden ließ und eine Wirkungsgeschichte anstieß, die bis in die Reformpädagogik und die Landerziehungsheim-Bewegung reichte.

Reisen mit der "Schulfamilie"

Bis zu seinem Tod war Salzmann Spiritus Rector, leitender und treibender Geist des ganzen Schnepfenthaler Erziehungsbetriebs und wirkte als Bauherr, Erzieher, Lehrer, Geistlicher und Schriftsteller in den verschiedensten Ämtern und Funktionen. Am wichtigsten blieb ihm dabei zeitlebens seine von praktischem Verstand geleitete erzieherische Arbeit vor Ort. Er sorgte wochentags für den regelmäßigen Unterricht in den verschiedenen Fächern, veranstaltete Feste und Feiern, musizierte mit den Zöglingen und machte mit seiner "Schulfamilie" immer wieder Wanderungen und Bildungsreisen. Mit besonderem Engagement kümmerte er sich um den Religionsunterricht, die täglichen Morgenandachten und die sonntäglichen Gottesverehrungen im Schnepfenthaler Betsaal, die in der Regel von ihm persönlich gehalten und teilweise auch gesammelt veröffentlicht wurden.

Daneben fand er - meist in den ganz frühen Morgenstunden - noch Zeit für eine ausgedehnte volksaufklärerische Schriftstellerei, der er mit großer Fabulierkunst bis ins letzte Jahr seines Lebens frönte. Hier begnügte er sich keineswegs mit trockener Belehrung und Moral, sondern spielte immer wieder virtuos und fesselnd auf den Saiten menschlicher Gefühle und Rührseligkeiten. Erstmals bewies Salzmann diese Kunst in seinem großen sechsteiligen Briefroman "Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend" (1783-1788), in dem er sein Lebensthema besang. Der Roman fand große Beachtung, erfuhr aber auch Spott, nicht zuletzt durch Schiller, der ihn mit dem Vers bedachte: "Was verdient der berühmte Verf. des Menschlichen Elends? Sich in der Charité gratis verköstigt zu sehen." Das verlagerte Salzmanns Erzähltalent mehr und mehr auf das Genre des volkstümlichen Romans. Die von ihm seit 1788 in Schnepfenthal herausgegebene Zeitschrift Der Bote aus Thüringen gab dazu das geeignete Veröffentlichungsforum ab und beschenkte seine Leser nach und nach mit zehn romanhaft gestalteten Lebensgeschichten.

Himmel statt Hölle

Schon der Titel der ersten Erzählung Sebastian Kluges Lebensgeschichte (1789/1790) lässt das unverhohlene aufklärerische Interesse deutlich werden, das alle diese Volksschriften leitete. Wer sie liest, und das kann nur jedem empfohlen werden, der Salzmann auf unterhaltsame Weise kennenlernen möchte, bekommt es im wahrsten und besten Sinne mit einer populären Aufklärung, sozusagen einer "Pop-Aufklärung" zu tun, die man in ihrer Alltagstauglichkeit nicht verachten sollte. Salzmanns romanhaft verpackter aufklärerischer Appell zu vernünftigem Handeln und Erziehen, gepaart mit der Hoffnung, dadurch die Menschen wirklich bessern zu können, darf nicht zu schnell mit dem Verweis auf die moralisch-rationalistische Penetranz und den naiven Optimismus dieser Pop-Aufklärung abgetan werden.

Mit seinem Glauben an Gott, den Freund des Menschen, und an Jesus, den "Himmel auf Erden", setzte Salzmann sich zeitlebens glaubwürdig und tatkräftig dafür ein, durch Aufklärung, Erziehung und religiöse Unterweisung seine Welt und Gesellschaft ein Stück weit zum "Himmel auf Erden" (Schnepfenthal 1797) werden zu lassen. Diese aufklärerische Utopie, war himmelweit besser als "Die Hölle auf Erden" (Leipzig 1802), die der aufklärerische Enzyklopädist Johann Gottfried Gruber meinte der Salzmannschen Hoffnungsgeschichte entgegenstellen zu müssen.

Rainer Lachmann

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