Praxisnähe

Von Bestattung bis Trauung
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Kristian Fechtners Hauptinteresse gilt der Deutung von Lebenswelt und -geschichte. Seinen Anspruch auf eine zugleich theologisch verantwortete Kasualgestaltung löst er hingegen nur teilweise ein.

Die Welt ist das, was der Fall ist", stellte Ludwig Wittgenstein lakonisch fest. Doch für Kirche trifft dieser Satz nicht ohne Weiteres zu. Sie ist ein Sonderfall, der sich nicht von selbst versteht. Kristian Fechtner, der in Mainz Praktische Theologie lehrt, untersucht den Fall Kirche. Genauer: jene Fälle, die für viele den Normalfall von Kirche darstellen, die so genannten Kasualien. Bestattung, Taufe, Konfirmation, Trauung - so lautet die Reihenfolge, in der Fechtner sie erkundet, geordnet nach dem Rang ihrer Breitenwirkung und lebensdeutenden Unverzichtbarkeit. Zusätzlich nennt er als "neue Kasualien" die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, die Goldene Konfirmation als "Schritt ins Dritte Alter" sowie den Gottesdienst zur Einschulung.

Beschreibung, Analyse und Bewertung all dieser Fälle gelingen ihm in der Neuauflage seines Buchs ohne Wissenschaftsballast, in erfreulich klarer Diktion, großer Praxisnähe und übersichtlicher Gliederung. Seine Zielgruppe, die unter notorischer Zeitnot leidende Pfarrerschaft, wird es ihm danken.

Im Folgenden widmet sich die Rezension nicht so sehr den vielfältig nützlichen Einzelbeobachtungen, zum Beispiel zu Privatheit und Öffentlichkeit bei der Bestattung, zum Friedwald-Konzept oder zur pastoralen Verlegenheit bei Trauungen, sondern um konzeptionelle Grundlinien. Als Vertreter einer am Individuum orientierten Kulturtheologie repräsentiert Fechtner wesentliche Positionen im praktisch-theologischen Diskurs der Gegenwart. So etwa die These, die "KuK-Religiosität", also die der Kasualien und Kirchenjahresfeste, sei gegenüber einem gemeindeorientierten Kirchenverständnis nicht als defizient anzusehen, sondern im Gegenteil als langfristig stabiler Ausdruck gelebter Kirchlichkeit. Individuum, Pfarrerrolle, Lebensgeschichte und Kirche würden bei Kasualfeiern zwar spannungsreich, letztlich aber doch integrierend aufeinander bezogen. Der Bezug auf Ritualtheorien bleibe maßgeblich, auch wenn es sich im Einzelfall längst nicht immer um unmittelbare Lebenskrisen- oder Übergangsbegleitungen handele. Einer Verzwecklichung von Kasualien - und sei sie auch emanzipativ gemeint - müsse widersprochen werden. Dass die Selbstverständlichkeit der Kasualteilnahme sinkt und die Zahl der Konkurrenzanbieter steigt, wird zwar benannt, aber nur als Herausforderung an die kirchliche Kasualkultur begriffen, nicht als Anfrage an ein kasualzentriertes Kirchenbild selbst.

Fechtners Hauptinteresse gilt der Deutung von Lebenswelt und -geschichte. Seinen Anspruch auf eine zugleich theologisch verantwortete Kasualgestaltung löst er hingegen nur teilweise ein. Zwar liegt ihm daran, Wilhelm Gräbs Diktum der "Rechtfertigung von Lebensgeschichten" vor der kurzschlüssigen Lesart zu bewahren: "Rechtfertigung identifiziert das Ich nicht im Akt der Selbstbehauptung, in der sich hinterrücks das Subjekt verhärtet. Die Identität des Selbst beruht nicht auf dem, was ich in Gestalt meiner Biographie aus mir mache." Widersprüche werden nicht überspielt, sondern in ihnen bleibt der Mensch "auf Gott verwiesen".

So weit, so gut. Doch wie geschieht dieser Verweis auf Gott konkret? Wie kommt denn das Heil zur Sprache? Was ist das Widerlager zur religiösen, gesellschaftlichen und biographischen Fragmentierung des Individuums? Hier wäre von biblisch-reformatorischen "Essentials" zu sprechen: von der Person Jesu Christi, vom Wort Gottes, vom antwortenden Glauben des Einzelnen wie auch der Gemeinde. Doch leider kommen Fechtners Fallstudien komplett ohne diese Grundgrößen aus. Es bleibt bei einer diffusen Rede von "religiösem Bedeutungsgewebe" und "vorbehaltloser Liebe Gottes". Medium und Gehalt fließen ineinander, die Kasualpredigt kommt fast nur in ihren Verfallsformen zur Sprache. Was Kasualien über private Frömmigkeit hinaushebe, seien der Kirchenraum, das gottesdienstliche Ritual und das Amt. Mehr nicht? Wäre das alles, dann würden sich in diesem Punkt spätmoderner Kulturprotestantismus und römischer Katholizismus die Hand reichen.

Die Gretchenfrage zur Praxistheorie von Kirche und Kasualien aber lautet: Wie steht es mit der Nachhaltigkeit? Besteht der Anspruch mit Fechtner doch darin, dass "die Sinngehalte des christlichen Glaubens auf das Ganze des gelebten Lebens hin geltend gemacht werden". Wie kann dies in lebensprägender Weise geschehen, wenn es bei "Kirche von Fall zu Fall" bleibt? Der Autor selbst benennt in seiner Schlussbemerkung das Problem: "Eine festzeit- und feiertagsorientierte Religiosität verliert Unterboden, wo sie nichts mehr in den Alltag einzuspeisen vermag." Solange wir es nicht gegen den praktisch-theologischen Trend wagen, von einer "prinzipiellen Gemeindlichkeit der Kirche" (Paul Zulehner) zu sprechen, wird es dabei wohl meistens bleiben.

Kristian Fechtner: Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten. Gütersloher Verlagshaus, Güterslohg 2011, 207 Seiten, Euro 16,95.

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Martin Abraham

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