Diskretes Christentum

Die Volkskirche ermöglicht ihren Mitgliedern Distanz und Eigensinn
Typisch Volkskirche: Gottesdienst zur Konstitutierung des Bundestages vor zwei Jahren. Abgeordnete sprechen Fürbitten. Foto: epd/A. Schoetzel
Typisch Volkskirche: Gottesdienst zur Konstitutierung des Bundestages vor zwei Jahren. Abgeordnete sprechen Fürbitten. Foto: epd/A. Schoetzel
Aufgrund äußerer Umstände muss sich die Volkskirche verändern. Aber auch in einer postsäkularen Gesellschaft hat sie viele Aufgaben. Kristian Fechtner, der an der ­Universität Mainz Praktische Theologie lehrt, zeigt warum.

Die Zeit der Volkskirche währt länger, als manche Kritiker ihr eingeräumt haben. Schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert wird von ihr programmatisch Abschied genommen. Aber längst vorher war bereits von ihrem Ende gesprochen worden. Und in der Tat: Versteht man unter Volkskirche eine Form des Christentums, das die ganze Gesellschaft umfasst und das gesamte kulturelle Leben fundiert, bewegen wir uns in nachvolkskirchlichen Zeiten. Denn es ist heute alles andere als selbstverständlich, mit der Kirche verbunden zu sein. Und viele Lebensbereiche sind längst nicht mehr eine kirchliche Domäne. Schon 1918 stellte der praktische Theologe Friedrich Niebergall (1866-1932) fest: "Darum kann vorläufig der Sinn des Wortes Volkskirche nur der sein: nicht die Kirche, die das ganze Volk umfasst, sondern eine Kirche, die sich auch der Aufgaben des Volkslebens annimmt."

Der Begriff "Volkskirche" ist gar nicht so traditionsbestimmt, wie es den Anschein hat. Er kommt im 19. Jahrhundert auf und zieht sich durch die Diskussionen des 20. Jahrhunderts. Er ist eine Reaktion auf die Moderne, in der sich Stellung und Bedeutung von Kirche und Religion grundlegend verwandeln. Die Rede von der Volkskirche speist sich gerade aus dem Bewusstsein: Kirche, Staat und Gesellschaft, kirchliche Religion, öffentliches Leben und persönliche Lebensführung fallen nicht mehr zusammen, sondern treten auseinander und sind nun eigenständige Sphären.

Pluralistische Gesellschaft

Das kirchliche Christentum bewegt sich fortan und bis heute in einer pluralistischen Gesellschaft. Und es ist auch in sich selbst plural verfasst. Es gibt Raum für unterschiedliche Frömmigkeits- und Lebensstile und kann sich nicht mehr autoritativ gegenüber dem Staat, in der Gesellschaft und im Blick auf die Einzelnen verbindlich machen.

Der Berliner Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) verwendet vermutlich zum ersten Mal den Ausdruck "Volkskirche". Er wendet sich damit gegen eine Kirche, die der Staat "beaufsichtigt und bevormundet". Und heute gilt: Die Kirche kann ihren Auftrag, das Evangelium zu kommunizieren, in der Öffentlichkeit nicht mehr als Anspruch durchsetzen, sondern muss ihn diskursiv vertreten. Und als offene Volkskirche erfüllt sie ihre Aufgabe, indem sie vielgestaltige lebensweltliche Zugänge eröffnet und Menschen höchst unterschiedlich biographisch und situativ an christlicher Religion teilhaben lässt.

Sich für ein volkskirchliches Christentum stark zu ma­chen, liegt nicht im Trend, ja als konzeptionelles Leitmotiv wirkt es eher schwach und defensiv. Kritikerinnen und Kritiker nehmen das volkskirchliche Christentum gerne als Negativfolie und profilieren im Gegenzug ihre eigenen Vorstellungen: Die Volkskirche soll freikirchlicher werden und verbindliche Lebens- und Glaubensformen ausbilden. Sie soll - je nach eigenem Anliegen - Bekenntnis- oder Beteiligungskirche werden.

In der Tat bemisst sich die Zugehörigkeit zum volkskirchlichen Christentum nicht daran, einem freikirchlich geprägten oder evangelikal getönten Lebens- und Glaubensstil zu folgen. Denn in der Volkskirche bewegen sich die persönlichen Glaubensüberzeugungen zum Teil sehr frei- und eigensinnig im Kontext des kirchlichen Bekenntnisses. Und die Beteiligung am kirchlichen Leben wird individuell und milieuspezifisch höchst unterschiedlich praktiziert. In praktisch-theologischer Sicht steht die Rede von der Volkskirche dafür, dass die "Selbständigkeit des Glaubens als Horizont kirchlicher Praxis" gilt und gelten soll, wie es der praktische Theologe Jan Hermelink (Göttingen) ausdrückt. Die Freiheit eines Christenmenschen ist also das unveräußerliche Maß der Volkskirche.

Christentum der Spätmoderne

Die Rede von der Volkskirche verweist auf die gegebenen und vielfach gelebten Formen unseres Kirchentums. Und dabei muss man zwei Aspekte unterscheiden: Volkskirche umschreibt in einem ersten Sinne die organisatorische Verfassung des (evangelischen) Christentums, wie sie sich seit dem Ende staatskirchlicher Verhältnisse in Deutschland herausgebildet hat. Es handelt sich also um einen Strukturbegriff. In Deutschland gehören zwei Drittel der Bevölkerung, in etwa gleichen Anteilen, einer der beiden Großkirchen an. Und rund ein Drittel sind Konfessionslose oder Angehörige einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft.

Die Kirchenmitgliedschaft beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, wobei die Kindertaufe noch immer vorherrschend ist. Als selbstständige Organisation ist die evangelische Kirche nach eigenen Maßgaben verfasst, und zugleich ist sie Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in der sie durch historisch überlieferte Einrichtungen und einen besonderen Rechtsstatus gestützt wird. Als "Körperschaft des öffentlichen Rechts" ist sie mit besonderen Aufgaben betraut, die sie kooperativ gestaltet und eigenständig verantwortet: So erhebt sie - als Mitgliedschaftspflicht - Kirchensteuern, und der konfessionelle Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen findet in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen statt. Dann unterhält die evangelische Kirche - durch die öffentliche Hand mitfinanziert - Schulen, Kindergärten und diakonische Einrichtungen. Die evangelischen Landeskirchen bauen sich durch synodale Vertretungen gleichsam von unten nach oben auf, wobei die verschiedenen Landeskirchen je nach konfessioneller Tradition ein bischöfliches oder ein präsidiales Leitungsamt kennen. Und jenseits der Ortsgemeinden haben sich weitere Formen kirchlicher Arbeit ausgebildet und etabliert, die Seelsorge in Institutionen wie Krankenhäusern, durch Beratungsstellen, und am Urlaubsort, in den Citykirchen und bei der Arbeit mit Zielgruppen wie Jugendlichen und Frauen.

Zugleich kennzeichnet der Begriff Volkskirche in einem zweiten Sinne eine bestimmte Mentalität und Praxis. Er umreißt ein kirchliches Mitgliedschaftsbewusstsein und -verhalten, das dem evangelischen Christentum der Moderne - und forciert in der Spätmoderne - zu eigen ist. Die differenzierten Formen gelebter Volkskirchlichkeit sind in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere durch Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen konturiert worden, zuletzt, vor fünf Jahren, in der vierten EKD-Erhebung "Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge".

Nach wie vor hat die Zugehörigkeit zur Kirche einen deutlich familiär geprägten Hintergrund. Er bildet sich im Rahmen religiöser Sozialisation - in Familie, Kindergarten, Religions und Konfirmationsunterricht - biographisch aus, wobei die Kirchenmitgliedschaft dann individuell sehr verschieden praktiziert wird. Innerhalb des volkskirchlichen Christentums sind Menschen ihrer Kirche sehr unterschiedlich verbunden. Gut ein Drittel der Kirchenmitglieder fühlt sich ihr sehr oder ziemlich, gut ein Drittel etwas und gut ein Viertel kaum oder überhaupt nicht verbunden. Offenbar ist die Spannweite zwischen Nähe und Ab­stand ein Signum der Volkskirche. Und die Proportionen der Verbundenheit sind in den vergangenen vier Jahrzehnten trotz zeitweise erheblicher Kirchenaustritte annähernd gleich geblieben.

Partielle Identifikation

Sich zur Kirche zu halten, bedeutet mehrheitlich, sich zu ihr distanziert zu verhalten. Volkskirchlichkeit beruht also weithin auf partieller Identifikation. Zur Kirche kann man gehören, weil und insofern sie Distanzen ermöglicht. Und das betrifft nicht nur die inneren Empfindungen, sondern auch das Verhältnis zur kirchlichen Lehre und die Teilhabe an kirchlicher Praxis. Aus der Perspektive kirchlich formulierter Theologie und christlicher Traditionssprache er­scheinen die Glaubenseinstellungen der Kirchenmitglieder vielfach unbestimmt und die religiösen Vorstellungen diffus.

Aus dem Blickwinkel dieser Mitglieder erscheint es allerdings gerade umgekehrt: Theologische Sätze sind für sich gesehen abstrakt und im Blick auf eigenes Erleben oder eigene Erfahrungen un­be­stimmt. Erst wo sie sich le­bensdeutend konkretisieren, gewinnen sie an Bedeutung. In diesem Spannungsfeld be­kommen vor allem die Schnittstellen von kirchlichem Handeln und individueller Le­bensgeschichte eine zentrale Stellung. Volkskirchlichkeit ist wesentlich Kasualkirchlichkeit. Das heißt: Kirche wird bei bestimmten Anlässen, casus, in Anspruch genommen, bei Gottesdiensten zu Tau­fe, Konfirmation, Trauung, Bestattung, Einschulung, Konfirmations- und Ehejubiläum. Und dazu kommen jahres­zyklisch Erntedank, Totensonntag und Weihnachten. Zur le­bensweltlichen Präsenz und Zugänglichkeit des volkskirchlichen Christentums gehören aber auch die dichteren, vereinskirchlichen Teilhabeformen insbesondere der Ortsgemeinden, auch für diejenigen, die sich persönlich daran nicht beteiligen. Sie repräsentieren Kirche, in der Nachbarschaft und im Ort zum Beispiel durch Gemeindefeste

Vor dem Hintergrund beider Aspekte volkskirchlichen Christentums - der organisatorischen Struktur und dem Charakter gelebter Kirchlichkeit - wird ersichtlich: Religion und Kirche verändern sich stetig, aber entgegen manchen unternehmerischen Hauruck-Phantasien in langen Wellen und einer nachhaltigen Praxis. Sich zu vergegenwärtigen, dass wir Kirche nach wie vor aus ihren volkskirchlichen Kräften und Ressourcen heraus gestalten, unterschlägt nicht, dass das zeitgenössische Christentum Traditionsabbrüchen unterliegt und dass sich grundlegende Veränderungen anbahnen.

Volkskirche im Übergang

Mindestens in zweifacher Hinsicht wird man heute von einer Volkskirche im Übergang sprechen müssen: Erstens dünnen sich die volkskirchlichen Strukturen der evangelischen Kirchen aus, soweit sie auf einem flächendeckenden System von Parochien, Ortsgemeinden, beruhen. Die Präsenz der Kirche am Ort und in der Region, in der Stadt und auf dem Land, in der öffentlichen Sphäre und im nachbarschaftlichen Miteinander, muss im sensiblen Umbau, auch Rückbau, unter sich wandelnden Bedingungen differenziert gestaltet werden. Und das ist keine geringe Leitungsaufgabe.

Zweitens verändert sich seit geraumer Zeit das Bewusstsein, der Kirche zuzugehören. Es befindet sich im Übergang zwischen institutionalisierter Selbstverständlichkeit und individueller Entscheidung. Wenn Kirche mehr und mehr als Organisation begriffen wird, dann werden Zugehörigkeit und Teilhabe von den Beteiligten wie den Verantwortlichen als etwas angesehen, wofür und wogegen sich Menschen bewusst entscheiden.

Kirche bewegt sich bis auf Weiteres in diesem spannungsvollen Übergang und hat ihn so zu gestalten, dass die Menschen ihrer eigenen Kirchenbindung immer wieder neu gewahr werden. Im Zuge der Reformprogramme zeigen sich bei den Beteiligten mehr und mehr Ermüdungsbrüche. Denn das Pathos der Veränderung verbraucht sich schnell. Es würde die Menschen entlasten, spräche man nicht nur von Gemeindeaufbau, -entwicklung und -wachstum, sondern auch von Gemeindepflege. Zu pflegen wäre das Herzstück gelebter Volkskirchlichkeit, die gottesdienstliche Begleitung von Menschen bei wichtigen Ereignissen in ihren persönlichen Leben und bei wichtigen Festen im Kirchenjahr.

Statthalterin des Religiösen

Wer der Volkskirche auf Zukunft hin etwas abgewinnen will, wird heute zwei Dimensionen akzentuieren: In der "postsäkularen Gesellschaft", die der Philosoph Jürgen Habermas konstatiert hat, ist die Volkskirche als öffentlicher Akteur wichtig, nicht nur, aber in besonderer Weise im Blick auf die verwundbaren Bereiche des Gemeinwesens. Sie ist nach wie vor Statthalterin des Religiösen, wenn sie das Wort von der Versöhnung auch in unversöhnten Verhältnissen und die Botschaft von der freien Gnade Gottes öffentlich an alles Volk ausrichtet Bei den Amokläufen in Erfurt und Winnenden und nach dem Love-Paraden-Unglück in Duisburg war das erschütterte Gemeinwesen liturgiebedürftig.

Das ist das eine. Und das andere ist: Lebensweltlich steht die Volkskirche für ein diskretes Christentum, das ermöglicht, sich zur Kirche zu halten, indem man sich distanziert zur ihr verhält. Das diskrete Christentum ist gleichsam die religionskulturelle Innenseite des volkskirchlichen Christentums. In einer Kultur der Aufdringlichkeit erscheint es im­mer auch als Schonraum einer Religiosität, in der die Grenzen der Scham sorgsam gewahrt werden. Es erlaubt, Religion auch in Halbdistanz und mit Vorbehalt zu leben, vielfältig, situativ und, ja auch - eigensinnig.

Literatur:

Kristian Fechtner: Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2010, 173 Seiten, Euro 25,-.

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Kristian Fechtner

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