Muttermal

Jesus und Maria - gecovert
Lassen sich alte Mythen covern? Walser kann es. In "Muttersohn" spielt Walser brillant und im besten Sinne humorvoll mit dem religiösen Fundus der Sprache und auch mit dem theologischen Besteck.

Ist Kunst Glaubenssache? Ja, ganz entschieden, sofern Kunst zuständig ist für die mythologische Klammer unserer Lebenswelt. Und sie ist es in höherer Potenz, sofern sie alte Mythen ganz transparent lebensweltlich covert. So geschehen in Martin Walsers jüngstem Roman Muttersohn. Er hätte auch Muttermal heißen können, denn was kann aus einem Sohn werden, den die Mutter Josefine, gelernte Schneiderin, "Engel ohne Flügel" nennt und die lebenslang beteuert, für die Zeugung sei kein Mann nötig gewesen - auch kein Reagenzglas. Dieser Sohn, Anton Percy Schlugen, wird Krankenpfleger in einem psychiatrischen Landeskrankenhaus, gefördert von dem herrlich verschrobenen Anstaltsleiter Professor Feinlein, der an einem Buch schreibt, das die Reliquien gegen ihre Erklärer verteidigen will.

Percy ist Spezialist für den Seelentrott, er geht oft mit den Patienten schweigend Runden, bis er anfängt Texte aufzusagen, in die die Patienten einstimmen. Eine Sorgenabfuhr nach oben. Erfolgreich ist Percy auch mit seinen inzwischen berühmten predigtnahen Reden, die er unvorbereitet hält, immer auf Einfälle senkrecht von oben bauend. "Ich, liebe Leute, stelle mich vor euch hin, mache den Mund auf und zu und bin gespannt, was der Mund jetzt wieder sagen wird." Mit Sätzen wie: "Glauben kann nur, wer erlebt hat, dass an ihn geglaubt wird" oder: "Der Glaube, das ist die Handschrift der Seele", bestreitet Percy eine Talkshow - diese Passage ist ein Kabinettstück im Roman.

Auf Seite 185 endet dieser Roman zunächst, eingeschaltet wird die etwas routiniert geschriebene Lebensgeschichte eines Suizid gefährdeten Motorradlehrers, Edwald Kainz, der, so die Verbindung zum vorigen Romanteil, einmal Percys Mutter während einer politischen Rede so sehr imponiert hat, dass sie ihm Liebesbriefe schrieb, die sie nicht abschickte. Ein dritter Teil - bereits als Sonderdruck ein Jahr vorher publiziert - erzählt die pikareske Altersgrille des alten Anstaltsdirektors. Im letzten Teil nimmt der Roman Fahrt auf. Die Motorradgang von Edwald Kainz ist inzwischen zur Bad Group mutiert, und nicht zufällig ist es der neue Leiter, Katze gerufen, der - so die letzte Nachricht - Percy erschießt.

Brillant und im besten Sinne humorvoll spielt Walser mit dem religiösen Fundus der Sprache und auch mit dem theologischen Besteck. Sprachlich findet er eine Form, die die Schwere der Leitvokabel "geleitet" emporhebt und ins Schweben bringt. Eine Metaphysik des Schwebens. Manchmal wirkt es so, als würde Walser wie sein Protagonist einfach den Mund aufmachen und schreiben, was der Mund ihm sagt. Das ist Illusionskunst par excellence.

Lassen sich alte Mythen covern? Walser kann es.

Martin Walser: Muttersohn. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011, 512 Seiten, Euro 24,95.

Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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