Unbekanntes Gelände

Die Europäische Union ist die einzige transnationale Demokratie der Welt
In Rom wurden wichtige europäische Verträge unterzeichnet. Im Bild das Kapitol. Foto: dpa
In Rom wurden wichtige europäische Verträge unterzeichnet. Im Bild das Kapitol. Foto: dpa
Viele Deutsche träumen immer noch von einem "Kuscheleuropa", beobachtet Klaus Hänsch, Altpräsident des EU-Parlamentes. Der Sozialdemokrat begründet, warum die EU notwendig ist. Und für die Eurozone fordert er eine Wirtschaftsregierung.

Ein Gespenst geht um in Europa. Der Volksmund und viele seiner medienpräsenten wissenschaftlichen Vorbeter nennen es "Brüsseler Bürokratie", einen "Moloch", der unersättlich nationalstaatliche Kompetenzen verschlingt. Der aufgeklärte Teil der öffentlichen Meinung, von Altbundespräsident Roman Herzog über die vielen Warnungen und Verrisse solcher, die neuerdings schon immer glühende Anhänger der Einigung Europas gewesen sein wollen, bis zum EU-Wutschriftsteller Hans Magnus Enzensberger, sieht das Gespenst in Brüssel als verdeckte "Kompetenzaneignung" und "Entmündigung der Bürger" durch verschlossene Amtsstuben schleichen. Die Union auf dem Weg in den Zentralstaat. Soweit der Geist.

Die reale EU-Zentralität Ende Juli 2011 sah so aus: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy managen den Sondergipfel, der Griechenland vor der Pleite und den Euro vor Schaden zu schützen soll. Herman van Rompuy, Präsident des Europäischen Rates, und Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, assistieren im Hintergrund. Tags darauf beschließen die siebzehn Eurostaaten in Brüssel das deutsch-französische Rettungspaket: Wie viel deutsch-französische Zentralität erträgt die Union? Mancher unserer Partner fühlte sich in mehr Unionszentralität besser aufgehoben.

Mehr als eine Bundesrepublik Europa

Ein europäischer Zentralstaat als Wille und Vorstellung existiert höchstens in komplett verwirrten Geistern. Die europäischen Staaten in ihrer sprachlich unaufgebbaren, historisch gefestigten und mental gelebten Vielfalt werden immer mehr sein als nur Gliedstaaten einer "Bundesrepublik Europa". Die Existenzfragen der Union werden in den Mitgliedstaaten entschieden. Die Verträge von Rom bis Lissabon geben nichts anderes her und nichts anderes vor. Das gilt auch für das Maß an Zentralisierung, das der Union zugebilligt wird, damit sie die ihr übertragenen Aufgaben erfüllen kann.

Sicher, Rat und Parlament in Brüssel beschließen europäische Gesetze, die auch die Mitgliedstaaten binden, deren Regierungen oder Abgeordnete dagegen gestimmt haben. Und sind nicht 84 Prozent der deutschen Rechtsetzung europäischen Ursprungs, wie Roman Herzog und der Ökonom Lüder Gerken seit 2007 immer wieder behaupten? Der Deutsche Bundestag hat längst festgestellt, dass der Anteil der europäisch induzierten deutschen Gesetzgebung mit 30 bis 40 Prozent weit niedriger liegt.

Welches Gewicht hat in solchen Aufrechnungen eigentlich der Beschluss von Bundesregierung und Bundestag, aus der Kernenergie auszusteigen? Er folgt wahrhaftig keiner zentralen Vorgabe, geschweige denn einer Entscheidung aus Brüssel. Die Union brauchte in einer für die Energieversorgung ganz Europas zentralen Frage nicht mal "konsultiert" zu werden. Um die Folgen wird sie sich allerdings zentral kümmern müssen.

Zusätzliche Kompetenzen in der Wirtschaftspolitik

Wo und wieweit darf, kann oder muss die Union überhaupt etwas zentral regeln? Der Vertrag von Lissabon ist da von nicht erwarteter Klarheit. Er unterscheidet drei Kategorien. In der ersten ist allein die Union befugt, Gesetze zu erlassen: für die Zollunion, das Wettbewerbsrecht im Binnenmarkt, die Währungspolitik, den Außenhandel und die Erhaltung der biologischen Meeresschätze.

In einer zweiten Reihe von Politikbereichen teilen sich EU und Mitgliedstaaten die Befugnis zur Gesetzgebung. Solange und soweit Rat und Parlament in Brüssel nicht tätig werden, beschließen die Mitgliedstaaten ihre Regelungen selbst: Für den Binnenmarkt, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt sowie für bestimmte Aspekte der Sozialpolitik. Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze, Energie (die Zusammensetzung des nationalen Energiemix ausdrücklich ausgenommen) gehören ebenfalls in diese Kategorie, desgleichen die gemeinsamen Regeln für die Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der Gesundheit.

In einer dritten Kategorie kann die Union die Mitgliedstaaten beim Gesundheitsschutz, der Industrie, Kultur, Tourismus, berufliche Bildung, Jugend, Sport, Katastrophenschutz sowie Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt unterstützen, darf aber nicht von sich aus tätig werden oder gar zentral harmonisieren.

Ihren Handlungsspielraum sollte die Union mit gebotener Zurückhaltung nutzen. Das tut sie nicht immer. Niemand kann bestreiten, dass sie zentral schon mal zu viel, zu detailliert und zu kompliziert reguliert. Hin und wieder beschließen Rat und Parlament einheitliche Regelungen, wo die europaweite Akzeptanz unterschiedlicher nationaler auch genügen würde.

Weitere Rechte zu zentraler Gesetzgebung braucht die Union nicht. Für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten gilt das nicht. Brüssel kann Vorschläge machen, aber beschlossen und eingehalten werden sie von den Mitgliedstaaten - oder eben nicht. Die risikobehaftete Überschuldung vieler EU-Staaten haben nicht zentrale Beschlüsse von Kommission, Rat oder Parlament in Brüssel herbeigeführt, sondern die souveränen Entscheidungen der Regierungen und Parlamente in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten.

Schirme nur Schadensbegrenzung

Es waren Paris und Berlin, die dem Europäischen Statistikamt Prüfungsrechte in den Mitgliedstaaten verweigerten und so den Griechen erleichterten, sich in den Euro hineinzulügen. Es waren auch nicht die EU-Kommission oder das Europäische Parlament, sondern Deutschland und Frankreich, welche die Eurostaaten 2005 anstifteten, den zur Einführung des Euro geschlossen Pakt für eine zentrale Stabilitätspolitik aufzuweichen. Worauf Portugal, Irland, Spanien und Italien sich für berechtigt hielten, die neue Flexibilität ihrerseits zu überdehnen.

Die Währungsunion wurde 1992 durch den Vertrag von Maastricht beschlossen. Seither hat das Europäische Parlament immer wieder gefordert, dass sie durch eine politische Union ergänzt und abgesichert werden muss. Damit war auch die Schaffung eines institutionellen Gerüsts für die verbindliche europäische Koordinierung der nationalen Wirtschafts-, Fiskal- und Haushaltspolitik gemeint. Gehört wurde es nicht.

Die Konstruktion von temporären oder permanenten Rettungsschirmen, mehr oder weniger automatisch wirkenden Stabilisierungsmechanismen, Reformauflagen, Umschuldungsvereinbarungen und Schuldenerlass ist aktuelles Krisenmanagement. Das ist bitter notwendig und schwer genug, aber doch nur Schadensbegrenzung. Die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg (so Jean-Claude Trichet), ist nicht mit weniger, sondern nur mit mehr Union zu lösen.

Die Euro-Staaten brauchen eine verbindliche Koordinierung ihrer Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik durch eine europäische "Wirtschaftsregierung". Der Begriff galt lange Zeit als französisch kontaminiert. Aber nicht nur deswegen standen bislang alle Regierungen in Berlin, gewiss nicht allein, aber immer in vorderster Front, dagegen. Dahinter stand und steht die Frage der Fragen: Wie weit muss, kann, darf die Koordinierung zentralster nationaler Entscheidungen in der Haushalts- und Finanzpolitik, aber auch in der Ausstattung der Sozialsysteme oder in der Lohnpolitik begrenzen oder gar festlegen?

Puppenstube Europa?

Das trifft die öffentliche Meinung unvorbereitet, keineswegs nur in Deutschland. Bürger, Medien und Politik träumen sich in ein Kuscheleuropa, das nur Chancen schafft und jedes Risiko ausschließt. Die Europäische Union wurde als Friedensgemeinschaft gegründet, als Ruhegemeinschaft war sie nie konzipiert. Krisen solidarisch zu begegnen, einvernehmlich zu lösen und Risiken wie Chancen gemeinschaftlich zu tragen, ist geradezu ihr Daseinszweck. Sie ist keine Puppenstube.

Die EU braucht eine Neuorientierung ihres Denkens und ihrer Ziele. Alle Mitgliedstaaten müssen sich von der Illusion verabschieden, die Union sei noch immer nur eine Wirtschafts- und Wachstumsgemeinschaft mit beschränkter politischer Haftung. Das ist sie längst nicht mehr. Sie ist heute schon ineinander so eng verflochten, dass aus ihr eine Schicksalsgemeinschaft geworden ist. Den Kollaps eines schwachen Landes werden die stärkeren so oder so bezahlen müssen, sie mögen den Euro haben oder nicht.

Der Zusammenbruch der Währungsunion und die Aufgabe des Euro, aus Furcht vor Zentralisierung, Entscheidungsschwäche oder nationalstaatlichem Kalkül herbeigeführt oder zugelassen, wäre mehr als nur eine Schwächung der Europäischen Union. Es wäre der Anfang ihres Endes. Das ökonomische Desaster, das dann heraufzöge, hätte unabschätzbare politische Folgen. Ein Blick darauf macht schaudern. In der Welt würde sich Europa wirtschaftlich und politisch endgültig selbst marginalisieren. Und in Europa wäre der Vorrang demokratisch entschiedener Politik gegenüber dem Markt dahin.

Sonst entscheiden schnöselige Finanzdealer

Auch wenn die verbindliche Koordination der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik durch die Regierungen neben der Union, nicht durch diese geschieht, schränkt sie parlamentarische Entscheidungsfreiheiten in den Mitgliedstaaten ein und schmälert nationalstaatliche wie europäische Demokratie. Das muss man bedauern, künftig ändern, aber gegenwärtig hinnehmen. Es ist besser, wenn wenigstens demokratisch legitimierte Regierungen über das Wohl und Wehe der Union entscheiden als eine Hundertschaft schnöseliger Finanzdealer, die mit dem Schicksal ganzer Völker Monopoly spielt.

Das Prinzip der Demokratie ist mit dem Nationalstaat historisch eng verbunden. Es basiert auf einer klaren Trennung zwischen Innen und Außen und setzt voraus, dass der demokratische Staat die wichtigen gesellschaftlichen Probleme seiner Bürger autonom lösen kann. Die weltweiten Herausforderungen des Klimawandels, der demographischen Entwicklung, der Ressourcenverteilung, der globalen Vernetzung von Terrorismus, Kriminalität und Finanzmärkten durch neue Informationstechnologien verwischen die Trennung.

Das alte Gebäude der Legitimierung und Kontrolle politischer Macht durch die Bürger wird von tektonischen Verschiebungen der Orte und Reichweiten politisch-gesellschaftlicher Entscheidungen erschüttert. Die Auslagerung von Entscheidungen in Gremien jenseits des Staates schmälert die Möglichkeiten, über die klassischen demokratischen Institutionen und Verfahren Einfluss auszuüben.

Immer mehr Staaten verlagern Entscheidungen von großer Tragweite und Zukunftsbindung in außerstaatliche Organisationen. Nicht nur in die Europäische Union, auch in die Welthandelsorganisation, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank, die G7- bis G20-Gipfel, letztlich auch die UNO und ihre Unterorganisationen. Kein Staat von Bedeutung kann sich der Notwendigkeit verbindlicher globaler Kooperation entziehen.

Kein Demokratiedefizit

Unter den transnationalen Organisationen, denen, de jure oder de facto Entscheidungskompetenzen zugewachsen sind, ist die Europäische Union die einzige, die sich mit Fug und Recht demokratisch nennen kann. Keine andere bietet den Bürgern Mitentscheidung und Machtkontrolle durch ein direkt gewähltes Parlament. Keine gewichtet den Einfluss einer Regierung auch nach der Zahl der Bürger des Landes, das sie vertritt. Keine bezieht die nationalen Volksvertretungen enger in die Grundentscheidungen ein. Wer um die Demokratie in Europa besorgt ist, sollte das bislang einzige Projekt einer transnationalen Demokratie in der Welt nicht mit dem Etikett "Demokratiedefizit" bekleben.

Die Unionsdemokratie tritt keineswegs an die Stelle der nationalen Demokratien, sie erweitert sie vielmehr. Die Mitgliedstaaten stehen nicht neben der oder gar gegen die Union, sie sind vielmehr deren integraler Teil. Ihre demokratisch gewählten Regierungen wirken an der Legitimierung und Limitierung der politischen Macht der Union mit. Nicht nur die Wahlen zum Europäischen Parlament, auch die nationalen Wahlentscheidungen können sehr wohl die Richtung der Brüsseler Politik verändern.

Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nimmt die Unionsdemokratie freilich nicht als Erweiterung, sondern als Verengung der nationalen Demokratie wahr. Europa ist groß, das Europäische Parlament weit und die Unionsdemokratie durchaus noch ein gutes Stück davon entfernt, ihren eigenen Ansprüchen zu genügen.

Demokratie kann freilich auf der Ebene eines Staatenverbundes wie der Union nicht in den gleichen Formen und Verfahren stattfinden wie im Nationalstaat. Das braucht sie auch nicht. Die Geschichte der Demokratie in den europäischen Staaten ist eine der Kombination von gegensätzlichen, zeitweilig für unvereinbar gehaltenen Prinzipien: Monarchie und Volkssouveränität, Freiheit und Gleichheit, Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung, direkte und repräsentative Demokratie. Die Europäische Union muss aufhören, sich an dem messen oder messen lassen, was niemals und nirgendwo rein verwirklicht worden ist. Sie wird lernend-pragmatisch eine neue, eigene Kombination von Prinzipien, Formen und Inhalten für die erste transnationale Demokratie der Welt entwickeln.

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Klaus Hänsch

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