Der Sound zu Völkermord

"Hate Radio" beim Berliner Theatertreffen
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Was wir im Berliner Theater "Hebbel am Ufer" hören, ist der Sound der Radiostation RTLM in Ruanda. Er begleitete im Jahr 1994 den Mord an mehr als einer Million Menschen.

Rassismus ist nicht nur Hass. Er hat Schwung, er kennt die neuesten Songs, er ist frech, provokativ, up-to-date. Mein Sitznachbar im Theater muss lachen, wippt zwischendurch mit den Füßen zum Rhythmus der Musik. Wie viel müsste er wissen, um die Geschichtsverdrehungen zu durchschauen, den Zynismus hinter den philosophischen Zitaten? Zwischen den neuesten Hits rufen die Moderatoren zum Völkermord auf. Zuhörer der Radiosendung melden sich am Telefon, berichten, wo sich Menschen versteckt halten, wo die Mörder sie finden können. Und auf der Flip-Chart wird ein Name nach dem anderen durchgestrichen.

Was wir im Berliner Theater "Hebbel am Ufer" hören, ist der Sound der Radiostation RTLM in Ruanda. Er begleitete im Jahr 1994 den Mord an mehr als einer Million Menschen. "Hate Radio" heißt das Stück, das als so genanntes Reenactment, also als möglichst authentische Wiederaufführung, in verdichteter Form eine Sendung des Propaganda-Radios auf die Bühne bringt. Wir Theaterbesucher sind ausgestattet mit kleinen Kurzwellen-Empfängern, über Kopfhörer lauschen wir der französischen und der kinyaruandischen Sprache und ihrer deutschen Synchronisation.

Auf der Bühne ist die Radiostation originalgetreu nachgebaut. Durch große Fenster sehen wir hinein, beobachten die Journalisten am Mikrophon: wie sie lachen, rauchen, sich Notizen machen und ihre Gesichtsmuskeln lockern für die nächste Anmoderation. Die Sendung ist eine einzige, sich über Monate radikalisierende Werbekampagne für den Völkermord.

Hätte man ein einfaches und wirkungsvolles Ziel gesucht, um die Ermordung der Tutsi und gemäßigten Hutu zu verhindern, wäre das der Radiosender RTLM gewesen, schreibt der Journalist Philip Gourevitch. Denn der war nicht nur überaus populär, sondern auch Hauptquelle für Informationen. In vielen Ländern Afrikas ist Radio das Medium, zu dem die Bürger Zugang haben. In Ruanda existierten 1994 weder Internet noch Mobilfunk. Und das Festnetz brach während der hundert Tage des Genozids vielerorts zusammen.

Das "International Institute of Political Murder" (IIPM) um den Regisseur Milo Rau und den Dramaturgen Jens Dietrich bemüht sich um größtmögliche Detailtreue. Neben Künstlern sind auch Wissenschaftler und Journalisten an diesem Theaterprojekt beteiligt, haben in langen Recherchen in Archiven und Gesprächen mit Zeitzeugen das Stück erarbeitet. Und die, die als Schauspieler in die Rolle der Täter schlüpfen, sind Überlebende des Völkermords: In der Wiederholung der Geste der Mörder hoffen sie auf eine Auseinandersetzung der Zuschauer mit der vernichtenden Gewalt, ihrer Systematik und: ihrer Verführung.

Auch in Ruanda wurde "Hate Radio" aufgeführt, am Originalschauplatz in der Hauptstadt Kigali, im alten Radiosender. Ein riskantes Experiment in einem Land, das noch immer nach ungefährlichen Formen sucht, sich der Erinnerung zu stellen, um zu vermeiden, dass die gewaltsame Ethnisierung wieder aufbricht. 2000 wurde Anklage wegen Anstachelung zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Die Moderatoren von RTLM erhielten lebenslang. Literatur: Philip Gourevitch: Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden. Berichte aus Ruanda. Berlin Verlag Berlin 1999, 427 Seiten, Euro 22,50.

Hinweise:

"Hate Radio" wird im Mai wiederaufgeführt: Berliner Theatertreffen, 4. bis 20. Mai.

Berliner Festspiele

Natascha Gillenberg

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Foto: privat

Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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