Durch die Wüste

Von Traumwüsten und realen Landschaften unter der Sonne
"Die Isomatte auf dem Stein, der Daunenschlafsack. Ich bin allein, ja, mit dem weiten Himmelszelt." Foto: dpa/Sergio Pitamitz
"Die Isomatte auf dem Stein, der Daunenschlafsack. Ich bin allein, ja, mit dem weiten Himmelszelt." Foto: dpa/Sergio Pitamitz
Er könnte in der Wüste bleiben – warum nicht? – schauen, die Steine und Sterne lesen und alles aufschreiben. In seinem Leben ist Klaus Reichert schon oft in die Wüste gereist. Der Übersetzer und Lyriker schildert die Faszination, die von der Wüste ausgeht.

Wer zum ersten Mal in die Wüste reist, hat den Kopf voller Erinnerungen. Tief unten, am Grund dieses Brunnens, finden sich die Märchen, Hauffs "Sklavenkarawa­ne", "Der Scheich von Alessandria und seine Sklaven", "Tau­sendundeine Nacht". Wir haben die mit Gewürzen und Spe­zereien, Weihrauch und Myrrhe schwer beladenen Kamele vor Augen mit den bunt gewirkten Satteltaschen auf ihrem wie­genden Zug nach Norden, nach Mizraim oder Kanaan, oder weiter nordöstlich bis ins Zweistromland. Die Karawanen sind bewaffnet. Es ist ein Glück, wenn sie vor Einbruch der Nacht – und die Nacht kommt hier ganz plötzlich, ohne Über­gang, ohne Dämmerung – einen Han erreichen. Da sind sie sicher. Sonst müssen sie mit ihren Musketen ums Feuer sitzen und einander Geschichten erzählen, damit sie wach bleiben.

Es sind wahre Geschichten. Da ist der gefürchtete Räu­ber Orbasan mit seiner Bande, der heimliche Herrscher der Wüste, der unvermutet auftaucht und sich nimmt, was er braucht. Man sieht die Staubwolke von weit, aber wie soll man sich schützen, ohne Baum, Strauch oder Fels? Außer­dem fliegen die Pferde nur so dahin und sind gleich wieder auf und davon mit der Beute. Die Räuber sind wenigstens Menschen. Aber was machst du, wenn du einen Dattelkern ausspuckst und auf einmal ein turmhoher Dschinn vor dir steht, dich anfaucht, du hättest ins Auge seines Sohnes gespuckt, und entweder würde er dich dafür auf der Stelle in Stücke reißen oder du müsstest ihm zwölf Jahre dienen. Erste Träume von Wüsten aus Angstlust und Sehnsucht.

Wanderungen der Erzväter

Etwas weniger tief im Brunnen rücken die Wanderun­gen der Erzväter in den Blick. Abraham, der Chaldäer, zieht mit Sara, seiner Halbschwester und Frau, und den Herden von Morgen gegen Abend und von Mitternacht gen Mit­tag. Wo er hinkommt, ist er ein Fremder, aber Gott, der in dieser Geschichte viele Namen hat, verheißt seinem Samen Nachkommen, so unzählbar wie die Sandkörner der Wüste oder die Sterne am Himmel. Doch er hat ja keinen Sohn. Als Hagar, die ägyptische Magd, nach dem Willen Saras von ihm schwanger wird und stolz darauf ist, zu stolz, wird sie in die Wüste gejagt. Aber auch ihr wird eine reiche Nachkommen­schaft verheißen – "Gott hat mein Elend erhört", soll sie den Sohn nennen: Ismael. Er wird ein wilder Mensch sein und ein Stammvater der Beduinen, die nicht sesshaft werden, die herumziehen durch die Wüste und ihre schwarzen Zelte aus Ziegenhaar aufschlagen, wo sie wollen. Dann ist da die schreckliche Wüstenwanderung Abrahams mit Isaak, dem Verheißenen, Erhofften, Spätgeborenen. "Nimm deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, den Sohn, den du lieb hast." Drei Tage und Nächte gehen sie schweigend mit dem Holz, dem Feuer, dem Messer zur befohlenen Opferstatt auf dem Berg Morija. Da bindet der Vater den Sohn, legt ihn aufs Holz und hebt das Messer. Ist das ein Bild der Unbefragbar­keit, der Härte, der Erbarmungslosigkeit der Wüste?

Als Mose die Kinder Israels aus Ägyptenland geführt hatte, zogen sie vierzig Jahre durch die Wüste und Gott ging am Tag in einer Wolke vor ihnen her und in einer Feuersäule des Nachts. Warum, wenn sie trotzdem kein Wasser fanden und nichts zu essen? Was ist mit dem Wachtelregen und dem Himmelsbrot, das in der Sonne zergeht? Halluzinatio­nen? Fata Morganas? Auf den zwei Tafeln, "beschrieben mit dem Finger Gottes", steht zu lesen: "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Also gibt es doch andere Götter, auf die der, der der Eine Einzige sein will, eifersüchtig ist, wie er selbst sagt. Und wo kommen auf einmal die Opfertiere, wo kommt das Festmahl her beim Tanz um das Goldene Kalb? Als Mose vom Berg herabsteigt und den Schlamassel sieht, fordert er die Kinder Levi auf, "ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten" zu erwürgen, "und fielen des Tages vom Volk dreitausend Mann". Die mosaische Wüste ist ein Kampffeld, laut und blutig. Man möchte nicht dabei gewesen sein. Da gab es keine Abenteuer zu bestehen, nur Angst und Schrecken, und wenn Wunder geschahen wie der Mannare­gen, kamen sie mit Drohungen daher.

Der Wunsch nach dem Immergleichen

Und dennoch: Woher rührt diese geradezu magneti­sche Faszination, die von der Wüste ausgeht, auch und ge­rade von den Wüsten Abrahams, Isaaks, Jakobs und seiner Söhne, Moses? Ohne fröhliche Kelims, verschleierte Frauen, Granatäpfel und Saitenspiel? Es sind Traumwüsten, die sich dem Gedächtnis früh eingebrannt haben, Wunschräume, die sich weiter und weiter erstrecken in einem Kreis ohne Ende, die gefüllt werden mit Gestalten unserer Phantasie, schreck­lichen und freundlichen oder beidem zugleich. Die Wüste ist ein Bild für den frühen Wunsch nach der Wiederholung des Immergleichen. Später wird das Immergleiche als das immer Andere erfahren, wie in den Kelimmustern der Beduinen, wie in der seriellen Musik, wie in der Liebe. Vielleicht ist es das, was die Wüste, ist man ihr erst einmal verfallen, so anzie­hend macht.

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal eine Wüste erlebte, nein, durchfuhr. Die Wüsten Colorados, Neu Mexicos, Nevadas, wo die Luft so heiß war, dass auch der Fahrtwind sie nicht kühlte. Death Valley mit den höhnischen Schildern "Be nice to our rattlesnakes!" Schlimm die Fahrt durch die nächtlichen Salzwüsten Utahs mit immer leerer werdendem Tank, auf jedem Exit-Schild stand geschrieben "No Filling Station", und kein Auto kam uns entgegen, keins überholte uns. Die Gordon Pym-Weiße schwarz um uns her als Mondlandschaft. Alles tot. Jahre später die Fahrt durch die Negev hinab zum Toten Meer, einem Schwefel- und Salzpfuhl, umbaut von Sanatorien zur Heilung von Derma­titis. Aber da gab es dann, immer noch oder wie­der, auf halber Höhe am Berg, die liebliche Oase En-Gedi aus dem Hohenlied, mit Öl- und Gra­natbäumen, Palmen, frischem kaltem Wasser und ein paar Ziegen im Stall.

Ein andermal, in sengen­der Glut, auf der Feste Massada. Mit dem Fern­glas der Blick in die judäische Wüste, Felsgebirge mit Steinbockherden von vor der Zeit. Das war schon da, bevor die Väter durch die Ebene zogen. Da flossen nicht Milch noch Honig.

Pfade in der Schwärze

Einmal fuhren wir in kleiner Gesellschaft durch die Steinwüste der Sinaihalbinsel auf befestigter Straße zum Dschebel Mussa, dem Mosesberg. Am Katharinenkloster gibt es ein paar Blockhäuser, in die man sich für die Nacht einmieten kann; die Nacht von gegen acht bis zwei. Dann beginnen wir in der ägyptischen Finsternis den Aufstieg. Manchmal ertasten wir Pfade in der Schwärze, dann wieder müssen wir klettern. Bei Vollmond wäre es einfacher, aber die Sterne hat der Herr ja auch an den Himmel gehängt, und sie werden heller, je höher wir stei­gen. Es steht geschrieben: Der Berg ist heilig, niemand darf ihn betreten als Moshe allein. Aber hier wandern Stimmen hin und wider, näher und ferner, als hätte sich das ganze Feldlager in Bewe­gung gesetzt, um den so lange Überfälligen zu suchen. Ich muss immer wieder rasten, die Schrit­te sind zu hoch, das Herz zu rasch. So geht es drei, vielleicht vier Stunden. Oben sind die Sterne in ihrer Vollzähligkeit versammelt, dass auch nicht einer fehle, dann verbleichen sie, werden einer nach dem anderen wie ausgeknipst und es ver­breitet sich ein diffuses Licht. Das ist das Urlicht, der Morgenglanz der Ewigkeit, der von Gottes Thron abstrahlt, die geheimnisvolle Morgenröte, die jeder für den Sonnenaufgang hält. Und aus diesem mystischen Halbdunkel ertönen auf ein­mal Chöre. Der Zauber ist gebrochen.

Drei Dutzend asiatische Nonnen in grauen Kutten singen mit dünnen Stimmchen irgendwelche Kir­chenlieder. Der ganze heilige Ort, an dem Moshe "Das Ge­setz" empfing, das geschriebene und das gesprochene, vierzig Tage und Nächte lang, wimmelt von Menschen aller Haut- und Kleiderfarben, die auf den Sonnenaufgang warten. Jetzt nichts wie weg.

Tief unten liegt wie eine Spielzeugburg das Katharinenkloster. Der Abstieg ist steil, der Berg ist hier auf meist großen Kalksteinplatten übereinander gestapelt, Flächen genug, um von Gottes Finger mit den über 600 Ge­boten und Verboten beschrieben zu werden. Manchmal ver­dorrte Büsche zwischen den Steinplatten. Auf einer hockt ein Junge und verkauft Weihrauch in faustgroßen Stücken. Einmal stand von irgendwo her ein alter Mann vor mir und wollte meine Brille geschenkt haben: Er könne den Koran nicht mehr lesen, könne sich auch keine Brille kaufen, ich aber könnte ein Allah wohlgefälliges Werk tun.

Auf dem Kamel

Einmal kam ich Mussa doch näher als auf seinem Berg. Das war in Südostanatolien, in der Nähe von Harran, der Stadt, aus der Abraham aufgebrochen war auf Geheiß Got­tes nach Kanaan, der Stadt, in der der verschlagene und göt­zendienerische Laban lebte, der Bruder Rebekkas, der Vater Leas und der anmutigen Rahel. In der Nähe, in einer Senke, lag das Dorf Somatar, umgeben von sieben Bergen, auf denen die den Sabäern heiligen Planetengötter wohnten. Der Wächter erzählt, hier habe der Schwiegervater Mussas gelebt – er heißt hier Shuaib, nicht Jethro – und dem jungen Flücht­ling aus Ägypten eine Tochter geben wollen, die er aber nicht mochte; er wollte die andere, die er dann auch bekam, denn er hatte ihren Fuß beim Wasserschöpfen gesehen. Es war Shuaib, der Mussa den Stab gab, mit dem er das Wasser aus dem Fels schlug.

Der Wächter führt uns an eine Zisterne, die in den Stein geschlagen ist und sagt: "Hier sehen Sie noch die Kerben, wie Mussa den Fels öffnete." Und er erzählt und erzählt, in immer neuen Windungen und Abschweifungen, so dass meine türkische Übersetzerin Mühe hat, wenigstens gelegentlich etwas davon zusammenzufassen. Aber er unter­bricht sich nicht, weil er meint, wenn er lauter spräche und noch mehr gestikuliere, müsste ich ihn doch verstehen.

Immer bin ich im Auto und in Gesellschaft durch die Wüsten gefahren, habe sie gesehen, aber nicht erlebt, den Kopf voller erinnerter Geschichten. Aber einmal ergab sich die Gelegenheit, auf der Sinai-Halbinsel, auf halber Höhe, in Nuweiba am Golf von Aqaba, für mehrere Tage ein Kamel zu mieten und zwei Beduinen dazu. Es war um eine Jahres­wende, und es war kalt, auch am Tag. Freunde hatten mich gewarnt: ob ich überhaupt wisse, worauf ich mich da einlasse, es gebe Räuber und es gebe den "Wüstenkoller", das Ent­setzen vor der Leere und so weiter. Aber ich wollte mich ja "einlassen", worauf auch immer.

Rast an der abgestorbenen Akazie

Pferde waren mir immer zu hoch. Kamele sind noch höher. Allein der Aufstieg ist ungemütlich: ein jähes nach-vorn-Kippen, dann nach hinten, so dass man abzustürzen glaubt. Hoch oben gibt es keinen Halt. Bei jedem Passschritt knallt der Hintern auf das Holzbrett und es gibt keine Steig­bügel, um das Plumpsen abzufedern. Nach vier, fünf Stun­den Ritt ist der Podex wund. Da hilft Hirschhornsalbe. Ich lerne den Beduinensitz, lege ein Bein über den Hals des Kamels, da kann ich mich nach vorn abfedern, aber es wird schwieriger, die Balance zu halten. Rast an einer abgestor­benen Akazie, von der die Führer einen Ast absägen, um Feuer zu machen. Sie kochen Tee mit viel Zucker in einer alten Konservenbüchse, deren abgeknickter Deckel als Griff dient. Nach dem Tee wird das Feuer ausgetreten und das nicht verbrannte Holz aufgepackt.

Weiter. Aus Angst, die Balance zu verlieren, kann ich den Blick kaum weiter schwei­fen lassen als über die Rücken der vor mir Reitenden. Ich spüre jede Bodenunebenheit im bergauf und bergab durch die Steinwüste, und wenn ein Kamel sich vertritt, fürchte ich, hinunterzustürzen. Zur Nacht halten wir an einer kleinen Oase. Ein Wasserloch, zwei Palmen, ein paar Akazien. Die Kamele werden von ihrem Zaumzeug befreit und springen sofort davon. Im Feuer wird Brot gebacken, das heißt, ein Teig aus Mehl, Salz und Wasser wird einfach in die Glut gelegt. Als es fertig ist, klopft der eine mit einem Stock die Asche ab, das klingt wie das lange nicht mehr gehörte Tep­pichklopfen in der Kindheit. Das Brot wird in Stücke geris­sen, innen ist es flaumleicht, außen knusprig; ich habe nie wieder herzhafteres Brot gegessen. Dazu gibt es, wie an den folgenden Tagen auch, ein Reisgericht mit Gemüse und ein paar Hühnerstücken.

Nach dem Essen sitzen wir noch eine Weile am Feuer. Der eine erzählt Märchen, der andere hört ihm mit glühenden Wangen und vor Schreck weit aufgerissenen Augen zu. Ich weiß ja, dass die Wüste voller Geister ist. Vielleicht erzählt er davon, wie sie auf Unheil sinnend zwischen uns hocken. Das Feuer wird dann wieder ausgetreten, um das kostbare Holz zu sparen. Jetzt die erste Nacht unter freiem Himmel. Ob es nicht gefährlich sei mit den Schlangen und Skorpio­nen? Nein, es sei selbst für sie zu kalt, sie kämen aus ihren Höhlen nicht hervor. Die Isomatte auf dem Stein, der Dau­nenschlafsack, eine Decke. Ich packe mich ein, so gut es geht. Ich bin allein, ja, mit dem weiten Himmelszelt. Orion wie auf mittelalterlichen Darstellungen: mit der Keule, dem Löwen­fell, dem Köcher. Das habe ich so deutlich nie gesehen.

Ich überlege, wie sich die Konstellationen seit Mosis Zeiten, seit dem Zeitalter des Widders, also seit etwa viertausend Jahren verändert, was die Kinder Israels in dieser Wüste gesehen haben könnten. Sind die Plejaden, das Siebengestirn, näher zusammengerückt? Auf der Himmelsscheibe von Nebra lie­gen sie noch weit auseinander; hier wirken sie wie ineinander geschoben. Ich schlafe ein. Als ich aufwache, steht die Kons­tellation über mir noch an der gleichen Stelle. Ich kann also nur kurz eingenickt gewesen sein.

Geruch der Heiligkeit

Anfangs war es unangenehm, sich nicht waschen, nicht rasieren zu können, der Bart juckte. Bald war es egal, und man roch wohl auch nicht, weil die trockene eisige Luft die Dünste absorbierte. Oder es umgab einen die eigentümliche Hülle, die die Jünger der Wüstenväter und Anachoreten den "Geruch der Heiligkeit" nannten. Anfangs war ich ungedul­dig, wenn wir schon wieder rasteten oder der Aufenthalt für mein Gefühl zu lang dauerte. Dann verlor sich dieses Gepäck aus einer anderen Welt. Wo wollten wir denn hin? Es war ja gleich, ob wir noch zwei, drei Stunden weiter ritten oder eben nicht. Allmählich merkte ich, dass mir nichts fehlte. Nicht die Bücher, nicht die Musik, nicht der Wein, nicht der Tabak. Höchstens Gespräche. Doch die waren unmöglich mit den paar Brocken Englisch des einen, den Brocken Ivrit des andern und meinem Dutzend arabischer Wörter und Floskeln. Bald war auch das Nicht-Sprechen-Können egal. Was mir geblieben war, waren die Augen und Ohren, war die Kälteempfindung bis in die Knochen, war das Körpergefühl: Reiten, Balancieren, Gehen, Stehen.

Ich begann zu schreiben, die Landschaft zu beschreiben. Aber es gab keine Landschaft. Baum und Strauch in der Landschaft können ästhetisches Vergnügen bereiten, in der Wüste verheißen sie Schatten oder Holz – Überlebensmit­tel. Ich wusste auf einmal, warum Abraham, bevor er zur Op­ferung Isaaks aufbrach, die ganze Nacht Holz machte, denn nur mit Glück findet sich in der Wüste Holz, und Abraham wollte sichergehen. Ich wusste auf einmal, als ich den eisen­schweren Akazienast auf meiner Schulter zur Feuerstelle trug, warum die Bundeslade, in der "Das Gesetz" durch die Wüste transportiert wird, so klein ist.

Ach, den "Sitz im Leben" hatte ich anders erinnert. Erst ging das Schreiben mit seinen Assoziationen, Bildern und Vergleichen leicht von der Hand. Sieht diese glänzende Felsenkette da oben nicht aus wie die Messingstadt aus Tausendundeiner Nacht? War diese Felsformation nicht einmal einem Gott heilig? Ist dieser Stein nicht ein verwunschener Dschinn mit krummem Rücken, für seine Missetaten? Aber dann merkte ich: Das ist angelesene Wüste, aber hier ist "Die Wüste". Schau hin! Und da begann die unendlich mühsame und vergebliche Beschrei­bung des vor Augen Liegenden: der seit Jahrtausenden so liegenden Steine, der alten und der jungen, wobei die jungen höchstens hunderttausend Jahre alt waren, der Verwerfun­gen vor Jahrmillionen, das feste und das bröckelnde Gestein, das in Spektralfarben sichtbar wurde. Der Sand – wie sah er als Stein aus? Von Ewigkeiten her das Immergleiche und das immer Andere. Der Wind, auf den ich bisher kaum geachtet hatte. Dieser Eiswind, der ständig seine Richtung wechselt und das ewig Erscheinende umschafft. Die Arbeit an der Schöpfung. Ruach Elohim, "Braus Gottes", wie Buber und Rosenzweig übersetzten.

Ich könnte hier bleiben – warum nicht? – Schauen, die Steine und Sterne lesen, aufschreiben, was lange vor der Zeit der Väter, die ja auch nur Optionen waren, geschah. Es gibt andere Möglichkeiten. Am Straßenrand in Nuweiba finde ich eine noch nicht lange weggeworfene Konservenbüchse. Ich nehme sie mit, denn unsere alte Teebüchse ist doch schon arg durchgerostet.

Literatur:

Klaus Reichert: Wüstentage. Journal einer Reise. Insel Ver­lag, Berlin 2006, 91 Seiten, Euro 6,–.

ders.: Türkische Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 189 Seiten, Euro 22,95.

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Klaus Reichert

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