Braut und Bräutigam

Zwei Grundmodelle europäischer Mystik - und was aus ihnen entstand
Christus in den Kreisen Gottvaters und des Heiligen Geistes. Rupertsberger Codex (Werke Hildegards von Bingen), Buchmalerei, 12. Jahrhundert. Foto: akg-images/Erich Lessing
Christus in den Kreisen Gottvaters und des Heiligen Geistes. Rupertsberger Codex (Werke Hildegards von Bingen), Buchmalerei, 12. Jahrhundert. Foto: akg-images/Erich Lessing
Mystik ist nicht gleich Mystik. So trennt die "Substanzmystik" mit neuplatonischen Wurzeln und die auf Paulus zurückgehende "Liebesmystik" zwar ein Graben, doch war der nicht tief genug, als dass er die Vermischung beider behindert hätte, weiß Werner Thiede, Pfarrer in Regensburg und apl. Professor für Systematische Theologie in Erlangen.

Ist eine "Geschichte der Mystik" nicht ein Widerspruch in sich? Klingt der Begriff der Mystik nicht schlechthin nach Übergeschichtlichem? Und wäre das doch kaum zu leugnende Geschichtliche an der Mystik nicht allemal bloß äußeres Gewand, Makulatur angesichts der Berührungen des Ewigen, um die es der Mystik stets geht?

Es gibt aber eine Geschichte der Mystik - in Europa und in anderen Erdteilen. Und sie zeugt mitnichten von vernachlässigbaren Unterschieden, von relativierbaren Zugängen und Bildern angesichts der "einen" großen Wahrheit. Vielmehr erzählt sie von so unterschiedlichen Begegnungen mit der Transzendenz, dass sich ohne Zweifel bemerken lässt: Mystik ist nicht gleich Mystik; sie ist ähnlich vielgestaltig wie die Welt der Religionen und Religionsphilosophien insgesamt. Selbst das Mysterium des Einen, auf das sich Mystikerinnen und Mystiker gern und oft beziehen, stellt in der Geschichte der Mystik keineswegs die einzig denkbare "Grunderfahrung" dar. Darum greift auch jede Psychologie der Mystik am Ende zu kurz.

In Europa beginnt die reichhaltige, hier nur in groben Zügen thematisierbare Geschichte der Mystik mit dem Apostel Paulus, der die Christus-Verehrung, ja die Christus-Mystik auf unseren Kontinent gebracht hat. Dass Paulus Mystiker war, ist in der Forschung von Albert Schweitzer (1930) bis Eugen Biser (2003) unbestritten. Seine Rede vom "Christus in uns" weiß er im 1. Korintherbrief mit den Worten zu erläutern, Christus und der Glaubende seien miteinander "ein Geist" (6,17). Hierbei fällt auf, dass die beschriebene Einheit in Analogie zur sexuellen Vereinigung Liebender aufgefasst ist, also keineswegs als totale Verschmelzung, sondern als dynamisches Geschehen in freier, ganzheitlicher Hingabe. Damit steht der Apostel selbstverständlich auf dem Boden biblischer Denkungsart vom Göttlichen: Nicht um dunkle Transzendenz im Sinne einer den Mystiker ozeanisch berührenden, durchdringenden, durchflutenden und damit zum Ursprung zurücklenkenden Geistsubstanz geht es, sondern um die verwandelnde, zum Ziel bringende Begegnung mit dem lebendigen Gott, dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser.

Solcher Liebesmystik steht in Europa alsbald ein anderes Grundmodell von Mystik gegenüber - eben jenes "natürliche", philosophischer Logik so eingängige, das vom Göttlichen als dem Mysterium der Einheit schlechthin zu reden weiß. Nicht etwa trinitarisch, sondern monistisch wird hier gedacht: Das Urprinzip des Geistigen sei jenes Eine, ja "Übereine", auf das hin alles Zeitliche hin- und zurücklaufe. Weniger "progressiv" im Sinne der neutestamentlichen Reich-Gottes-Hoffnung als vielmehr "regressiv" ist hier die psychische Stimmung. Gemeint ist die Philosophie des Neuplatonismus, der unter Rückgriff auf gnostische Denkweisen zugleich deren Dualismen substanzmystisch überwindet. Als seine Väter gelten die platonischen Philosophen Ammonios Sakkas und sein Zeitgenosse Plotin im 3. Jahrhundert. Sie lehrten nicht nur ein geistiges Einheitsprinzip, sondern sogar dessen völlige Jenseitigkeit. Seiner über- und herabfließenden Güte verdanke sich alles Sein und Seiende substanziell, um am Ende wieder reich ins absolute Eine zurückzufinden.

Für die Geschichte der Mystik in Europa ist es von größter Bedeutung, dass die beiden skizzierten Grundmodelle einer eher religiösen Liebes- und einer eher philosophischen Substanzmystik sich alsbald zu überlappen und zu vermischen begannen. Das lässt sich bereits in Ansätzen bei den griechischen Kirchenvätern Origenes und Gregor von Nyssa beobachten. In der Gestalt des großen lateinischen Kirchenvaters Augustin hat das Ringen zwischen beiden Modellen geradezu biographisch stattgefunden, und es zeichnete sich sozusagen ein Sieg des liebesmystischen Modells ab. Dann aber kam es gegen Ende des 5. Jahrhunderts zu einer folgenreichen Wende. Ein "Pseudo-Dionysius Areopagita" genannter Mönch gab fälschlich - daher die historische Bezeichnung "Pseudo-" am Beginn seines angeblichen Namens - vor, jener Areopagite Dionysios in Athen gewesen zu sein, der laut Apostelgeschichte 17,34 fast ein halbes Jahrtausend zuvor durch den Apostel Paulus zum christlichen Glauben gefunden hatte. Jahrhundertelang vertraute man dieser Darstellung - und sah daher das neuplatonisch überformte System dieses Mystikers als gewissermaßen gleichwertig mit dem Denken des Apostels an. Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist historisch klar, dass die betreffenden Texte späte neuplatonische Schriften aus der Feder des Proklos (410-485) voraussetzen, der den Neuplatonismus noch über Plotin hinaus zu einer letzten Blüte geführt hatte.

Zwar versteht sich der geheimnisvolle Pseudo-Dionysius Areopagita ohne Zweifel als christlicher Theologe und Mystagoge. Aber er hat das christliche Traditionsgut auf geschickte, freilich problematische Weise in die Strukturen des späten Neuplatonismus, also einer nichtchristlichen Philosophie, einzuzeichnen versucht. Trotz aller Bezüge auf biblische Stellen zeigt sich bei ihm eine Tendenz, Texte der Heiligen Schrift in eine ihnen fremde Systematik zu transferieren. Indirekte Einflüsse des antiken Mysterienwesens - etwa in der mitunter esoterisch anmutenden Sprache sowie in der Vorstellung von unterschiedlichen Graden der Integration von Christen in die Kirche - tun das Ihre, um eine Synthese zwischen Neuplatonismus und kirchlicher Lehre herzustellen. Das aus dem Neuplatonismus stammende monistische Grundkonzept des völlig jenseitigen Einen hatte er dabei mit dem christlichen Schöpfungsgedanken zu synthetisieren. Dieses Problem versuchte er zu lösen, indem er sich merklich von der neuplatonischen Idee absetzte, es gebe vermittelnde Größen zwischen dem Ureinen und der sinnlich erfahrbaren Welt. Stattdessen unterstrich er, Gottes dreifaltiges Sein und Wirken erstrecke sich unmittelbar auf alle Stufen des Seins bis hinab ins Grobstofflich-Materielle.

Diese substanzmystisch geprägte Synthese konnte auf Grund ihrer falschen historischen Selbstverankerung die Geschichte der kirchlichen Mystik in Europa viele Jahrhunderte hindurch maßgeblich mitbestimmen. Eine erste Hauptstation solch spürbaren Einflusses stellte zur Zeit der Karolinger Johannes Scotus Eriugena dar. Der Kelte hatte auf Grund seiner heimatbedingten Nähe zum monistischen Denken besonders die neuplatonisch geprägte Tradition in sich aufgesogen. Nachdem er Vorsteher der kaiserlichen Hofschule geworden war, tat er sich als Übersetzer des Dionysius Areopagita ins Lateinische hervor - wobei er, wie alle Zeitgenossen damals, meinte, dass dessen Schriften ihrem Anspruch gemäß aus dem 1. Jahrhundert stammten. In seinem Hauptwerk Über Naturen entwarf er auf neuplatonischem Hintergrund ein umfassendes System, in dem er die gesamte Wirklichkeit mystisch als stufenweise sich vollziehende Entfaltung der Vielheit aus der Ureinheit und als Rückkehr zu ihr deutete. Gott wurde von ihm als überwesentliche Einheit aufgefasst, die zugleich innerste Substanz aller Dinge sei und sie dennoch überrage.

Das konfligierte freilich mit der kirchlichen Trinitätslehre. Eriugena versuchte das Problem zu lösen, indem er die drei Personen der Dreieinigkeit weniger als Formen des göttlichen Wesens ausgab denn als Formen, unter denen der menschliche Verstand das göttliche Wesen begreifen könne. Die Geschichtlichkeit Jesu und überhaupt der Offenbarungen Gottes sind nach seiner Ansicht für die einfachen Gläubigen ein unentbehrliches Transportmittel übersinnlicher Ideen; für den philosophisch geschulten Verstand aber stellten sie eine Symbolik dar, die als solche durchschaut und enträtselt werden müsse. Die Fleischwerdung des Sohnes diene der Wiederheimführung der gefallenen Natur. Tatsächlich verbreiteten sich diese Deutungen bereits im 9. Jahrhundert enorm. Sein Hauptwerk wurde dann zwar im 13. Jahrhundert offiziell verurteilt, wirkte aber dennoch weiter nach - insbesondere auf die spätmittelalterliche Mystik. Eine weitere Hauptstation neuplatonischen Einflusses bildete Meister Eckhart (1260-1328), der eigentlich Johannes Eckhart hieß. Von 1302 bis 1303 und noch einmal von 1311 bis 1313 war er als Theologieprofessor in Paris tätig, wo er zuletzt seine Mystik-Theorie durch Studien von neuplatonisch geprägten Texten des Dionysius Areopagita vertiefte. Seine mystische Theologie verband die überkommenen Lehren der Scholastik, insbesondere die seines berühmten Ordensbruders Thomas von Aquin, spekulativ mit neuplatonischem Gedankengut, aber auch mit arabisch-jüdischer Philosophie. Um zur Einheit mit Gott, zur unio mystica zu gelangen, durchläuft die Seele nach Eckhart einen vierstufigen Prozess: Sie erfährt zunächst ihre eigene Nichtigkeit, die sie mit allen Dingen und Kreaturen außerhalb Gottes verbindet; dann entdeckt sie ihre Ähnlichkeit mit Gott, der von ihr ungeschieden ist; diese Erkenntnis führt zur Verschmelzung und Wesenseinheit mit Gott - und schließlich zur Erfahrung des einen göttlichen Seins schlechthin. In ihrem Kern komme die Seele laut Meister Eckhart aus dem Ungeschaffenen der Ewigkeit, und alle Seligkeit des Menschen hänge daran, dass er über jede Geschöpflichkeit und Zeitlichkeit hinaus schreite, um in jenen Grund einzugehen, der "grundlos" sei. Im "Seelenfünklein" sei die Seele laut Eckhart "Gott gleich", denn sie "nimmt ihr Sein unvermittelt aus Gott; darum ist Gott der Seele näher, als sie sich selber ist, und darum ist Gott in dem Grund der Seele mit aller seiner Gottheit."

Namentlich über Johannes Tauler und Heinrich Seuse wirkte dieser Gedankenstrom weiter. Daneben entwickelte sich im europäischen Spätmittelalter eine regelrechte Bewegung von Mystikerinnen, die sich wieder betont einer gelebten Liebesmystik widmeten. Allerdings kam es im Zuge dieser weiblichen Spiritualität breitflächig zu mystischen Auswüchsen, die "Liebe" auch in einem sublimen erotischen Sinn verstanden. "Ich komme zu dir wie ein Bräutigam zu seinem Brautbett", hörte zum Beispiel die Dominikanerin Christina Ebner ihren Christus sagen.

Von mystischer Bewegtheit zeugte auch der junge Martin Luther - sogar schon vor seiner Begegnung mit der spätmittelalterlichen "Deutschen Mystik". Rückblickend schrieb er im Alter, er wäre einst fast "toll" geworden, weil er die Einigung Gottes mit seiner Seele spüren wollte; doch später habe er erkannt, inwiefern das ein schwärmerisches Verlangen gewesen sei. Als junger Theologieprofessor las er begeistert Tauler, ebenso die "Theologia Deutsch", deren von Mystik gesättigten Text er 1516 in Teilen und 1518 vollständig herausgab. Durchaus konnte er sich mystischer Vorstellungen bedienen, um seine reformatorische Auffassung über Rechtfertigung und Heil zu formulieren. Dabei war die Basis seiner Mystik die recht verstandene Christus-Botschaft selbst. In der berühmten kleinen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) etwa heißt es im 12. Absatz: "Der Glaube gibt nicht nur dies, dass die Seele dem göttlichen Wort gleich wird, aller Gnaden voll, frei und selig, sondern er vereinigt auch die Seele mit Christus als eine Braut mit ihrem Bräutigam." Aufgrund solch liebesmystischer Einheit "werden auch beider Güter, Glück, Unglück und alle Dinge gemeinsam; das, was Christus hat, das ist der gläubigen Seele zu eigen; was die Seele hat, wird Christus zu eigen".

Zwölf Jahre später erklärt der Reformator in einer Auslegung zu Psalm 45, 10, der Christ müsse hinaufsteigen zu Christus als seinem Bräutigam durch den Glauben an dessen Wort; dabei sei es ihm verboten, über sich selbst nach eigenem Gefühl und Empfinden zu urteilen. Nicht substanzmystisch, sondern liebesmystisch ist es gemeint, wenn Luther sagt: "Christus wird ich und ich Christus." Im Kampf gegen die "Schwärmer" hat er allerdings unterstrichen, Gott gebe niemandem seinen Geist oder Gnade ohne das vorhergehende äußere Wort. Es sei sektiererisch, sich auf mystische Offenbarungen, auf das "innere Wort" abseits der Bibel zu berufen. Das "äußere" Wort bleibt für ihn unverzichtbar, weil es den geschichtlichen Jesus verbürgt.

Vom mystischen Impuls der lutherischen Rechtfertigungslehre zeugt im Altprotestantismus noch die Verortung der unio mystica im orthodox aufgeschlüsselten Neuwerdungsprozess des inneren Menschen - und ebenso die eher esoterisch anmutende Mystik eines Jakob Böhme mit ihren kabbalistischen Bezügen. Wie mystische Frömmigkeit auch einen reformierten Christen durchdringen konnte, zeigte das Beispiel des reformierten Laienpredigers Gerhard Tersteegen. Auf katholischer Seite blühte indessen die Mystik intensiv weiter in Gestalten wie dem Spanier Johannes vom Kreuz oder dem Franzosen Blaise Pascal.

Im Rahmen des Neuprotestantismus und des europäischen Katholizismus der Moderne wurden mystisch angewehte Persönlichkeiten deutlich weniger. Der zunehmend materialistisch orientierte Zeitgeist forderte offenbar seinen Tribut. Männer wie Karl May, Teilhard de Chardin oder Dag Hammerskjöld lebten ihre Mystik verborgen.

Gegen den Säkularisierungstrend stellt sich die esoterische Bewegung, die ihre schillernden Farben auch auf europäischem Boden überwiegend aus Asien bezieht. Demgemäß kommt es hier zu einer Wiederbelebung substanzmystischer Spiritualität, die auf ihre Weise - implizit oder explizit - an neuplatonisches Denken anknüpft. Sofern dann auf diesem Boden doch eine auf die Christus-Figur bezogene Religiosität Raum gewinnen kann (wie bei Rudolf Steiner), vollzieht sich das nicht ohne entsprechende Transformierungen ins Paradigma monistischer Mystik.

Literatur

Werner Thiede: Mystik im Christentum. 30 Beispiele, wie Menschen Gott begegnet sind. edition chrismon, Frankfurt/Main 2009, 256 Seiten, Euro 19,90.

Werner Thiede

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