Zusätzliches Licht

Benns Kryptotheologie
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Man hört die Stufen knarren und Bier aus den Hähnen zischen. Dycks Benn in Berlin erzählt die Geschichte des Dichters zugewandt, aber ohne Kniefälle.

Der Sprachartist Gottfried Benn (1886-1956) steht prominent in der literarischen Großerzählung der ersten Jahrhunderthälfte. Seine alte und neue Aktualität bündelt Durs Grünbein in finaler Kürze: "Bis heute ist seine (Benns) Position wahrscheinlich die letztgültige Durchsage." Benn sah sich autobiografisch illusionslos: "Wir lebten etwas anderes, als wir waren, wir schrieben etwas anderes, als wir dachten, ..." Wenn es so ist, kann jeder aufgekehrte Fetzen Wirklichkeit neues Licht auf das Werk werfen.

Joachim Dyck, Nestor der Benn-Forschung, folgt dieser Vorgabe in zwei zeitgleich erschienenen, minutiös recherchierten und sprachlich eleganten Büchern. Dyck lässt (fast) nichts aus. Es scheint, als sei er in seinen Helden hineingekrochen und in dessen Stiefeln den belegbaren Spuren gefolgt - damit liefert Dyck zusätzliches Licht.

Berlin war Benns kreativer Raum. Dort studierte er, dort betrieb er seine Arztpraxen, dort liegt er in Dahlem begraben. In dreißig farbigen Miniaturen lebt Benns artistische Inkubationswelt auf: Man hört die Stufen knarren und Bier aus den Hähnen zischen - Benn hat abends gern ein kühles Blondes gezischt. Will sagen: Weder Tessin noch das blaue Meer sind als Inspirationssphären zwingend, auch die Eckkneipe erzeugt vollendete Gedichte. Dycks Benn in Berlin erzählt(!) die Geschichte des Dichters zugewandt, aber ohne Kniefälle.

Dieses Buch für ein breiteres Publikum ist wie die "Einführung" akribisch genau und verlässlich im Ergebnis. Der Autor beherrscht seinen Stoff souverän. Von daher erklären sich seine scharfen Korrekturen an anderen Deutungslinien, die funkeln wollen, von den Quellen aber nicht gedeckt sind.

In der "Einführung" besticht die detaillierte Präzision im Umgang mit diesen Quellen. Das traf schon für Dycks meisterliche Benn-Biografie Der Zeitzeuge (2006) zu. Jetzt holt Dyck sich ein: Benn ist ihm zeitloser Sprachkünstler und Zeitzeuge, mit allen Abgründen, die auf gelebtes Leben lauern.

Zwei Aufreger treiben Teile der Forschung unentwegt um: Benns Rolle in der Akademie der Künste während der Finsternis der beginnenden Nazizeit sowie seine missverständliche begriffliche Nähe ("Rasse", "Züchtung") zu Elementen der NS-Ideologie. Beide Punkte klärt Dyck erneut und bündig aus den vorliegenden Dokumenten. Ergebnis: Weiterer Argwohn gegen Benns Rolle hat keine schlüssige Handhabe. Als Künstler raffiniert, war Benn ein politischer Ignorant, der blind in ideologische Fallen rannte. Dycks Stellungnahme wiegelt nicht ab - ein kritischer Rest bleibt. Der darf sein.

Benn hat seinen Beinaheabsturz fassungslos eingestanden: "Unendliche Scham über meinen Abstieg ... unendliche Trauer über den Verrat, den ich an mir zu begehen plante." Dyck nimmt den Resten verminten Benn-Geländes die letzten Schrecken - dank lexikalischer Akkuratesse: 159 Seiten Text sind durch 607 Anmerkungen belegt. Das ist Literaturwissenschaft at its best.

Wie bei fast allen Benn-Autoren fehlt auch bei Dyck das Gespür für Benns (Krypto-)Theologie - Folge religiöser Sprachlosigkeit und Säkularisierungsstarre. Dabei haben Theologen wie der Alttestamentler Lothar Perlitt Benns theologieaffine Metaphorik längst entschlüsselt: der Dichter transformiert nicht nur, er schreibt biblische Sprache faszinierend fort! Dycks Arbeiten zu Gottfried Benn, "einer exemplarischen Gestalt" in der "Problematik der Epoche" (Dieter Wellershoff), lesen sich als höchst luzider Beitrag im Diskurs der Selbstverständigung eben dieser Epoche.

Aber wer weiß, vielleicht gilt auch für den Benn dieses Benn-Arbeiters Bert Brechts kryptische Bemerkung: "Wen immer ihr sucht, ich bin es nicht."

Joachim Dyck: Benn in Berlin. Transit Verlag, Berlin 2010, 150 Seiten, Euro 16,80.

Harald M. Nehb

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