Binnentheologisch

Texte zur Beratung
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Ein fachlich anregender Sammelband, der allerdings weitgehend der binnentheologischen Perspektive verhaftet bleibt.

Vor genau einem Jahr, im Sommersemester 2011, hat die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum eine interdisziplinäre Ringvorlesung durchgeführt, deren Beiträge nun in Buchform vorliegen. Sie wenden sich Themen der Beratungsgesellschaft, des Coaching-Booms und der individuellen Glückssuche zu.

Den Reigen eröffnet Margot Käßmann, die bis Ende März 2012 in Bochum eine Gastprofessur innehatte. Die erfolgreiche Autorin erzählt in ihrem flüssig geschriebenen Beitrag von den Herausforderungen des Älterwerdens, wobei sie insbesondere die Geschlechterrollen und die eigene Sterblichkeit hervorhebt. Ihrem Beitrag folgt der Jan-Dirk Döhlings, der die komplementären Weltzugänge alttestamentlicher Weisheitserzählung erläutert, während Beate Ego Ratschläge der frühjüdischen Weisheitsliteratur analysiert. Peter Wick beschreibt den Weg schrittweiser Beratung am Beispiel des Jakobus-Briefes. Sein neutestamentlicher Kollege Reinhard von Bendemann arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede der frühen Christen im Vergleich zur römischen Mehrheitsgesellschaft heraus. Katharina Greschat stellt "Paidagogos" vor, den von Clemens von Alexandrien im dem dritten Jahrhundert verfassten Ratgeber.

Brücken nicht beschritten

Und ihre kirchengeschichtliche Kollegin Ute Gause zeigt an Beispielen aus der Förmlichkeitsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, wie sich in diesem Zeitraum die Seelsorge von einer den Alltag begleitenden Hilfe zu einer nach innen gerichteten Frömmigkeitsübung gewandelt hat. Traugott Jähnichen würdigt den Engel-Glauben als Ausdruck populärer Spiritualität, kritisiert aber aus theologischer Sicht den Verlust des Gemeinschaftsbezugs. Sein Systematik-Kollege Günter Thomas sieht in der Beratungsliteratur ein Äquivalent dessen, was die Theologie "Gesetz" nennt. Die Praktische Theologin Isolde Karle kritisiert in ihrem Beitrag die Vorstellung, per Willenskraft, gute Absichten in erwünschte Ergebnisse umsetzen und das eigene Selbst optimal entfalten zu können. Ihr katholischer Kollege Matthias Sellmann versucht, Lebenskunst als die Wichtigkeit und Austauschbarkeit der eigenen Biografie-Erzählung zu entschlüsseln. Im letzten Kapitel hebt Franz-Heinrich Beyer die besonderen Gefühlsqualitäten eines Besuches von Sakralbauten hervor.

In ihrem Vorwort erklärt die Herausgeberin, dass es hier nicht um "abstrakte Schreibtischtheologie geht, sondern um ein alltagsnahes und menschenfreundliches theologisches Nachdenken". Diesem Anspruch wird der Band leider nicht gerecht. Zwar finden sich originelle Beiträge darin - vor allem die Analyse der vergessenen protestantischen Trost- und Ratgeberliteratur im 17. Jahrhundert. Doch Brücken zur zeitgenössischen Glückssuche, zur Selbstoptimierung und dem Coaching- und Beratungsmarkt wurden größtenteils nicht beschritten. Naheliegende Themen, wie etwa vieldiskutierte psychologische Konzepte von Weisheit oder die Unterschiede evangelischer Lebensberatung zum Markt spiritueller Lebenshilfe, fehlen. Der Blick in das Autorenverzeichnis zeigt zudem, dass der interdisziplinäre Anspruch nicht eingehalten wurde. Außer einem katholischen Kollegen kommen alle Beitragenden aus einem Haus. So ist ein fachlich anregender Sammelband entstanden, der allerdings weitgehend der binnentheologischen Perspektive verhaftet bleibt und den Bedarf nach weisheitlich orientierter christlicher Lebensberatung nur Fachkundigen entschlüsselt.

Isolde Karle (Hg.): Lebensberatung - Weisheit - Lebenskunst. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2011, 224 Seiten, Euro 28,-.

Michael Utsch

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