Es stimmt schlicht nicht

Gespräch mit Christian Pfeiffer: Die Verrohung der Gesellschaft lässt sich nicht empirisch belegen
Foto: Christian Wyrwa
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Christian Pfeiffer ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. Der Professor räumt mit vielen Vorstellungen und Vorurteilen auf. Fazit: Wir werden mit Bildern von Kriminalität überflutet. Doch die Gewalt nimmt ab.

zeitzeichen:

Herr Professor Pfeiffer, wir leben in einer sich zunehmend auffächernden Gesellschaft. Bedarf es da eines Kitts, der das alles zusammenhält? Ich nenne nur die Stichworte "gemeinsame Werte" und "Normen". Andere sprechen von Verfassungspatriotismus.

Christian Pfeiffer:

Ich denke ja. Aber es gibt keinen Königsweg, ihn zu erzeugen. Im Prinzip geht es darum, das soziale Kapital unserer Gesellschaft zu stärken. Mit anderen gemeinsam etwas gestalten wollen: Das leisten auf lokaler Ebene schon sehr viele Institutionen, angefangen von der Freiwilligen Feuerwehr bis hin zu den Karnevalsvereinen. Alles, was Menschen zusammenführt, stärkt die Gemeinschaft. Auch die Kirchengemeinde spielt da eine Rolle. Es gibt viele Wege, diesen Kitt in der Gesellschaft zu stärken. Eine ganz neue Form, mit der ich mich gerade auseinandersetze, ist die Bürgerstiftung, in der die Zeit-Reichen, die Ideen-Reichen, die Geld-Reichen einer Region, einer Stadt zusammenkommen mit dem Vorsatz, aus eigener Kraft, mit eigenem Geld Dinge in Bewegung zu bringen. Inzwischen gibt es in Deutschland 320 solcher Bürgerstiftungen, die zusammen 200 Millionen Euro auf ihren Kapitalkonten haben, von ihren menschlichen Ressourcen nicht zu reden.

Viele Menschen in unserer Gesellschaft fühlen sich heute im öffentlichen Raum oder gar in ihrem Leben nicht mehr sicher. Worauf beruht dieses zunehmende Unsicherheitsgefühl? Mehr auf harten Fakten oder auf diffusen Gefühlen?

Christian Pfeiffer:

Wir werden stark in unserer gefühlten Sicherheitstemperatur durch das beeinflusst, was uns die Medien anbieten. Dabei sind die Bildmedien - insbesondere das Fernsehen - das Entscheidende. Da müssen wir einfach feststellen, dass wir überflutet werden mit Bildern von Kriminalität. Wenn ich die kriminalitätshaltigen Fernsehsendungen in Minuten pro Tag nehme: 1985 waren es gerade mal fünfzehn Minuten. Heute sind es um die 230 Minuten, von der Berichterstattung bis zum Kriminalfilm. Die ARD widmete früher 4,7 Prozent ihrer Sendezeit diesem Thema, inzwischen sind es 8,1 Prozent. Das ZDF ist von 8,5 auf 12,9 Prozent gegangen. Aber SAT 1 ist inzwischen bei 37,7 Prozent seiner Sendezeit kriminalitätshaltig. Kein Wunder also, dass die Angst oder anders gesagt "die gefühlte Kriminalitätstemperatur" jenseits aller Begründung durch Fakten stark angestiegen ist.

Und wie sehen die Fakten aus?

Christian Pfeiffer:

In Wirklichkeit wird unsere Umwelt sicherer. Ein Beispiel: Im Jahr 2000 hatten wir 960 vollendete Mord- und Totschlagsfälle, im letzten Jahr 614 - ein Rückgang um ein Drittel. Oder Tötungsdelikte mit Schusswaffen: Von 632 im Jahr 1995 auf 132 im Jahr 2011 zurückgegangen. Was uns im Fernsehen begegnet, dass ständig irgendwo geballert wird und ständig Leute erschossen werden, entspricht einfach nicht der Realität. Oder nehmen wir das, was die Menschen am meisten schockiert, Sexualmorde: Da lag der Höchststand mit 59 in den Siebzigerjahren, heute sind wir bei 4 angekommen.

Wie können Sie nachweisen, dass es der Fernsehkonsum ist, der die gefühlte Angst der Menschen steigert?

Christian Pfeiffer:

Wir haben seit 2004 drei Umfragen durchgeführt, die letzte 2010. Eine Frage lautete: "Vor zehn Jahren hatten wir 480 Morde. Was glauben Sie, wie viel waren es wohl im letzten Jahr?" Die meisten Menschen schätzten, es müssten inzwischen wohl 500 oder 600 sein. Dabei geht die Zahl der Morde ständig zurück. Die Leute täuschen sich gravierend über die wirkliche Entwicklung der Kriminalität. Wir haben das bei der Auswertung in Beziehung gesetzt zu der Antwort auf eine ganz andere Frage, nämlich: Welchen Sender bevorzugen Sie? Wie viele Minuten sehen Sie pro Tag? Dabei kam heraus: Je mehr die Menschen privates Fernsehen bevorzugen, umso verzerrter ist ihr Weltbild, umso erhöhter ist ihre gefühlte Kriminalitätstemperatur, umso mehr entfernt sich ihre Einschätzung von der Wirklichkeit.

Printmedien spielen da eine geringere Rolle?

Christian Pfeiffer:

So ist es. In gereimter Form hat das Goethe genial klug ausgedrückt: "Dummes Zeug kann man viel hören, kann es auch schreiben, wird weder Leib noch Seele stören, es wird alles beim Alten bleiben. Dummes aber vors Auge gestellt, hat ein magisches Recht. Weil es die Sinne gefesselt hält, bleibt der Geist ein Knecht."

Wenn nun, wie Sie sagen, die höhere Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft nur eine Legende ist - stimmt es denn, dass es ein Gewaltproblem bestimmter Schichten gibt?

Christian Pfeiffer:

Es war schon immer so, dass in der Unterschicht mehr Gewalt ausgeübt und also auch mehr erlitten wird. Täter und Opfer stammen überwiegend aus der Unterschicht. Gewalt, auch innerfamiliäre Gewalt, auch innerfamiliäre Übergriffe im sexuellen Bereich, das alles kommt natürlich auch in der Mittelschicht und in den höheren Schichten vor, aber keine Frage, es ist stärker bei denen zu finden, die im Leben zu kurz kommen, die sich am Rand der Gesellschaft fühlen, die frustriert sind.

Wie steht es mit den Jugendlichen? Immer mal wieder schockiert ein Amoklauf eines Jugendlichen oder eine exzessive Gewalttat von Jugendlichen gegen Passanten.

Christian Pfeiffer:

Gerade an diesen Beispielen lässt sich erkennen, wie die Wucht der Fernsehbilder uns falsche Eindrücke vermittelt. Es gibt aus guten Gründen Überwachungskameras in U-Bahn-Schächten, allerdings mit dem Ergebnis, dass wir grauenhafte Gewaltszenen, die sich schon immer so ereignet haben, auf einmal in der Tagesschau zu sehen bekommen. Dann ist das Entsetzen groß, wir alle fühlen Mitleid mit dem Überfallenen, wir sind emotional tief berührt von dem, was wir gesehen haben, weil es kein Film, sondern Wirklichkeit ist. Alle Menschen glauben, die Jugend ist brutaler denn je zuvor. Das Gegenteil ist richtig. Ich war gerade im Deutschen Bundestag und erntete von denen, die das Jugendstrafrecht verschärfen wollen, erstaunte Blicke über das Ausmaß des Rückgangs der Jugendgewalt: nämlich in den letzten fünf Jahren um 21 Prozent, bezogen auf je 100.000 Jugendliche. Man bekommt dann leicht zu hören: Die Zahlen mögen ja zurückgegangen sein, aber die Brutalität im Einzelfall! Früher hat man doch aufgehört, wenn einer am Boden lag, und jetzt wird weiter auf ihn eingetrampelt! - Das ist so eine Reklame-These, mal von Gewerkschaftsvertretern der Polizei, mal von Journalisten vorgetragen, weil sich das so schön verkauft. Aber die Wirklichkeit ist anders. Nehmen wir zwei Bereiche mit einer niedrigen Dunkelziffer. Erstens: Wenn jemand auf dem Schulhof oder in einem Schulgebäude so schlimm zusammengeprügelt wird, dass er ins Krankenhaus muss, dann entsteht eine Rechnung. Diese Rechnung bezahlt nicht die Schule, sondern die kommunale Unfallversicherung, bei der alle Schüler versichert sind. So werden alle Fälle lückenlos erfasst. Und was sehen wir? 1997 der Höchststand mit sechzehn Fällen - und das ist bis in die Gegenwart auf acht Fälle pro 10.000 Schüler zurückgegangen. Ähnlich steht es mit den Tötungsdelikten, verübt durch Jugendliche - sie sind schon seit 1993 um 31 Prozent rückläufig.

Die Jugend ist also besser als ihr Ruf?

Christian Pfeiffer:

Es stimmt schlicht nicht, dass die Jugend brutaler wird. Dass sie heute weniger gewalttätig ist als früher, dafür gibt es gute Gründe. So ist das massive Schlagen von Kindern durch ihre Eltern im Verlauf der letzten 20 Jahre um die Hälfte zurückgegangen. Parallel dazu hat der Anteil der von uns befragten 16- bis 40-Jährigen, die in der Familie gewaltfrei erzogen worden sind, seit 1992 von 26 Prozent auf 52 Prozent zugenommen. Da kann die Politik auch richtig stolz sein. Sie hat das elterliche Züchtungsrecht abgeschafft, sie hat zum ersten Januar 2002 der Polizei erlaubt, prügelnde Familienmitglieder für vierzehn Tage aus der Wohnung zu werfen. Das ist Kriminalprävention. Man muss wissen: Die Neuproduktion von Jugendgewalt geschieht durch prügelnde Väter und Mütter. Wir wissen, dass Kinder, die von ihren Eltern massiv geschlagen werden, fünf- bis sechsmal häufiger in Gewaltkarrieren geraten als solche, die gewaltfrei erzogen wurden.

Gibt es noch andere Faktoren, die für den Rückgang der Jugendgewalt verantwortlich sind?

Christian Pfeiffer:

Ein weiteres Feld ist die Bildungsintegration von sozialen Randgruppen. Hinsichtlich der Aussiedler etwa hat hier der Staat etwas Gutes getan: Er hat viel Geld ausgegeben, mit der Folge: Besuchten früher nur 10 bis 12 Prozent der Aussiedler das Gymnasium, sind es heute mehr als doppelt so viel. Das wirkt sich sofort kriminalpräventiv aus. Man könnte also sagen: Wer an den schönen Satz glaubt, jeder ist seines Glückes Schmied, der ist gerettet. Bei türkischstämmigen Jugendlichen und bei jungen Aussiedlern hängt die sinkende Jugendgewalt gerade mit deren verbesserter Bildungsintegration zusammen. - Übrigens hat auch die Polizei hat einen wichtigen Anteil an dem Rückgang der Jugendgewalt, etwa durch Schulbesuche, für die sympathische Beamte ausgewählt werden, die mit Jugendlichen umzugehen verstehen und die denen deutlich machen können: Steckt nicht schweigend ein, wenn euch da einer bedroht, zusammenschlägt, beraubt. Kommt zu uns, wir sind dafür da, diesen Kerlen ihre Grenzen aufzuzeigen. Die Anzeigequote der Jugendlichen ist seit 1998 drastisch gestiegen. Für Täter erhöht sich damit das Risiko des Erwischtwerdens deutlich. Wir sind bei den Bemühungen um eine Reduzierung der Jugendgewalt auf einem guten Weg.

Dennoch: Viele Menschen haben mit der Tatsache Schwierigkeiten, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind, was vornehmlich mit dem Eindruck zusammenhängt, dass sich in Deutschland zunehmend Parallelgesellschaften herausbilden. Trügt dieser Eindruck?

Christian Pfeiffer:

Nein, leider nicht. Da müssen wir mit aller Macht gegensteuern. Aus einem erprobten Einwanderungsland wie Kanada wissen wir, dass Kindergärten die Schlüsselstelle sind. Bei uns ist es so, dass Mehmet überwiegend mit Igor und Mustafa im Kindergarten sitzt. Dann lernt er kein Deutsch, dann hat er keine deutschen Freunde, dann bleibt er in seiner Clique. In der Grundschule fällt er durch störendes Verhalten auf, weil er im Unterricht nicht ganz mitkommt mit dem, was da auf Deutsch alles erzählt wird, dann macht er sich auf Türkisch über den Hintern der Lehrerin lustig, nur die Türken lachen, die anderen verstehen es ja nicht. Schon ist er ein Störer und wird manchmal in die Sonderschule abgeschoben. Das alles wäre anders, wenn Mehmet mit Max und Moritz im Sandkasten sitzt, spielend deutsch lernt, zu Kindergeburtstagen bei Deutschen eingeladen wird und einfach hineinwächst in unsere deutsche Community - ohne seine türkische Identität zu verlieren. Dass er anders ist, dass die Familie eine andere Religion hat, das bleibt ja.

Wir hatten in vielen Groß- und Kleinstädten türkischstämmige Kinder gefragt, ob sie im letzten Jahr von einem Deutschen zum Geburtstag eingeladen wurden. Die Unterschiede waren riesig. Sie reichten von 90 Prozent in Oldenburg bis zu nur 27 Prozent in Dortmund. Der Unterschied: In Dortmund leben die Türken sehr stark konzentriert in bestimmten Stadtteilen, mit der Folge, dass es reine türkischstämmige Kindergruppen in den Kindergärten gibt und dass auch in den Schulen die Menschen unter sich bleiben. Die Macho-Kultur 15-jähriger junger Türkischstämmiger in Oldenburg ist extrem niedrig und die Gewaltrate auch. Und die in Dortmund immer extrem hoch.

Die Schlussfolgerung: Wo es mit der Vernetzung klappt, haben wir gute Integrationsergebnisse - die Geburtstagseinladungen sind da ein guter Indikator.

Seit dem 19. Jahrhundert lieferte das Bürgertum das Gerüst für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Oft auch sehr entgegen dem Klischee vom Spießbürger. Verkörperte das Bürgerliche nicht auch das Dynamische? Gibt es heute noch eine gesellschaftliche Schicht, die ein Ordnungsregulativ darstellt? Kann es ein solches überhaupt noch geben, kann es in irgendeiner Weise ersetzt werden?

Christian Pfeiffer:

Das alte Bürgertum ist Vergangenheit, es lässt sich nicht wiederbeleben. Was mich fasziniert, ist das neue Bürgertum. Ich bin nun seit drei Wochen mit dem Fahrrad unterwegs, von Wismar bis in den Süden, das Ziel ist München und am Ende Berlin. Überall besuche ich Bürgerstiftungen, die dazu beitragen, dass Menschen zusammenkommen.

Ein Beispiel: Ich war gerade in Wiesloch. Da hat die Bürgerstiftung alle Gruppierungen, Kirchen, Vereine, Senioreneinrichtungen, Krankenhäuser, zusammengerufen, die sich mit alten Menschen auseinander setzen und hat gefragt, wo liegt das Problem? Nach drei Stunden Diskussion waren sich alle einig, das Problem ist Einsamkeit. Das war nicht so überraschend, aber es war so eindrucksvoll klar, und da hat die Bürgerstiftung Programme entwickelt, wie sie Jung und Alt zusammenbringt. Wie Schulklassen in Seniorenheime gehen, wie Senioren hilfreich sein können für Jugendliche. Das gelingt ihnen. Es hat mich begeistert zu sehen, wie sie die Ärmel hochkrempeln und gemeinsam Wege suchen. Und es gibt inzwischen viele erfindungsreiche Bürgerstiftungen, die aus der Freude am gemeinsamen Gestalten im sozialen Feld die unterschiedlichsten Konzepte entwickelt haben: Die einen kümmern sich um die Wiederbelebung des alten Brauchtums rund um den Maibaum, die anderen übernehmen Musikpatenschaften; der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Diese Bürgerinitiativen sind so etwas wie Kraftzentren für die Zivilgesellschaft.

Wie steht es mit der Tatsache, dass immer mehr Menschen und insbesondere Jugendliche sich immer länger in virtuellen Welten aufhalten, Stichwort Facebook?

Christian Pfeiffer:

Facebook ist für Jugendliche erst einmal eine Bereicherung ihres Lebens - sie haben sehr viel mehr Kontakte, als es früher möglich war. Gewiss gibt es die Grenze, wo Jugendliche süchtig werden, wo die virtuelle Welt Ersatz für das reale Leben wird. Jungen verfallen besonders häufig der Internetsucht. Da geht es um Online-Rollenspiele, wo sie in alle möglichen Kämpferrollen rutschen. Das ist die Flucht in die alten Macho-Rollen, die man in der realen Welt nicht mehr ausleben kann. Da entsteht ein Sonderproblem. Immerhin 16 Prozent der Jungen verbringen pro Tag mehr als 4,5 Stunden nur mit dieser Art von Online-Rollenspielen oder sonstigen Computerspielen. Bei den Mädchen sind es nur 4 Prozent. Von den Jungen geraten 8 Prozent in suchtartiges Spielen, von den Mädchen nur 0,8. Bei den Mädchen ist eher das tiefe Eintauchen ins Chatten, in Facebook, angesagt, das geht überwiegend gut, aber durchaus nicht immer. Doch besonders wichtig ist, dass sich Gesellschaft und Politik um die bedrohliche Leistungskrise männlicher Jugendlicher kümmern.

Von 100 Abiturienten sind heute 56 weiblich und nur noch 44 männlich. Die männlichen Jugendlichen dominieren mit 61 Prozent beim Sitzenbleiben und beim Schuleabbrechen. Dies liegt daran, dass viele Formen männlicher Aktivität heute nicht mehr notwendig für das Funktionieren der Gesellschaft sind. Was wir brauchen, sind Ganztagsschulen für alle, die ein Prinzip umsetzen: Lust auf Leben wecken durch Sport, durch Theaterspielen, durch Musik, durch Aktivitäten, die so interessant sind für die Jugendlichen, dass sie Leidenschaften entwickeln für bestimmte Inhalte, reale Lebensinhalte. Da brauchen wir die Zivilgesellschaft als Partner, da brauchen wir aber vor allem den Staat, der die räumlichen und organisatorischen Voraussetzungen schaffen muss. Schulen müssen den Nachmittag retten, damit diese soziale Vernetzung, die unser Ausgangspunkt im Gespräch war, dass dieses Gestalten von sozialem Kapital gelingen kann.

Welche Rolle spielen die Kirchen bei dieser "Gestaltung von sozialem Kapital", wie Sie es nennen?

Christian Pfeiffer:

Die Kirchen haben eine wichtige Aufgabe. Wenn sie Gemeindearbeit engagiert leisten, so dass die Leute mit Freuden nicht nur deshalb in die Kirche gehen, weil es da eine gute Predigt gibt, sondern auch weil es danach ein Programm gibt, wo man bei Kaffee und Tee plaudern kann, wo man Verabredungen treffen kann, weil es Programme gibt, sozial sinnvolle Dinge gemeinsam zu gestalten, wenn Kirche ihren Auftrag, Nächstenliebe praktisch umzusetzen, Ernst nimmt, und dafür etwas bietet, was Spaß macht, was die Leute überzeugt, dann erfüllt sie ihre Aufgabe auf ganz wunderbare Weise. Wo das gelingt, sind auch die Jugendlichen dabei, und dann ist Kirche ein Stärkungsfaktor des sozialen Kapitals.

Fasst man die beiden großen Kirchen ins Auge, so zeigen sich hinsichtlich der das Verhalten der Menschen steuernden Kraft große Unterschiede. Vorauszuschicken ist, dass in Ostdeutschland davon ohnehin nicht die Rede sein kann - die Kirche ist dort eine Randerscheinung. Bedeutung für das eigene Verhalten gewinnt der Glaube dort, wo man eingebettet ist in eine Gemeinschaft von Gläubigen, wo es ein tolles Gemeindeprogramm gibt, wo man zugehörig ist zu einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam ihre Religion leben - dann ist Religion etwas Wunderbares, vorausgesetzt, dass ihre Repräsentanten nicht autoritär und machtbewusst auftreten, sondern sich offen positiv auseinandersetzen mit den Gemeindemitgliedern. Das gibt es in katholischen und evangelischen Gemeinden.

Gibt es dennoch einen Unterschied zwischen den Konfessionen?

Christian Pfeiffer:

Nur mit dem Unterschied, dass in der katholischen Welt das intensiver ist. Das hat damit zu tun, dass die jungen Katholiken schon im Alter von neun in die Kirche eingeführt werden, Wertschätzung erfahren, speziellen Unterricht und dann dieser feierliche Tag, wo sie dann erstmals die Hostie empfangen. Die evangelische Kirche wartet, bis die Pubertät kommt, dann beginnt der Konfirmandenunterricht. Das Ergebnis: Der Anteil derer, die wirklich Kirchenchristen sind in dem Sinne, dass sie eingebettet sind, dass sie in den Gottesdienst gehen, dass sie in der Kirche vernetzt sind, liegt bei den Evangelischen nur bei 16 Prozent, bei den Katholiken immerhin bei 25 Prozent, bei den Migranten aus Polen sind es fast 50 Prozent.

Durch die evangelischen Kirche wird eine wichtige Gruppe kaum erreicht: Das sind die Kinder, die aus Familien stammen, wo die Eltern nicht Abitur und Studium hinter sich haben. Die werden von der katholischen Kirche über dieses breit gefächerte Programm der Ministranten, über 400.000 in Deutschland, weit besser integriert. Auch dadurch entsteht Kirchennähe und Gemeinschaft, und der Glaube wird handlungspraktisch wirksam. Das nüchterne Fazit ist deshalb: Die evangelischen Gemeinden erreichen es viel zu selten, dass die Jugendarbeit wirklich eine starke Vernetzung bewirkt und dass dadurch positive Effekte auf das Leben der Betroffenen entstehen. Die katholische Kirche ist hier besser aufgestellt. Da könnte die evangelische von der katholischen Seite etwas lernen.

Das Gespräch führte Helmut Kremers am 25. Mai.

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