Vielleicht ist Lust ein Beiname Gottes

Eine theologische Miszelle zu dem Roman "Parallelgeschichten" von Péter Nádas
Ferdinand Hodler: Studie zu "Liebe", 1907/08. Foto: akg-images
Ferdinand Hodler: Studie zu "Liebe", 1907/08. Foto: akg-images
Kann ein Roman theologische Einsichten vermitteln? Klaas Huizing, Theologieprofessor und Schriftsteller, hat bei der Lektüre eines Riesenwerkes mancherlei und manche Art von Ein- und Durchblicken gewonnen und durchaus genossen - und siehe, dabei kristallisierten sich ein paar heraus: theologische Einsichten nämlich.

Dies wird eine Hymne. Das möchte ich sofort klarstellen. Die Vorwarnung ist aber vielleicht gar nicht nötig, denn - protestantische Leidensfähigkeit hin oder her -, wer liest sich schon durch 1724 (in Worten eintausendsiebenhundertvierundzwanzig) Seiten, um anschließend zu einem Verriss auszuholen? Nein, ich hätte das Buch vorher aus der Hand gelegt oder in die Ecke gepfeffert, wenn es mich maßlos gelangweilt oder geärgert hätte. Aber 1724 Seiten, über vierzig Lesestunden - das wollte gut überlegt sein.

Das Buch wirkte noch schwerer und kompakter, als ich es aus der Zellophanverpackung befreite. Es wehrte sich dagegen, viel auf Reisen zu gehen, erwies sich als U-Bahn- und Bus-untauglich. Sogar eine kraftsparende Leseposition musste ausgetüftelt werden. Ich kämpfte tagelang mit der frustrierenden Erfahrung Dünndruckseiten zu lesen: Nach einem langen Leseabend ließ sich der Fortschritt kaum messen. Und ein Pageturner ist dieses Buch, obwohl es wie ein Krimi startet, auch nicht, man merkt den Sätzen dieses Romans, auch wenn die faz lobt, er sei "leicht zu lesen", die Länge des Herstellungsprozesses an, immerhin achtzehn Jahre. Nádas ist kein hyperaktiver Schreiber, sondern er legt gekonnt Sprachgitter aus, in denen sich auch kleinste Fetzen von sedimentierten Gefühlslagen und der Staub der Erinnerungen festsetzen. Zur mikroskopischen Genauigkeit dieser Poetik, die auf Seiten des Lesers zur Entschleunigung zwingt, gesellt sich eine hoch interessierte, aber nüchterne Erzählhaltung, die an Zeugenschaft erinnert. Von einer geschwätzigen Wehleidigkeit wie bei Philip Roth oder einer Suada wie bei Thomas Bernhard ist Nádas auch deshalb weit entfernt, weil das überreiche Personeninventar dieses Romans nahezu unendlich viele Abspaltungsfiguren und Doppelgänger von Nádas bereit hält.

Worin besteht aber der Reichtum dieses Buches, das am Beispiel exemplarischer Figuren über siebzig Jahre der ungarischen und europäischen Geschichte einfängt?

Antwort: Es ist ein nie protzender Jahrhundert-Roman über die Rituale der Scham, der Beschämung und der Entschämung. In ganz unterschiedlichen Kontexten taucht das Wort Scham über eintausend Mal auf. Genauer: Nádas bietet eine minutiöse romanhafte Erkundung über die Scham und das Begehren, die zusammen Motor privater und politischer Geschichte sind. Parallelgeschichten eben. Nichts läuft glatt, alle Figuren sind beschädigt, halbiert, vereinsamt, bloßgestellt, werden vom Begehren umhergeworfen, von Verlustangst regiert, sehnen sich nach anderen Leibern und/oder dem nationalen ungarischen Körper. Und immer schneidet Nádas Szenen dazwischen, die zeigen, wie gezielt eingesetzte Beschämungen, etwa in der Körperpolitik der Nationalsozialisten, Menschen stigmatisieren.

Viele Geschichten sind Nachbarn in diesem Buch, laufen eine Zeit lang parallel nebeneinander her, überschneiden sich, trennen sich dann wieder, bilden einen Reigen, mehrfach wechselt die Perspektive in einem Satz, präzise Beobachtungen und mäandernde Dialoge schieben die Augen über die Seiten. Aber dann ganz plötzlich, wie ein epiphanes Leseerlebnis, taucht der oben zitierte Satz, der nach einem Textmarker schreit, auf Seite 626 auf: "Lust ist wahrscheinlich ein Beiname Gottes."

Hier werden nicht hintersinnig die lüsternen griechischen Götter recycelt (wie in dem etwas altväterlichen Roman von John Banville: Unendlichkeiten), sondern Nádas sympathisiert mit den christlichen Mystikern und erweckt sehr viril die alte Brautmystik zu neuem Leben: "Er vermochte nur zu denken, dass er auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, den einzigen greifbaren Wegweiser der Schöpfung in der Erektion finden würde." (879)

Nicht wenige Seiten wendet Nádas auf, um das sexuelle Begehren, in welcher Kombination auch immer, falscher Scham zu entkleiden. Nádas schreibt einen Roman der körperlichen Entschämung, ringt unterwegs unterschwellig-vielzeilig mit zu lange gehätschelten und abgewetzten Traditionen (Gnosis, Origines, Augustin, Calvin), die in ihrer Körperfeindlichkeit den Beischlaf diskriminieren. "Vielleicht tat das Begehren weh" (294), aber Sexualität, die den anderen nicht instrumentalisiert, erweist sich als der Königsweg zum Anderen, der eingeschlagen werden kann, nachdem jeder in einer großen Entdeckungssituation der Scham auf die eigene Unvollkommenheit, Vereinzelung und Einsamkeit aufmerksam geworden ist und begehrt, den Bruch zwischen sich und dem Anderen zu schließen. Durch diese Schule der Scham und Entschämung muss jeder hindurch.

Wer so viele Seiten Platz hat, der kann der Leserin und dem Leser auch die längste Beischlafszene der Literaturgeschichte gönnen, über einhundert Seiten lang - diesseits der Pornographie, denn obwohl es in diesem Buch um alle denkbaren Facetten des Begehrens geht, verweigert der Autor den schnellen Erguss.

Mit leicht entzündeten Augen folgt man den Protagonisten vier Tage lang bei ihrem warmen Liebesringen. Lange sieht es so aus, "dass sie sich vergeblich bemühten. Sie würden zu keinem Abschluss kommen", heißt es im Roman, und nahezu alle Rezensenten zitieren in ihren Besprechungen milde melancholisch diesen Satz, überblättern aber offensichtlich einige Seiten im Mittelteil des Romans, die doch noch ein glückliches Finale schildern, denn schließlich fließt durch einen Einsatz von zusätzlicher Körperflüssigkeit doch noch alles, Panta Rhei, und beide erleben sich vereint "im Gefühl eines großen gemeinsamen Siegs" (601).

Dieser Sieg ist ein Sieg, auch wenn sich die beiden Protagonisten Ágost und Gyönyvér später in den Wirren des Kalten Kriegs doch wieder aus den Augen verlieren. Die sinnlich-mystische Verschmelzung gelingt, obwohl die Sprache an dieser Stelle im Roman kaum mithalten kann, weil sich der Erzähler als Zeuge - vielleicht aus falscher Scham - einen Hymnus verbietet. Aber eine umwerfende Lendenlegende hat Nádas uns geschenkt, das ja.

Der Ort der Ähnlichkeit

Nádas kann mit subtilem Witz sogar verorten, wo präzise Mann und Frau vergleichbar fühlen: "Bestimmt ist es ein anderes Gefühl, jemanden auszufüllen, als von jemandem ausgefüllt zu werden, diese Gefühle sind nicht austauschbar; doch an dem Punkt auf halbem Weg zwischen Anus und Geschlechtsteil, wo sich der Muskel in der Form einer Acht um sich schließt, haben Frauen und Männer wahrscheinlich ein ähnliches Körpergefühl." (392) Und dann diese ungeschönte Ehrlichkeit: "Das Gesicht in Ekstase ist erschreckend, und ohne Befremdung oder Ekel erträgt man es nur, wenn man in der Verzerrung des anderen Gesichts das Spiegelbild der eigenen Gier und Selbstsucht erblickt." (402)

Mit sicherem Gefühl navigiert Nádas durch die unterirdischen Erinnerungs- und Erfahrungsräume. Als großer Entschämer der antiseptischen Religionsgeschichte gönnt er sich dabei viele Parodien. Eine der schönsten Parodien ist die der Maria lactans, jetzt lesbisch gebrochen: Die Protagonistin Erna erfährt intimes Glück, als sie sich mit großem Durst über die prallvollen und prachtvollen Brüste des holländischen Dienstmädchens Geerte van Groot hermachen darf. Oder: In einer schwulen Initiation auf der Margareteninsel, die Nádas als ironische Abenteuergeschichte inszeniert, ist das sehr irdische Personal doppelt besetzt. Und der Garten Eden ist ein ziemlich runtergekommener eingezäunter Hain.

Diese Parodien sind weder laut noch leise aggressiv, wollen nicht verstören, machen vielmehr den Härtetest darauf, wie aufgeklärt und körperfreundlich die christliche Religion ist.

Findig erkundet und prüft Nádas zwei andere Felder der Mystik, neben der Sexualität sind es die Erotik und die Sinneswahrnehmung. Zu den eindringlichsten Partien des Romans zählen die Szenen, in denen Kristóf und Klára in großen Erzählbögen durch ihr manchmal sehr lautes Sehnsuchtslabyrinth tappen, bis auch hier ein Protagonist ohne je in Kitsch abzugleiten leise ein "vollbracht" hauchen kann: "Es war ein stilles, aber großes Glück, das sie miteinander und wegen einander erlebten." (1584)

Völlig überraschend schreibt Viktória Radics am Ende ihres oft klugen Essays in dem Band Nádas lesen : "Nicht die Sexualität ist bei Nádas mystisch, auch nicht die Erotik, sondern die Sinneswahrnehmung, die ans Unendliche andocken kann." Damit prolongiert sie das ewig falsche Verständnis über Scham, Sexualität und Erotik, glaubt schrecklich verklemmt nur an den poetischen Weg zum sprachlichen Höhengrat, glaubt nur in der unendlichen Vernetzung der Sinneseindrücke, die diese körperaffine Sprache bietet, die Umsetzung des mystischen Projekts angemessen dargestellt. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit.

Nochmals: Augenblicke der Scham, die sich wie eine zwiespältige Gabe einstellen, sind es, die jedem Protagonisten des Romans die Erfahrung der Halbierung, Entzweiung, Vereinzelung erlauben und damit das Verlangen auslösen, diese Halbierung, Entzweiung, Vereinzelung zu überwinden. Sexualität und die Erotik sind dazu die Königswege, sofern man den anderen nicht für die eigene Lust missbraucht. Noch Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Vorlesung Schöpfung und Fall die Sexualität sehr krude als völlig falschen Weg zur Überwindung der Scham denunziert, eine geistlose Volte, weil sogar die lutherische Übersetzung der Schöpfungserzählung das Wort "Erkennen" sowohl für die Erkenntnis des Getrenntseins im Augenblick der Scham als auch für den Beischlaf als wenigstens kurzzeitige Verschmelzung von Adam und Eva einsetzt: "Und Adam erkannte Eva." Die Bibel ist sehr viel körperfreundlicher, als es wir Theologen in unserer oft gnostischen und augustinischen Verblasenheit wahrnehmen wollen. Vielleicht braucht es 1724 Seiten eines Romanciers, um die über Jahrhunderte hindurch gefälschte Geschichte über Scham und Sexualität zu korrigieren.

"Lust ist wahrscheinlich ein Beiname Gottes." - Wahrscheinlich? - Höchstwahrscheinlich.

Informationen:

Péter Nádas: Parallelgeschichten. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. 1724 Seiten, Reinbek bei Hamburg 2012, Euro 39,49.

Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten. Herausgegeben von Daniel Graf und Delf Schmidt, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2012, 240 Seiten, Euro 16,95.

John Banville: Unendlichkeiten. Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 319 Seiten, Euro 19,99.

Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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