Würdig, glücklich zu sein

Zur Lebensberatung in die philosophische Praxis - ein dritter Weg
Marc Chagall: Der Spaziergang, 1917. Foto: akg-images/Russian Look
Marc Chagall: Der Spaziergang, 1917. Foto: akg-images/Russian Look
In einer Lebenskrise suchen Menschen Seelsorger auf oder Therapeuten. Manche wenden sich aber auch an einen Philosophen. Anfang der Achtzigerjahre gründete der Philosoph und Dozent Gerd Achenbach die erste philosophische Praxis, mittlerweile gibt es nach Auskunft der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis mehr als hundert in Deutschland. Christiane Pohl führt eine von ihnen. Die Journalistin Natascha Gillenberg hat sie besucht.

Eine Altbauwohnung in der Hamburger Innenstadt: Dielenboden, gelbe Wände, eine hohe Bücherwand. Das Pendel einer antiken Standuhr tickt leise hin und her. Susanne Färber (Name geändert - die Red.) hat es sich auf dem roten Sofa bequem gemacht, eine dünne Porzellantasse in ihren Händen. Im Raum duftet es nach Orange.

So fängt es immer an mit ihr und Christiane Pohl, der Philosophin, die sie seit einiger Zeit regelmäßig zur Beratung aufsucht. Eine Tasse Tee, ein paar Nüsse - und dann sprechen beide über die Fragen, mit denen Susanne Färber derzeit so sehr ringt.

"... wie die Heilkunde unnütz ist, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch die Philosophie nichts, wenn sie nicht die Leiden der Seele vertreibt." Epikur (um 341-270 v. Chr.)

Susanne Färber erzählt von der großen Zäsur in ihrem Leben: von den fünf Jahren, die sie als Wissenschaftlerin in Tokio verbrachte, gemeinsam mit ihrem Mann, einem Japaner. Bis das große Erdbeben kam, der Tsunami, und mit ihm die Atomkatastrophe. Das Ehepaar verließ das Land, ließ dabei Freunde, Familie, ihre Arbeit zurück. Susanne Färbers Mann muss sich nun in einer ihm neuen und fremden Kultur zurechtfinden. Es war eine Entscheidung von großer Tragweite für beide, und Susanne Färber hat sich lange gefragt, ob es die richtige war. Ob sie nicht ihrem Mann zuliebe in Japan hätte bleiben sollen, ihre Angst vor einem weiteren Erdbeben und der Radioaktivität beiseite schieben.

Ethische Fragen

Es ist ein Konflikt, über den sie mit Freunden nicht gut reden konnte. Und für den auch kein Psychologe infrage kam - weil es ihr nicht um therapeutische Fragen ging, sondern um ethische. Und so kam sie eines Tages zu Christiane Pohl, die in Hamburg seit rund zwanzig Jahren eine philosophische Praxis betreibt. Sie sprechen darüber, wie man Entscheidungen fällt, auf welcher Grundlage man sie unter Umständen treffen muss. Und wie man es bewertet, nicht mit letzter Sicherheit wissen zu können, welche Konsequenzen eine Entscheidung im Leben haben wird. Mit einer Tasse Orangentee in der Hand denken sie gemeinsam nach über Verantwortung für sich, für andere, über ihre Grenzen, welche Rolle Freiheit dabei spielt. Pohl lässt sich von Färber erzählen, von den alltäglichen Geschichten, den konkreten Situationen, die zur Belastung werden. Die Basis für solch ein philosophisches Gespräch ist für Christiane Pohl das intensive, empathische Zuhören - eine aktive Tätigkeit im Sinne Emmanuel Levinas, sagt sie, mitunter "eine leibliche Erfahrung". Allein dadurch, dass jemand auf diese Weise zuhöre, eröffne sich dem anderen oft ein neuer Blick auf sein Leben.

Bei manchen ihrer Klienten merkt sie die Scham, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mit ihnen spricht sie dann über Karl Jaspers, den Philosophen der Kommunikation. Von ihm könne man lernen, dass man erst durch den Austausch mit anderen weiterkomme - allein bleibe man in sich gefangen.

"Die Wahrheit beginnt zu zweien." Karl Jaspers (1883-1969)

Gemeinsam mit ihren Klienten sucht Pohl nach dem philosophischen Begriff, dem Grundgedanken, der hinter einem Konflikt liegt. Einmal beispielsweise kam ein Mann zu ihr, der darunter litt, in einer Ehe zu leben, in der seine Frau ihn immer verstand. "Was er auch tat", erzählt Christiane Pohl, "sie verstand ihn. Und das machte ihn wahnsinnig." Sie lacht vergnügt, als sie die Geschichte erzählt.

Die Philosophin und ihr Gesprächspartner dachten also darüber nach, wieso ihn das Verständnis der Ehefrau so unglücklich machte. Und kamen schließlich darauf, dass er sich nach Freiheit sehnte. Und diese Sehnsucht hatte seine Frau ignoriert. Oder wie Pohl es erklärt: "Sie hat ihn - philosophisch gesprochen - zu einem Objekt gemacht, das sie genau versteht, also eigentlich beherrscht, so dass er das Gefühl hatte: Ich bin überhaupt kein Subjekt mehr, kein ernstzunehmender Partner, der seine Freiheit und darin auch seine Würde hat." Das philosophische Gespräch ermöglichte dem Klienten, sich selbst besser zu verstehen.

Beziehungen, Liebe, Arbeit, die Suche nach Sinn und Orientierung im Leben: Es sind die großen, alten Fragen, über die Christiane Pohls Besucher reden möchten. Zu ihr kommen Geisteswissenschaftler und Ärzte, Lehrerinnen und Handwerker, Bauern, Vikarinnen, Apothekerinnen und lkw-Fahrer. Manch einer hat zu Beginn ein wenig Hemmungen und sorgt sich, nicht intellektuell genug zu sein oder zu wenig zu wissen.

Jeder ist Philosoph

Aber das legt sich jedes Mal ziemlich schnell. "Wir sind einfach Menschen, die sich gemeinsam über philosophische Fragen Gedanken machen", sagt Pohl. Und sie ist zutiefst überzeugt: Jeder ist Philosoph. Und müsse es in der heutigen Zeit auch sein, weil es die vorgefertigten Antworten nicht mehr gebe, man selbst nach Orientierung suchen müsse. "Es geht darum: Wie soll ich mein Leben ausrichten, um auch seelisch unbeschadet durchs Leben zu kommen?" Das kritische, vernunftgeleitete Suchen nach einer sinnvollen und guten Lebensführung ist dabei eine der ursprünglichsten Aufgaben der Philosophie.

Und Christiane Pohl ist überzeugt: Philosophie ist immer Teil unseres Alltags. Das wurde einem ihrer Klienten klar, der nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, als eine Baufirma nicht wie vereinbart sein Haus trockengelegt hatte. Er musste entscheiden: Bin ich großzügig und beauftrage einfach die nächste Baufirma? Oder habe ich ein starkes Gerechtigkeitsideal und möchte für mein Geld die entsprechende Leistung erhalten? Bin ich eher ein ausgleichender Mensch und suche mir einen Mediator, der im Konflikt vermittelt?

In der Haltung, mit der wir uns dem Leben und anderen Menschen nähern, und in den Entscheidungen, die wir fällen, drückt sich unser Selbstverständnis aus. Und das sei immer von philosophischen Grundannahmen geprägt, meint Pohl.

Sie findet für jeden den passenden Philosophen. Platon zum Beispiel, der an das Gute im Menschen und der Welt glaubt. Der die Vorstellung hat, dass die Menschen durch das Denken "nach Hause kommen" können. Der daran glaubt, dass sie in der Lage sind, das Gute, das Schöne und Gerechte zu erkennen, weil sie es selber in sich tragen und weil sie mit dem Guten und Schönen außerhalb ihrer selbst verbunden sind. Diese lebensbejahenden Ideen von Platon, so die Erfahrung der Philosophin, haben manchen ihrer Klienten sehr geholfen.

Seneca bei Burnout?

Christiane Pohl bringt auch gern Seneca ins Gespräch, der die Menschen an die Kürze des Lebens erinnert. Sie glaubt, seine Philosophie sei gerade für diejenigen wichtig, die sich durch ihre Arbeit ausgebrannt fühlen. Durch ihn könnten sie lernen, wieder mehr den Augenblick wahrzunehmen. Aber nicht nur Senecas Gedanken, sondern auch seine Biographie schaffe neue Perspektiven - nicht zuletzt seine Erfahrung der Verleumdung, und sein lebenslanger Kampf gegen die Furcht vor dem Tode. Der Ehemann von Susanne Färber, der nach dem Erdbeben mit ihr aus Japan fortgegangen war, findet im Studium von Senecas Leben Kraft, weil der Philosoph stärker sein wollte als seine Angst und sein Schicksal.

Ein weiterer wichtiger "Gesprächspartner" in ihrer philosophischen Praxis ist Friedrich Nietzsche. Man könne von ihm lernen, "die Wahrheit wie mit einem Kaleidoskop zu sehen und immer wieder einen anderen Blick auf die Dinge zu werfen", sagt Pohl. Vor allem aber habe er "ein so feines Gespür für die Menschen" und helfe, über Schuld nachzudenken.

"Das habe ich getan", sagt mein Gedächtnis. "Das kann ich nicht getan haben", sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich.

"Endlich - gibt das Gedächtnis nach." Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Christiane Pohl zitiert diesen Satz und lacht wieder einmal belustigt: "Dabei muss ich an bestimmte Politiker denken, die sich auch an nichts mehr erinnern können." Die Philosophin lacht oft und gern, und ihre Heiterkeit spiegelt eine grundsätzliche Gelassenheit dem Leben gegenüber. Vermutlich mag sie deshalb Montaigne so gern, diesen "sehr lebenspraktischen Philosophen", dessen kleiner Aphorismus ihr Bücherregal ziert:

"Es gibt nur ein Zeichen für Weisheit: gute Laune, die anhält". Michel de Montaigne (1533-1592)

Nicht in jedem Gespräch sind Philosophen oder deren Texte wichtig. Entscheidend ist vor allem das vernünftige Gespräch. Dennoch kam einmal eine Frau zur Philosophin mit der Bitte, ihr zu helfen, die Vorsokratiker zu verstehen. Also haben sie sich über Wochen durch die Texte der antiken Philosophen gelesen.

Ein solcher Wunsch ist aber eher selten. Dass Christiane Pohl überhaupt philosophische Texte mit ihren Klienten liest, kommt zwar vor, aber nicht immer systematisch und umfangreich. Und manchmal führt ein philosophisches Gespräch auch fort vom roten Sofa, hinaus auf einen Spaziergang zu zweit - "solche Klienten liebt mein Hund".

Ein Gedanke kann reichen

Mitunter reicht ein einziger Gedanke eines Philosophen, um dem Besucher in einer Lebenskrise weiterzuhelfen. Das war der Fall bei dem Mann, der in die philosophische Praxis kam, weil es in seiner Familie zu Auseinandersetzungen über eine Erbschaft gekommen war. Er war ratlos und wusste nicht mehr, wie er sich seinen Geschwistern und seiner Mutter gegenüber verhalten sollte. Im Laufe des Gesprächs kam Christiane Pohl auf Immanuel Kant. Diesen Philosophen findet sie eigentlich meist nicht hilfreich, sagt sie, denn sein kategorischer Imperativ setze immer schon voraus, dass man wisse, was richtig sei. Aber Kant hatte auch eine andere Überlegung formuliert:

"Tue das, wodurch Du würdig wirst, glücklich zu sein." Immanuel Kant (1724-1804):

Als ihr Klient diesen Satz hörte, sei er wie elektrisiert gewesen, erinnert sich Pohl. "Das war der Satz, den seine Seele gebraucht hat; der hat seine Probleme gelöst."

Sätze, die die Seele braucht: Dazu gehören in einer Philosophischen Praxis auch immer wieder religiöse Fragen. Vor einigen Jahren kam ein lkw-Fahrer zu Christiane Pohl, weil er Angst hatte vor Gott. Wie sich herausstellte, war er in eine Gemeinde geraten, die ihm das Gefühl vermittelt hatte, weder sich selbst noch Gott, noch den Gemeindemitgliedern genügen zu können. Mit einem Pastor konnte und wollte er aufgrund dieser Erfahrung darüber nicht reden.

Aber als Philosophin über Gott zu reden, findet Christiane Pohl, sei tatsächlich nicht ganz einfach. Sie habe ihm helfen können, weil sie selbst ein gläubiger Mensch sei - "aber ohne Angst". Gemeinsam begannen sie, einige Texte aus der Bibel zu lesen, "solche, die Vertrauen schenken und einen Glauben ohne Furcht vermitteln". Und sie sprachen über kurze Stücke von Karl Jaspers, aus seiner "Kleinen Schule des Philosophischen Denkens". Der Klient fand in ihrer Praxis seinen Glauben wieder und besucht heute eine andere Kirche. Christiane Pohl jedenfalls ist es wichtig, auch religiöse Fragen zuzulassen. Für sie gehören diese Fragen zum Menschsein - und daher auch in ihre philosophische Praxis.

Fragen nach dem Sinn

Immer wieder kommen auch Klienten in ihre Praxis, die psychisch krank sind, die unter Psychosen leiden oder an Depressionen erkrankt sind; einer der Klienten kommt aus der forensischen Psychiatrie.

Gerade depressiv Erkrankte, stellt sie fest, haben oft das Bedürfnis nach Gesprächen über die Fragen nach dem Sinn des Lebens: Warum lebt man, worum soll man sich bemühen, wenn man doch irgendwann stirbt? Dies sind zutiefst existenzielle, philosophische Fragen. Doch Menschen mit Depressionen können sich von ihnen oft nicht lösen, kreisen permanent um sie, während andere diesen Fragen nachgehen, sich aber auch immer wieder anderem zuwenden können.

Christiane Pohl unterscheidet sehr wohl: Seelische Probleme gehören in die Psychologie. Wenn sie den Eindruck hat, ein Therapeut könne eher helfen, verweist sie Klienten an einen entsprechenden Kollegen. Zur Philosophie gehören die ethischen Fragen, also die, die oft mit Handlungsoptionen zusammenhängen und deren Konsequenzen auch andere Menschen betreffen können. Hier sind dann philosophische Ansätze gefragt.

So, wie für Susanne Färber, die sich darüber klar werden möchte, wie sie den Entschluss, aus Japan fortzugehen, für sich und für ihren Mann verantworten kann. Und die nach den Gesprächen mit der Philosophin für sich aber weiß: Es war eine Entscheidung, die im Einklang mit ihren eigenen Überzeugungen steht - auch, wenn sie nicht weiß, wie sie sich in den kommenden Jahren auswirken wird.

Christiane Pohl
Internationale Gesellschaft für philosophische Praxis

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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