Gegen den Zeitgeist

Autobiographische Gespräche
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Das Buch ist gegen den so genannten "Zeitgeist", gegen die Quote, gegen Virtualisierungen geschrieben. Aber ist es überhaupt ein Buch?

Eine Stelle macht das Buch zum Zerreißen spannend: Der 14-jährige Robert Spaemann, 1927 geboren, befindet sich auf der Heimfahrt vom Gymnasium nach Hause. Juden müssen in dieser Zeit den Judenstern tragen, noch ist es ihnen erlaubt, die Straßenbahn zu benutzen. Ein junger Schnösel steigt ein und schnauzt einen alten Sternträger an, er habe keinen Anspruch auf den Platz. Er solle aufstehen. Für Spaemann ist klar: Er hätte sofort dem alten Mann seinen Platz anbieten müssen. Doch er blieb sitzen: "Bis heute schäme ich mich." Er entwickelte eine ungeheure Wut gegen die, "die es fertiggebracht hatten, mich zu diesem Sieg der Feigheit zu veranlassen".

Das Buch ist gegen den so genannten "Zeitgeist", gegen die Quote, gegen Virtualisierungen geschrieben. Aber ist es überhaupt ein Buch? Es ist eine "Autobiographie in Gesprächen". Man nimmt dem Interviewer Stephan Sattler durchaus ab, dass sich der unbequeme Philosophieprofessor Spaemann überzeugen lassen musste. Spaemann besinnt sich auf die früheste Kindheit. Er erinnert sich an das unbeschreibliche Wohlbehagen des Dreijährigen, der, auf dem Schoß der Mutter liegend, in der Benediktinerabtei St. Josef im westfälischen Gerleve aufwacht, während die Mönche psalmodieren: "Froh bin ich, da mir gesagt wird: Lasst uns aufmachen, in das Haus des Herrn zu gehen."

Dieser Geist seiner Kindheit hat Robert Spaemann gegen die menschenmordende Pest der Nazis imprägniert. Er erlebt das Verschwinden der Juden und befragt Soldaten auf Heimaturlaub. Die Juden wurden nicht zu einem Arbeitseinsatz in der Kriegsindustrie deportiert: "Ich wusste, dass sie vergast wurden."

Wie hysterisch und aufgeladen die Stimmung in den Siebzigerjahren war, zeigt ein Gespräch in dem Buch, bei dem es um den Besuch der Spaemanns bei der Schriftstellerfamilie Böll in dem Eifeldorf Langenbroich geht. Beide Familien wollen einen Urlaub in Irland besprechen, wo sich Böll ein Haus auf Achill Island gekauft hat. Da klopft es. Das Haus ist von Polizisten mit Maschinenpistolen umstellt, ein Polizist verlangt die Ausweise. Spaemanns tragen ihre nicht bei sich. Die Polizei ruft die Kinder an, die auf die Frage, wo die Eltern seien, antworten: "Bei Bölls in der Eifel". Die Identität ist nun geklärt. Beide Ehepaare standen in Kontakt mit Ulrike Meinhof.

Aus der Nazi-Vergangenheit folgte für Spaemann, dass höhere Bildung bei Fragen über das Gute oder Böse wenig bedeuten muss. Es gebe einfache Menschen, die mit einem "wunderbaren sittlichen Feingefühl ausgerüstet sind". Und es gäbe "hochgebildete Menschen, die skrupellose Egoisten sind und denen die Vernunft als 'Diebesleuchte der Wissenschaft' dient". Dabei bezieht er sich auf dem Philosophen Immanuel Kant. Für Spaemann folgt: Wenn man aus der Lektüre neben Jesus Christus und dem Evangelium noch einen herausheben wolle, dann könne das nur der Königsberger Philosoph sein.

Robert Spaemann: Über Gott und die Welt. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 350 Seiten, Euro 24,95.

Rupert Neudeck

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