Fußball gegen das Grauen

Zwei "verrückte" Schwestern haben hinter den Bergen von Ayacucho viel bewegt
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Früher tobte in den peruanischen Anden der Bürgerkrieg, heute bauen sich die Menschen ein neues Leben auf. Gemeinschaftsarbeit und Frauenfußball heilen allmählich die psychischen Wunden.

Gladis hat die erste Halbzeit verpasst. Sie musste ihrer Mutter noch im Haushalt helfen, bevor sie zu Fuß zum Turnier kommen konnte. Eine Stunde dauert der Weg über die Hügel. Jetzt steht es Null zu Eins für Catalinayoc, wie konnte das passieren? Entschlossen legt die 15-Jährige ihren Hut auf die Tribüne, streicht den Rock noch einmal glatt und stürmt aufs Feld. Regen prasselt auf den Betonboden, Pfützen spritzen, Sandalen fliegen durch die Luft - die sind fürs Fußballspielen wirklich nicht gemacht - aber den Spielerinnen ist das alles völlig egal. Kreischend und lachend rennen sie über den Platz, zwölf junge Frauen mit pechschwarzen Zöpfen, bunten Röcken und selbstgestrickten Leggings. Die Zuschauer auf den Tribünen johlen und grölen. "Maura, was ist mit deiner Abwehr?", ruft einer, "Geh' ran an den Ball!", ein anderer, oder: "Carmen, beweg dich!" "Früher haben hier nur Jungs Fußball gespielt", sagt Olpeano Ccallocunto. "Seit ein paar Jahren spielen auch die Frauen und das finde ich toll!" Der alte Mann kommt gerade vom Feld. Zusammen mit seinen Nachbarn hat er Bäume gepflanzt, einen ganzen Hang voll. Jeder hat dreißig bis fünfzig Setzlinge mitgebracht, die sollen später den Boden schützen, Feuchtigkeit halten und Schatten spenden. Es muss endlich wieder bergauf gehen in den Hochlanddörfern oberhalb der Kolonialstadt Ayacucho. Viel zu lange hat hier der Bürgerkrieg getobt, viel zu brutal war der Kampf zwischen der linken Guerillaorganisation "Leuchtender Pfad" und dem peruanischen Militär. Bei allen Gräueltaten standen die Dorfbewohner zwischen den Fronten. Zum Glück gehört das alles der Vergangenheit an. Tor für Puncopata! Gladis fällt ihrer Heldin jubelnd um den Hals. Ausgleich, Eins zu Eins! Die gegnerische Torhüterin stampft wutentbrannt mit den Füßen auf, so ein Elend, kurz vor Abpfiff noch einen 'rein zu bekommen. "Fußball ist unsere Therapie", sagt Marcela Machaca Mendieta. "Es hilft uns, unsere Gefühle auszudrücken." Die lagen jahrelang vergraben unter Angst und Schrecken. Guerilla und Militär gaben sich nichts: Jeder zerrte an der Be-völkerung, wer nicht kooperierte, geriet in Verdacht, auf der Seite des Gegners zu stehen - ein aussichtsloses Spiel für die Menschen vor Ort. Natürlich gab es auch überzeugte Kämpfer, Spione und Verräter, aber die meisten Bauernfamilien standen zwischen den Fronten. Marcela Machaca Mendieta hat frü-her selbst mitgekickt, aber seit der Leis-tenoperation im vergangenen Winter ist sie nicht mehr so recht auf die Beine gekommen. Also sitzt die 48 Jahre alte Agrarwissenschaftlerin auf der Tribüne und schaut zu. Die Angst bleibt Ihre Schwester Victoria steht gegenüber bei den Schiedsrichtern. Sie leitet die Gruppe für Waisenmädchen von aba, der lokalen Organisation, die sich seit zwanzig Jahren für ein besseres Leben hier in Quispillaccta einsetzt. Natürlich dreht sich bei aba viel um Ernährungssicherung, Umweltschutz und Vermarktungsstrategien für ökologi-schen Knoblauch oder Hochlandkäse aus Kuhmilch. Deshalb bekommt sie auch Spendengelder von der Deutschen Welthungerhilfe. Darüber hinaus geht es aber auch um den Erhalt der indigenen Kultur, um ein stärkeres Selbstbewusstsein und die Aufarbeitung der Kriegstraumata. Jeder Mensch in Quispillaccta lei-det noch heute unter den Folgen des Bürgerkrieges, selbst junge Leute wie Gladis Nuñez. Als sie 1996 zur Welt kam, war das Schlimmste schon überstanden. Vorbei waren die öffentlichen Hinrichtungen der Guerilla, vorbei die Folterungen des Militärs, vorbei die systematischen Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen. Keine Leichen lagen mehr auf den Straßen, aber das Schweigen und die Angst blieben im kollektiven Bewusstsein tief verwurzelt. Als Gladis geboren wurde, starb ihr Vater. Sie war das jüngste von fünf Kindern und ihre Mutter hatte schwer damit zu kämpfen, alle satt zu bekommen. Der damalige Präsident Alberto Fujimori hatte sich bereits den Sieg über den Leuchtenden Pfad auf die Fahnen geschrieben, aber an den erbärmlichen Lebensumständen in den abgelegenen Bergen von Quispillaccta hatte er nichts geändert. Sogar den Krieg haben die Quechua-Bauern selbst aus ihrer Region verbannt. "Wir haben uns Ende der Achtzigerjahre eigenständig organisiert, um die Energie unserer Vorfahren wieder aufleben zu lassen", sagt Marcela Machaca. "Das war zwar ein großes Risiko, aber es gab keine Alternative. Wir mussten etwas tun." Marcela Machaca hat zusammen mit ihrer Schwester Magdalena die überlebenden Schamanen und Weisen zusammengeholt und religiöse Riten voll-zogen. Sie haben das Konzept der Minka wieder eingeführt, der traditionellen Gemeinschaftsarbeit, mit der die Dorfbewohner nach und nach die Grundlagen für eine nachhaltige Landwirtschaft errichteten. "Das hat den Menschen Kraft und Zuversicht gegeben", sagt die Agrarwirtin. Die Leute hielten wieder zusammen, und der Leuchtende Pfad konzentrierte seine Aktivitäten auf Lima und andere Städte. Marcela Machaca stammt aus Unión Portreo, einer von dreizehn Siedlungen der Gemeinde Quispillaccta hoch oben in den Anden. Anfang der Siebzigerjahre kamen die ersten Anhänger des Philosophieprofessors Abimael Guzmán in die abgelegene Region, um ihr maoistisches Experiment zu starten. Die armen Hoch-landbauern nahmen die Fremden freundlich auf, die Versprechen von Gerechtigkeit und Umverteilung des nationalen Reichtums erschienen ihnen verlockend. "Drei Jahre später war der Geist der Bevölkerung bereits zerstört", sagt Marcela Machaca. Der Leuchtende Pfad hatte Hass und Misstrauen gesät und die Region als befreite Zone erklärt. Die Familie Machaca floh nach Ayacucho. Marcela studierte mit ihrer Schwester Magdalena Agrarwissenschaften. 1987 kehrten sie zurück auf den elterlichen Hof, um ihn wieder aufzubauen. Vier Jahre später gründeten sie den Verein "Asociación Bartolomé Aripaylla", kurz: aba. Marcela und Magdalena sind ledig und kinderlos geblieben, um ihre Sache voranzutreiben. Kein Wunder, dass die Leute sie als verrückt bezeichnen. Victoria, eine weitere Machaca-Schwester, ist weniger verrückt. Sie arbeitet zwar auch bei aba, aber sie hat immerhin ein Kind. Das zieht sie alleine auf. Wie so viele Männer verschwand der Vater noch vor der Geburt, warum auch immer. Alkohol, Depressionen und zerstörte Familienstrukturen zählen zu den langwierigen Folgen des Krieges. Carmen, die Torhüterin von Catalinayoc, hat das Unentschieden längst überwunden. Kichernd und gackernd hockt sie mit ihren Kolleginnen auf der Tribüne. Den Hut mit der breiten Krempe hat sie wieder aufgesetzt, das Tuch mit ihrem Baby hat sie ebenfalls auf den Rücken gebunden. "Klar bin ich alleinerziehende Mutter", sagt sie, "das sind doch viele von uns." Dann verlässt sie aber ihr Mut, sie wird wieder schüchtern wie ein kleines Mädchen und hält den Mund. Gladis aus dem Team von Puncopata liebt Musik. "Wir machen aber alles Mögliche mit Victoria", sagt sie. Stricken und Häkeln zum Beispiel, Körbe flechten oder Tischlern. Fußball ist etwas Besonderes, vor allem die Turnie-re, bei denen die Dörfer gegeneinander antreten. Fußball stärkt das Selbstbewusstsein, die Lungen und den Gemeinschaftssinn. "Hier gehen die Mädchen aus sich heraus", sagt Marcela Machaca. Dann steht sie auf - leider kann sie nicht bis zur Siegerehrung bleiben. Der nächs-te Termin ruft. Die Milchbauern von Pampamarca haben eine Käserei aufgemacht und wollen der Direktorin von aba ihre neusten Produkte präsentieren. Die sollen möglichst bis nach Lima vermarktet werden. Die verrückten Schwestern haben hinter den hohen Bergen von Ayacucho viel bewegt.

Constanze Bandowski

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