Zwei Seiten der Medaille

Die Olympischen Spiele haben London bereits verändert - und nicht nur zu seinem Vorteil
Der Countdown läuft - auch auf dem Londoner Trafalgar Square Foto: Claudia Atts
Der Countdown läuft - auch auf dem Londoner Trafalgar Square Foto: Claudia Atts
In zwei Monaten beginnen die Olympischen Spiele in London. Die Stimmungslage der Bewohner ist nicht nur positiv. Alle befürchten das große Verkehrschaos. Und die Anwohner in den Ostteilen der Stadt leiden unter jahrelangen Baumaßnahmen und steigenden Mieten. Das bekamen auch die Kirchengemeinden der Stadt zu spüren, wie die Journalistin Claudia Atts bei einem Besuch in London feststellte.

Duncan Green ist begeistert. Der anglikanische Pfarrer ist Chef- Koordinator der Kirchenaktivitäten bei den Olympischen Spielen: "Mich fasziniert die Tatsache, dass jede Kirche, egal welcher Konfession, die Spiele als Katalysator nutzen kann, um Gottes Wort weiterzugeben." Die Möglichkeiten seien vielfältig und reichten von Jugendfestivals, Großleinwandveranstaltungen, Kinderferienprogrammen mit sportlichen Themen bis hin zu Nachbarschaftsaktionen: "Jede Gemeinde kann ihrem Stadtteil direkt vor Ort dienen." Um die Angebote zu koordinieren, haben sich alle Kirchen unter dem Dach von "More Than Gold" zusammengeschlossen. Diese Organisation hat bereits bei anderen sportlichen Großveranstaltungen wie Fußball-Weltmeisterschaften und den Spielen in Atlanta und Barcelona Erfahrungen gesammelt.

Der Vorsitzende von "More Than Gold", David Willson, sagt: "Wir helfen den Kirchen, Wege zu finden, wie sie sich mit ihren bereits vorhandenen Möglichkeiten und Strukturen einbringen können. Bands, Theatergruppen, Tanzaufführungen, Ballonkünstler - der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt." "More Than Gold" bildet auch Sportseelsorger aus, "Chaplains", die Athleten während der Spiele betreut. Das eigens erbaute "Faith Centre" im Olympiapark dient allen Weltreligionen als Anlaufpunkt für Stille und Hilfe während der Spiele. "More Than Gold" hat hunderte Freiwillige rekrutiert, die als Dolmetscher und Helfer an den Bahnhöfen zur Verfügung stehen und Orientierungshilfe geben sollen. Andere werden an heißen Sommertagen kostenlos Wasser in Warteschlangen verteilen sowie Gesprächs- und Gebetsangebote machen.

Die Kirche "The Cornerstone" in Nachbarschaft zum Park lädt schon jetzt zu sonntäglichen Gebetsmärschen rund um das Parkgelände, um für das Gelingen und die Sicherheit der Spiele zu beten. Im Endspurt - ab Mitte Juli bis zur Abschlusszeremonie - wird in dieser Kirche gar rund um die Uhr gebetet.

Leiden unter den Spielen

"More Than Gold" hatte auch dazu aufgerufen, den Familien der Athleten aus Dritte-Welt- und Schwellenländern Unterkunft in den Familien anzubieten. In vielen Stadtteilen Londons erklärten sich die Menschen dazu bereit, doch ausgerechnet dort, wo der Olympiapark mit seinen zahlreichen Wettkampfstätten errichtet wurde, reagierten die Menschen zurückhaltend. Pfarrer Paul Bowtell, Assistent des anglikanischen Regionalbischofs von Barking, hat für das Verhalten der Anwohner Verständnis: "Sie haben seit Jahren unter den Vorbereitungen auf die Spiele gelitten, kein Wunder, dass sie nicht so begeistert sind, jetzt zum Gelingen der Spiele beizutragen."

Für den Olympiapark haben sich die Organisatoren der Spiele den im Ostteil gelegenen heruntergekommenen Stadtteil Stratford mit vielen überalterten Industrieanlagen ausgesucht. Nur drei U-Bahnstationen entfernt vom inneren Stadtring liegt er fast zentral und ist mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar.

Die Spiele haben den Stadtteil schon jetzt verändert. Über zweihundert Gebäude, meist Bausünden aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, wurden für den Olympiapark abgerissen. Ansässige Mieter und Firmen mussten in neue Gebäude außerhalb des Parks umziehen. Die Bewohner protestierten, allerdings ohne Erfolg. Betroffen war davon auch unter anderem eine Kirche: Die Mega-Gemeinde Kingsway International Christian Centre, deren Gottesdienste regelmäßig mehrere tausend Menschen besuchen. Auch ihr Gebäude fiel 2007 dem Abriss zum Opfer. Nicht zuletzt wegen Unregelmäßigkeiten im Umgang mit Spendengeldern, die sogar Thema im Parlament waren, erhielt die Gemeinde bisher keine Baugenehmigung für eine neue Kirche. Sie nutzt nun ein umgebautes Kino und kompensiert die Raumnot damit, dass sie sechs Gottesdienste am Sonntag anbietet.

Niemand kann bestreiten, dass die Bauarbeiten auch ihr Gutes hatten. Der kleine, stark verschmutzte Fluss Lea, ein Nebenarm der Themse, wurde entseucht und entmüllt, alte Autos, Reifen, Gartenmöbel und anderer Schrott aus dem Flussbett geräumt. An den Ufern wurde die chemisch verseuchte Erde um einen halben Meter abgetragen, versiegelt, neue Erde aufgeschüttet und bepflanzt. Große Bäume wurden herangeschafft und eingepflanzt, um den Park älter erscheinen zu lassen, als er ist.

Verkehrschaos befürchtet

Der Erholungspark bildet das Zentrum des Olympiaparks und gilt als das größte städtebauliche Projekt seit der viktorianischen Zeit. Die Baukosten allerdings uferten aus und lagen am Ende beim Dreifachen dessen, was ursprünglich vorgesehen war. Da der Park bereits im vergangenen Jahr fertiggestellt wurde, hatten Rasen und Pflanzen schon etwas Zeit, anzuwachsen. Daher wirkt das Gebiet harmonisch und nicht so aus dem Ei gepellt wie andere Anlagen, die noch bis zur Eröffnung in größter Eile fertiggestellt werden, kaum, dass man die letzten Planen entfernt und Gerüste abgebaut hätte.

"Schon jetzt hat London von den Olympischen Spielen profitiert. Früher fuhr man nur nach Stratford, wenn man unbedingt musste. Nun hat es sich bereits in ein attraktives Wohngebiet verwandelt", erzählt Duncan Bicknell, ein Mitarbeiter von British Heritage, der für den Fremdenverkehr zuständigen Organisation. In der Tat werden viele Wohnhäuser im Umkreis des Parks saniert. Die dadurch steigenden Mieten vertreiben aber Alteingesessene in günstigere Stadteile. John Winter arbeitet als Sicherheitsbeauftragter auf dem Parkgelände. "Ich bin selbst betroffen. Die Miete meiner Wohnung stieg gerade um 80 Pfund monatlich, nur weil das Gebäude in Parknähe steht."

Weitere Verbesserungen in der Infrastruktur sollen Stratford attraktiver machen - und dürften die Mieten weiter steigen lassen. Das bereits neu eröffnete Einkaufszentrum ist das größte und modernste Londons. Das Olympische Dorf, Unterkunft der Athleten und Funktionäre, wird nach den Spielen in Wohnraum umgewandelt. Alle Häuser sind so konzipiert, dass in alle Wohneinheiten eine Küche eingebaut werden kann. Die entstehenden Wohnungen sollen bevorzugt an Lehrer und Pflegepersonal vermietet oder verkauft werden. Kritik gab es jedoch an der Aufteilung des Geländes: zu beengt seien die Häuser aneinander gebaut. Wegen der attraktiven Lage und des Preises werden die Wohnungen dennoch sehr begehrt sein.

Lieber in den Urlaub

Doch nicht nur in Stratford sehen die Londoner den Olympischen Spielen mit gemischten Gefühlen entgegen. In der ganzen Stadt befürchten die Einwohner ein großes Verkehrschaos. Diese Bedenken sind berechtigt. Die Zuschauer sollen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Stadien fahren, schnelle Züge von St. Pancras zusätzlich eingesetzt werden, um Zuschauer zum Olympischen Park zu bringen. Der neue futuristische Umweltbus sieht zwar cool aus, ist jedoch auch nur ein weiteres Gefährt auf den ohnehin verstopften Straßen. Und die U-Bahnstation Pudding Mill Lane, die dem Park am nächsten liegt, verfügt nur über einen einzigen Bahnsteig. Grundsätzlich ist das Londoner U-Bahnsystem ja schon mit dem alltäglichen Berufsverkehr völlig überlastet. Das gesamte Netz wurde zwar kräftig modernisiert, aber nicht erweitert. Stattdessen gab es eine groß angelegte Werbekampagne, die für Verständnis warb, dass es in der Zeit der Spiele zu Verzögerungen kommen werde.

Londoner sind für ihre fatalistische Einstellung bekannt und reagieren mit ihren eigenen Methoden. Viele Firmen und Büros legten ihren Jahresurlaub in die Zeit der Spiele und schließen. Zehn Millionen Briten haben bereits ihren Jahresurlaub im Ausland gebucht. Wer seine Wohnung oder sein Haus Besuchern zur Miete anbietet, kann sich damit eine goldene Nase verdienen. Die ohnehin hohen Hotelpreise haben wegen der Spiele kräftig angezogen: Bis zu 200 Prozent, wird gemunkelt. Bleibt abzuwarten, ob wirklich viele die ausgegebenen Parolen befolgen: gemeinsam mit Nachbarn die Spiele auf Großleinwänden zu verfolgen, Garten- und Grillpartys zu veranstalten, zu Quizabenden in die Kirche zu gehen, dazu Gäste und Freunde mitzubringen und doch noch, und sei's in letzter Minute, ihre Häuser öffnen und die Familien der Athleten aus Drittwelt- und Schwellenländern kostenlos zu beherbergen.

Claudia Atts

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