Spirituell

Religiöse Praxis
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Britta Müller-Schauenburg wendet sich einem Bereich zu, den Theologen oft ausklammern: dem Bereich der äußerlich sichtbaren Religion, der religiösen Praxis, von der man im Westen lange Zeit annahm, sie würde kontinuierlich zurückgehen, die aber stattdessen immer stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

Die junge Theologin setzt Bereiche in Bezug zueinander, die üblicherweise säuberlich getrennt bleiben: religiöse Erfahrung und Gotteslehre, Gebet, Meditation und die Frage nach der Wahrheit.

Ihr Buch ist spannend, aktuell, es öffnet Horizonte. In manchen Passagen allerdings müssen sich die Leser vor lauter Querverweisen und Begriffserläuterungen den Zugang regelrecht erkämpfen, werden aber durch überraschende Fragestellungen und ungewohnte Perspektiven - weniger durch Antworten - belohnt.

Ihr ungewöhnlicher Fokus führt die katholische Theologin zunächst mitten hinein in die Auseinandersetzungen um die Bedeutung religiöser Erfahrung innerhalb der drei großen christlichen Konfessionen. Sie beginnt im Protestantismus, wo Luther die Seele des Einzelnen als den eigentlichen Ort der Religion benannt hatte, wo der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768-1834) die religiöse Erfahrung als wichtige Bezugsgröße in der Theologie verankerte, bis hin zu dem amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1842-1910), für den die "wahre Religion" in Opposition zu Dogma und Institution Kirche steht. Auf die subjektiv-existenzielle Pers-pektive, die im Protestantismus, aber auch zunehmend in der katholischen Kirche selbst vertreten wurde, antwortete das katholische Lehramt Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit der Enzyklika Pascendi. Ihr widmet Britta Müller-Schauenburg breiten Raum, spielt sie doch für die Frage, woran Wahrheit zu messen sei, eine Rolle. Sie betont, dass katholischerseits die Wahrheit nicht nur subjektiv bezeugt sein könne, sondern eine "externe", objektiv verkörperte Bezeugbarkeit brauche.

Doch so unterschiedlich religiöse Erfahrung in den westlichen Kirchen auch gesehen wird: In beiden Kirchen führen religiöse Praxis und theologische Lehre ein voneinander unabhängiges Dasein, so die Autorin.

An dieser Stelle begibt sie sich auf eine Entdeckungsreise auf das im Westen weithin unbekannte Gebiet orthodoxer Theologie, genauer: zur Energienlehre des griechischen Theologen Gregorios Palamas (1296/97-1359), der der zweite Teil ihrer Arbeit gewidmet ist. Gregorios Palamas theologische Argumentation steht in engem Bezug zur religiösen Praxis des Ruhegebets. Dabei betont die Autorin einerseits mögliche Missverständnisse durch die siebenhundertjährige zeitliche Distanz und die unterschiedlichen Begrifflichkeiten, gleichzeitig erinnert sie an den theologischen Diskurs zwischen Lateinern und Griechen und die gemeinsame Bezugnahme auf die griechische Philosophie.

Einige Aspekte des Herzensgebets sowie seiner Verteidigung durch Palamas, wie Müller-Schauenburg sie den Leserinnen und Lesern erschließt, sollen hier genannt werden: Mit dem Herzensgebet ist nach orthodoxem Verständnis eine mystische Erfahrung verbunden, die mit der Lichterfahrung Christi auf dem Tabor identisch ist. Nach dieser Anschauung geschah Jesu Einswerden mit Gott bereits vor seinem Tod am Kreuz, noch während seines irdischen Lebens. Die Erfahrung der Erleuchtung können dieser Auffassung zufolge auch die Gläubigen im Gebet erlangen. Jedoch kritisierten etliche orthodoxe Theologen diese Sichtweise als Gotteslästerung, weil Gott nach christlichem Verständnis in seinem Wesen für einen Menschen unerkennbar ist. Britta Müller-Schauenburg zeigt, wie Palamas seine gesamte, innerhalb der Orthodoxie wegweisende Theologie im Kontext der Gebetspraxis entwickelte. Darin spielt der menschliche Körper eine zentrale Rolle, die Inkarnation im Fleisch. Im Körper erkennt er ein "wesentliches Moment der Gottesebenbildlichkeit", nur über den Körper ist für ihn der Weg zum Guten zu erlangen. Dem Vorwurf der Gotteslästerung begegnete Gregorios Palamas, indem er Gottes Wesen von Gottes Energien unterscheidet. Nicht in seinem Wesen, aber in seinen Energien, in seinem Tun könnten die Menschen Gott erkennen, an seiner göttlichen Energie teilhaben. Aus den im Anfangsteil gewonnenen Kategorien werden von Müller-Schauenburg am Schluss in knapper Form einige Anregungen festgehalten und kritische Anfragen formuliert.

Wer gern über den eigenen konfessionellen Horizont hinaus sieht und konfessionelle Unterschiede als Einladung zur Diskussion begreift, sollte sich auf die sperrige, aber auch spannende Argumentation der Theologin einlassen und die eigene und fremde religiöse Praxis in einem anderen Licht betrachten.

Britta Müller-Schauenburg: Religiöse Erfahrung, Spiritualität und theologische Argumentation. Verlag W. Kohlhammer, Stutt-gart 2011, 344 Seiten, Euro 39,90.

Hedwig Gafga

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