Mächtig

Religiöse Einflussnahme
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Was abstrakt klingt, wird durch zwölf Beiträge anschaulich, die in historischer Darstellung oder zeitgeschichtlicher Analyse die Ambivalenz zwischen Religionen und weltlicher Herrschaft zeigen.

Religionen sind gleichermaßen von Weltdistanz und Weltorientierung gekennzeichnet. Entsprechend dem biblischen Wort "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" ist gerade in monotheistischen Religionen oft das ewige Leben nach dem Tod ein großes Ideal. Zugleich aber fühlen sich Gläubige durch ihren Gott auch aufgefordert, in dieser Welt zu wirken, sie im Sinne göttlicher Gebote human und lebenswert zu machen. Die an der Universität Augsburg lehrenden Wissenschaftler Bernd Oberdorfer (Theologie) und Peter Waldmann (Soziologie) haben dieser, wie sie es nennen, "nichtaufhebbaren Grunddialektik des Religiösen" einen anregenden Sammelband gewidmet und sie anhand historischer und zeitgeschichtlicher Beispiele plausibel zu machen versucht. Religiöse Weltsichten, so Oberdorfer, relativieren zwar einerseits das bestehende System, bestätigen und stützen es aber auch. Göttliche Gebote sind Anleitungen zu mitmenschlichem Handeln in dieser Welt, fördern somit, wo sie befolgt werden, eine gerechte soziale Ordnung. Umgekehrt gilt dann auch, dass sie sich selbst ihre Wirkungsmöglichkeiten bei einem Rückzug aus dieser Welt oder bei bewusster Distanz zu ihr einschränken. Bewusstes Leben nach religiösen Geboten bedeutet für die Autoren denn auch eine Bejahung dieser Welt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich die drei großen Religionen Christentum, Islam und Judentum weltbejahend verhalten haben. Oft genug gerieten sie dabei mit weltlicher Herrschaft in Konflikt. Mitherausgeber Waldmann nennt fünf Formen der Beziehung zwischen religiösen Gemeinschaften und weltlicher Herrschaft: zum einen die absolute Machtlosigkeit, gekennzeichnet durch Unterwerfung und Unterdrückung, wie es die ersten Christen im Römischen Reich oder die russische Kirche unter Stalin erfahren haben. Zweitens die Form der geduldeten Minderheit, wie es für die Kirchen in den kommunistischen Staaten etwa seit den Sechzigerjahren der Fall war. Dann Formen der direkten oder indirekten Einflussnahme, wofür Prediger wie Bill Graham in den USA oder die Fatwas im Islam, historisch gesehen auch die Beichtväter in der frühen Neuzeit stehen. Viertens die Machtteilhabe, was für die Maroniten im Libanon, das katholische Zentrum in der Weimarer Republik oder - verhängnisvoll, wie Angelika Timm zeigt - für die ultraorthodoxen Parteien in Israel gilt. Schließlich das Machtmonopol religiöser Gemeinschaften, wofür laut Waldmann die heutige "islamische Republik Iran", historisch gesehen Calvin in Genf oder Cromwell in England stehen. Was hier etwas abstrakt klingt, wird durch zwölf Beiträge anschaulich, die in historischer Darstellung oder zeitgeschichtlicher Analyse die Ambivalenz zwischen Religionen und weltlicher Herrschaft zeigen. Eckart Otto und Peter Gemeinhardt gehen auf das Christentum in Antike und Spätantike zurück; die Erfurter Historikerin Nicole Reinhardt schildert in einem brillanten Text die Rolle der Beichtväter spanischer und französischer Herrscher in der frühen Neuzeit. Die zeitgeschichtlichen Beiträge beziehen sich auf Israel, auf den Iran (Henner Fürtig) und Libanon (Thomas Scheffler), ferner auf die Kirche in Südafrika, die sich vom anfänglichen Befürworter des Apartheid-Regimes zu dessen Gegner mauserte (Dirk J. Smit), schließlich auf die Kirchen in Südamerika, wo ein und dieselbe Kirche einmal - wie in Argentinien - das Militärregime bedingungslos unterstützte, zum anderen - wie in Chile - dessen erbitterter Gegner wurde (Peter Waldmann). Einen Königsweg für die Kirchen im Verhältnis zur Welt gibt es somit nicht; Waldmann neigt zu dem Fazit, dass Religionen dann "besonders wirkungsmächtig" sind, wenn sie ihre Botschaft "unabhängig von oder sogar in Konflikt" mit politischer Herrschaft verkünden. Bernd Oberdorfer / Peter Waldmann (Hg.): Machtfaktor Religion. Böhlau Verlag, Köln 2012, 272 Seiten, Euro 34,90.

Dirk Klose

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