Keine moralische Pflicht

Bei jeder Organspende ist auch die Situation der Angehörigen zu berücksichtigen
Zum Zweck der Organerhaltung werden Hirntote bis zur Entnahme behandelt. Foto: vision photos
Zum Zweck der Organerhaltung werden Hirntote bis zur Entnahme behandelt. Foto: vision photos
Organspende als Akt der Nächstenliebe? Das sagt sich so leicht. Doch wie steht es mit denen, die unter dem Schock, das Leben ihres Angehörigen zu Ende gehen zu sehen, eine Entscheidung für oder wider treffen sollen? Ulrich Eibach, Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Bonn und langjähriger Krankenhausseelsorger, plädiert dafür, keinen Druck auszuüben, denn der könne im Nachhinein zu erheblichen Komplikationen im Trauerprozess führen.

Ich besuche als Klinikseelsorger einen Patienten, 42 Jahre, drei Kinder, der im lebensbedrohlichen Zustand auf eine Lebertransplantation wartet. Tags darauf, samstags, werde ich in die neurochirurgische Intensivstation zu Herrn H., 53 Jahre, gerufen, der infolge einer Hirnblutung im Sterben liegt. Anwesend sind Frau H., die Tochter und ein Freund von Herrn H. Sie waren informiert worden, dass eine Hirntoddiagnostik eingeleitet worden sei, weil Herr H. als Organspender in Frage komme. Frau H. bat um ein gemeinsames Gespräch. Nach einer Zeit kam Frau H. auf die Organentnahme zu sprechen: Sie wisse nicht, ob das dem Willen ihres Mannes entspreche. Die Tochter meinte, dass der Vater dem zustimmen würde. Dann stellte der Freund die Frage, wie die Organentnahme ablaufen werde. Ich erläuterte, dass Herr H. so lange intensiv zum Zweck der Organerhaltung behandelt werden würde, bis die Organe entnommen würden. Dann sagte Frau H.: "Ja, mein Mann lebt doch jetzt noch. Die Organe werden doch erst nach dem Tod entnommen?" Ich erläuterte den Ablauf nochmals. Dann fragte der Freund: "Bedeutet das, dass wir uns im jetzigen Zustand von ihm verabschieden müssen oder nach der Einstellung aller Behandlungen?" Ich sagte, dass Ersteres der Fall sei. Ehefrau und Tochter waren betroffen über die Auskunft, und der Freund sagte: "Ich würde nie zustimmen, wenn es meine Frau wäre!"

Der Hirntod

Im Gespräch dachte ich immer wieder, dass der Mann in der Chirurgie die Leber von Herrn H. bekommen würde, wenn die Gewebeverträglichkeit einigermaßen stimmt. Daher sprach ich die Möglichkeit der Rettung von Leben durch eine Organspende nochmals deutlich an, wies aber auch darauf hin, dass sie ein Recht hätten, das Sterben bis zum natürlichen Tod zu erleben. Die Tochter schlug dann vor, dass sie nach Hause fahren und dort nochmals alles bedenken würden. Wir gingen zur Aussegnung des Vaters an sein Bett. Man einigte sich mit dem Arzt, am Sonntag, 10 Uhr, wieder da zu sein. Am Montag teilte man mir mit, dass man alles für eine Organentnahme vorbereitet habe, die Angehörigen aber nicht zugestimmt hätten. Ich hatte diese Entscheidung nicht erwartet.

Sieben Monate später war der Gedächtnisgottesdienst für in der Klinik Verstorbene. Frau H. und ihre Tochter waren gekommen, auch um mir für das Gespräch und die Aussegnungsfeier zu danken. Sie seien damals bis über den Eintritt des endgültigen Todes hinaus am Bett geblieben. Das sei die richtige Entscheidung und für sie wichtig gewesen.

Ist der Hirntod der eigentliche Tod des Menschen? Manche Menschen fragen, ob der Mensch bei der Organentnahme schon wirklich tot sei. Um brauchbare Organe für eine Transplantation zu erhalten, muss man sie möglichst "lebensfrisch" und ungeschädigt entnehmen. Deshalb hat man 1997 im Transplantations-Gesetz (TPG) den Tod des Menschen mit dem Tod des gesamten Gehirns gleichgesetzt. Dies ist eine nicht unproblematische Definition, denn sie besagt, dass allein das Gehirn Träger des Menschseins ist. Der endgültige Tod ist aber der unwiderrufliche Zusammenbruch der Ganzheit des Lebensträgers. Dieser ist der Organismus, die ganze Leiblichkeit. Ihr Tod folgt meist erst zeitlich versetzt auf den Tod des Gehirns.

"Behandelter Leichnahm"

Würde man mit der Organentnahme bis dahin warten, so wären die meisten Organe für eine Transplantation unbrauchbar. Deshalb behandelt man potenzielle Organspender intensivtherapeutisch so, dass die Körperfunktionen bis zur Entnahme der Organe erhalten bleiben. Dies besagt nicht, dass der Tod des Menschen durch die operative Organentnahme verursacht wird. Das Problem liegt vielmehr umgekehrt darin, dass der endgültige Tod durch die Behandlungen über den Zeitpunkt des Hirntods hinausgezögert und erst bei der Organentnahme zugelassen wird. Das Leben wird also zwecks Gewinnung von Organen für andere Menschen künstlich verlängert. Menschenleben wird dabei bloß als Mittel zum Zweck anderer behandelt, wenn auch zu einem eindeutig guten Zweck. Das könnte die Menschenwürde verletzen, wenn der Organspender dem nicht ausdrücklich zugestimmt hat.

Bei einer Anhörung von Experten zur Vorbereitung des tpg erklärten Neurologen, warum der Hirntod der Tod des Menschen ist. Sie sprachen wiederholt vom behandelten Patienten und meinten damit den vorher für tot erklärten Menschen. Als ich auf den Widerspruch aufmerksam machte, beeilten sie sich zu versichern, dass der zwecks Organentnahme behandelte Körper kein lebender Patient mehr sei. Es geht also auch Fachleuten so, dass sie einen behandelten hirntoten Organspender als lebenden Patienten wahrnehmen. Man muss sich in einem kognitiven Akt gegen die sinnliche Wahrnehmung klar machen, dass der "Organspender" tot, mithin kein Patient mehr, sondern so etwas wie ein "behandelter Leichnam" sein soll. Aber Tote behandelt man nicht mehr medizinisch, wenigstens nicht um ihrer selbst willen. Die menschlichen Probleme der Organentnahme ergeben sich vor allem aus dieser Manipulation des Sterbens zum Zweck der Organerhaltung.

Es handelt sich dabei meist um Menschen mit einer plötzlich ausbrechenden tödlichen Krankheit oder Verletzung, auf die die Angehörigen nicht vorbereitet sind. Sie werden auf eine Intensivstation gerufen und in dieser belastenden Atmosphäre mit dem baldigen Tod eines geliebten Menschen konfrontiert. Nicht wenige befinden sich in einem Schockzustand. Sie erleben, dass ihr vom Tode bedrohter Angehöriger intensivtherapeutisch behandelt wird und lebt. Zugleich wird ihnen mitgeteilt, dass er bald tot sein werde oder schon hirntot sei. Sie sollen dann darüber befinden, ob der "Patient" einer Organentnahme zustimmen würde oder - wenn man über seinen Willen wenig oder nichts weiß - nach ihrem Ermessen darüber entscheiden. Dies ist in den weitaus meisten Fällen so. Oft wird ihnen erst später bewusst, was diese Entscheidung für sie bedeutet. Häufig ist ihnen nicht klar, und es wird ihnen oft auch nicht gesagt, dass sie im Falle einer Zustimmung zur Organentnahme den endgültigen Tod des Menschen nicht miterleben können, er intensivtherapeutisch behandelt, ihnen entzogen wird, und sie somit weder am Sterbe- und Totenbett verharren noch vom Toten Abschied nehmen können. Das stellt für viele Menschen eine zusätzliche seelische Belastung dar, die die Trauer deutlich negativ beeinflussen kann.

Akt der Nächstenliebe?

Daher ist zu fragen, ob die Bedürf-nisse der Angehörigen immer eindeutig gegenüber der Chance, das Leben anderer Menschen zu retten, zurückzutreten haben, ob die Zustimmung zur Organentnahme eine moralische Pflicht und ihre Verweigerung einem Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe gleichkommt.

Es ist die einheitliche Auffassung der Kirchen, dass gegen die Organentnahme keine grundsätzlichen Bedenken bestehen. In der Auferweckung von den Toten wird die irdische Person bewahrt, erneuert und vollendet (vgl. 1. Korinther 15, 35 ff.). Die Unversehrtheit des Leichnams ist dafür nicht Voraussetzung. Die Kirchen haben die Organspende 1990 sogar als Akt der Nächstenliebe empfohlen. In welcher Weise wird dabei der Begriff "Nächstenliebe" verwendet?

Liebe ist eine Qualifizierung von Beziehungen unter Personen. Nächstenliebe im eigentlichen Sinne setzt voraus, dass zwischen Geber und Empfänger von Liebesgaben ein Mindestmaß an personaler Beziehung besteht. Das Verhältnis von Spender und Empfänger ist bei der Organspende aber völlig versachlicht. Die Vergabe des Organs wird durch eine Institution (Eurotransplant) organisiert. Der Spender bleibt dem Empfänger anonym. Zudem ist der Spender zum Zeitpunkt der Organspende hirntot und zu keinen personalen Akten wie der Liebe mehr fähig. Er kann und hat als Toter nichts mehr zu verschenken, wenn der tote Körper nicht mehr sein Besitz ist und der Körper es - wenigstens aus christlicher Sicht - auch nie war.

Die Organspende ist eine moralisch verantwortliche Entscheidung im Umgang mit dem eigenen Leben. Bei ihr sollte daher immer das Geschick der Menschen in angemessener Weise bedacht werden, deren Leben durch eine Organspende gerettet oder erleichtert werden kann.

Kein Egoismus

Die Ablehnung der Organentnahme sollte jedoch nicht als Egoismus, Unbarmherzigkeit, Rücksichtslosigkeit gegenüber diesen Menschen eingestuft werden. Ein solcher Vorwurf kann nur erhoben werden, wenn es ein Anspruchsrecht anderer auf die Organe eines toten Menschen und eine eindeutige moralische Pflicht gibt, Organe zu spenden. Das käme einer Behandlung des Körpers, also des Trägers personalen Lebens, als "verwertbares Material" und einer Vergesellschaftung des Körpers als Organreservoir nahe. Niemand hat eine eindeutige sittliche Verpflichtung, seine Organe für andere zu spenden oder als Angehöriger der Organentnahme zuzustimmen. Wohl aber gibt es ein moralisches Recht der einem Menschen in Liebe verbundenen Angehörigen, sein Sterben zu erleben und den Sterbenden bis zum sinnlich erfahrbaren Tod zu begleiten.

Wer zu Lebzeiten eine Zustimmung zur Organentnahme erteilt, sollte klären, ob das zugleich besagt, dass Organe auch gegen den Willen der Angehörigen entnommen werden dürfen. Von einem Menschenbild aus gesehen, in dem die Autonomie das ist, was den entscheidenden Inhalt der Menschenwürde ausmacht, würde eine Nichtbeachtung einer Zustimmung als Missachtung der Würde betrachtet werden können. Die Angehörigen und ihre Bedürfnisse spielen dann keine Rolle. Ich habe Menschen kennengelernt, deren Trauerprozess dadurch sehr belastet war, die ihren Verstorbenen Vorwürfe machten, dass sie ohne Rücksprache mit ihnen eine solche Entscheidung gefällt hatten.

Selbst dann, wenn ein Mensch einer Organentnahme zugestimmt hat, ist zu fragen, ob er an seiner Entscheidung festhalten würde, wenn er wüsste, wie schwer es den in Liebe verbundenen Angehörigen fällt, seine in gesunden Tagen ohne wirkliche Kenntnis dieser schweren Situation gefällte Entscheidung anzunehmen. Welcher Mensch würde dann seine frühere Entscheidung gegen die eindeutig gegenteiligen Bedürfnisse der ihm in Liebe verbundenen Mitmenschen unbedingt durchsetzen?

Unter Vorbehalt

Wenn man von einem christlichen Menschenbild ausgeht, in dem die Beziehungen zu Gott und den Menschen und nicht die Autonomie die grundlegende Dimension des Menschseins ausmachen, dann bleibt die Achtung "autonomer" Entscheidungen immer in von der Liebe bestimmte Beziehungen eingeordnet und ist ihnen untergeordnet, dann darf man nicht "autonom" eine Organspende verfügen, ohne die Einstellung der Angehörigen dazu angehört und sie bei der Entschei-dung bedacht zu haben. Zu diesem Bedenken gehört auch, dass man die Belastungen, die in der konkreten Situation für die Angehörigen entstehen können, nicht als Gesunder vorweg absehen und einplanen kann.

Alle Zustimmungen zur Organentnahme sollten daher unter den Vorbehalt gestellt werden, dass die dem Sterbenden in Liebe verbundenen Menschen dem in der jeweiligen Situation wirklich zustimmen können. Das besagt nicht, dass die Angehörigen nicht herausgefordert sind, die Entscheidung des Sterbenden ernsthaft zu bedenken und ihre Bedürfnisse auf diesem Hintergrund kritisch zu prüfen.

Es gibt keine unbedingte sittliche Pflicht zur Organspende. Sie ist auch kein Akt persönlicher Nächstenliebe, sondern nur ein Akt verantworteten Umgangs mit der toten Körperlichkeit. Voraussetzung einer Entscheidung über eine Organentnahme ist, dass man sich über die Möglichkeit eines plötzlichen Todes Gedanken macht und sich über die Umstände bei einer Organentnahme informiert. Dazu kann niemand rechtlich genötigt werden, doch gibt es eine moralische Pflicht, die Möglichkeit einer Organentnahme zu bedenken und möglichst eine Entscheidung für oder wider sie zu fällen.

Es ist nicht verantwortlich, nahe Angehörige darüber im Unklaren zu lassen. Wenn es gute Beziehungen zu ihnen gibt, ist die Entscheidung mit ihnen zu besprechen und auf ihre Einstellung zur Organentnahme Rücksicht zu nehmen. Das schließt ein, dass jede einmal gefällte Entscheidung jederzeit revidierbar sein muss und dass sie unter den Vorbehalt gestellt wird, dass in Liebe verbundene Angehörige ihr in der konkreten Situation des plötzlichen Todes zustimmen können.

Ein Anspruch besteht nicht

Es gibt keinen moralischen Anspruch anderer auf die Organe eines Toten und keine moralische Pflicht zur Spende von Organen, hinter denen die Pflichten gegenüber den Angehörigen völlig zurückzutreten haben. Daher muss in einem Gespräch mit den Angehörigen ermittelt werden, welche Entscheidung für sie tragbar ist, und zwar auch dann, wenn eine Zustimmung des sterbenden Menschen zur Organentnahme vorliegt. Die Bedürfnisse der Angehörigen müssen dabei zu der Chance in Beziehung gesetzt werden, durch die Entnahme der Organe anderen Menschen zu helfen. Es käme einem unwürdigen Umgang mit den Angehörigen gleich, wenn man sie im Falle des Vorliegens einer Zustimmung zur Organentnahme nur medizinisch-fachlich über den Vorgang informieren, sie mit ihren eigenen Bedürfnissen aber ausklammern würde.

Dies ist nur zu vermeiden, indem man mit den Angehörigen ein ausführliches und einfühlsames Gespräch führt, in dem sie nicht manipulativ, sondern wirklich ergebnisoffen informiert und beraten und in dieser schweren Situation auch in ihren seelischen Bedürfnissen angenommen und nicht zu einer sofortigen Entscheidung gedrängt werden. Dabei ist zu bedenken, dass selbst nächste Angehörige hinsichtlich einer Organentnahme unterschiedlicher Meinung sein können.

Dies erschwert eine Entscheidungsfindung und macht eine besondere Behutsamkeit im Gespräch nötig. Deshalb ist zu empfehlen, dass zu diesen Gesprächen Personen hinzugezogen werden, die sich in solchen schweren Situationen in den Krankenhäusern auskennen und die auch von den Angehörigen als neutrale Berater und Anwälte ihrer Bedürfnisse anerkannt werden können. Hierfür bieten sich insbesondere erfahrene Krankenhausseelsorger und -seelsorgerinnen an.

Ulrich Eibach

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