Kümmerer gesucht

Remscheid-Hohenhagen - wie Kirchengemeinde, Kommune und Diakonie das Leben im Stadtteil gemeinsam gestalten
Ein Grafitti im gemeindlich genutzten Teil des Stadtteil- und Gemeindezentrums. Foto: Jens Grossmann
Ein Grafitti im gemeindlich genutzten Teil des Stadtteil- und Gemeindezentrums. Foto: Jens Grossmann
In Remscheid-Hohenhagen im Bergischen Land sorgen sich Stadt, evangelische Kirchengemeinde und Diakonie um das Leben im Stadtteil. Wie das gelingt, haben Kathrin Jütte und Jens Grossmann bei einem Besuch beobachtet.

Martina Andres und Filomena Merten sind Nachbarinnen, schon seit 21 Jahren. Sie leben in einem Stadtteil von Remscheid, der kleinen Großstadt im Bergischen Land. Hier auf dem Hohenhagen pflegen die beiden gute Nachbarschaft. Und das ist nicht selbstverständlich. Mit vielen anderen Anwohnerinnen und Anwohnern im Quartier hatten sie bis vor einiger Zeit keinen Kontakt.

"Wenn ich aus dem Dachfenster auf den Neubau gegenüber schaue, weiß ich nicht, wer da wohnt", sagt Martina Andres. In diesem Wohngebiet am Stadtrand lebte, wohnte und arbeitete man bislang anonym nebeneinander her. Und weil beiden Frauen eine gute Nachbarschaft am Herzen liegt, engagieren sie sich in der Stadtteilgruppe "Treppenhaus und Gartenzaun". "Wenn man sich erst einmal kennt, begegnet man sich auf der Straße mit anderen Augen", ergänzt Filomena Merten, die aus Italien stammt. Sie könnte sich auch ehrenamtlich in der katholischen Kirchengemeinde engagieren, doch sie will ihre Nachbarschaft auf dem Hohenhagen wieder mit Leben füllen. Ganz eigennützig, wie Martina Andres zugibt: "Ich bin zwar erst 51 Jahre, setze mich aber mit der Situation des demografischen Wandels sehr auseinander." Deshalb erhofft sie sich auf Dauer Strukturen, von denen sie im Alter selbst einmal profitieren kann. Denn: Martina Andres will hier auf dem Hohenhagen alt werden.

Vorplanen für das Alter

Bei der 66-jährigen Filomena Merten gab eine Erkrankung ihres Mannes den Ausschlag für ihr Engagement. Auch sie plant für das Alter vor: Drohender Vereinsamung will sie mit einer gut funktionierenden Nachbarschaft gegensteuern. Deshalb informieren die zwei mit ihrer Stadtteilgruppe die Leute am Hohenhagen über ihre Aktivitäten in Infokästen, die sie zweimal im Monat aktualisieren. Und in diesen Wochen stellen sie das Programm für die Sommerferien auf die Beine: Lagerfeuer, internationaler Abend, einen Spielenachmittag mit der Kindertagesstätte und eine bergische Kaffeetafel. Veranstaltungsort: die Esche, das evangelische Gemeinde- und Stadtteilzentrum am Hohenhagen.

Der Frage, wie sich der Stadtteil entwickeln soll, wie überhaupt eine altersgerechte Quartiersentwicklung aussehen könnte, hat sich die örtliche evangelische Johannis-Kirchengemeinde Remscheid schon vor Jahren gestellt. Anlass war der Um- und Neubau ihres Gemeindezentrums, das in diesem Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag feiert. In Zeiten knapper Kassen beschlossen Kommune und Kirchengemeinde, gemeinsam das alte Gebäude zu einem neuen Stadtteil- und Gemeindezentrum umzubauen.

Foto: Jens Grossmann
Foto: Jens Grossmann

Gemischtes Baugebiet: der Remscheider Stadtteil Hohenhagen.

Entstanden ist ein moderner funktionaler Bau, genannt "die Esche", mit in lila Rahmen eingefassten gemeindlichen Räumen und weiteren Räumen, die für alle offen sind: Hier treffen sich Jugendhilfe, Theatergruppen, eine türkischstämmige Frauengruppe, das Stadtteil-Café - und auch die Nachbarschaftsgruppe von Martina Andres und Filomena Merten.

An diesem Sonntagmorgen feiert die Gemeinde ihren vorösterlichen Familiengottesdienst und am Abend ein islamisches Paar sein "Hennafest", den Polterabend. In einem Stadtteilzentrum mit einem Kreuz am Eingang? "Warum nicht?", meint Ali Atis, der dreißigjährige Bruder der Braut. Er schätzt die "schöne und offene" Geste der evangelischen Kirchengemeinde: "Es ist ein Gotteshaus, und es ist ein Gott, an den wir alle glauben." Und Hausmeister Peter Herbst ergänzt: "Unsere Räume sind bis zum Jahresende ausgebucht." Damit kommt Geld in die leere Kasse der Kirchengemeinde.

Kleine Erfolgsgeschichte

Nach sieben Jahren der Zusammenarbeit können die Baupartner auf eine kleine Erfolgsgeschichte blicken: "Wir sind für Menschen, die in diesem Stadtteil leben, Heimat geworden - bei aller Vielfältigkeit", sagt Burkhard Mast-Weisz, Stadtdirektor von Remscheid. "Und es ist gelungen, Menschen für die Arbeit im Stadtteil zu gewinnen, die sich in einer ausschließlich kirchlichen oder kommunalen Einrichtung nicht wiedergefunden hätten." In der Tat: Die auf 25 Jahre vertraglich festgelegte Zusammenarbeit mit der Stadt ist außergewöhnlich: Das evangelische Gemeindezentrum Esche im Neubaugebiet ist neuer Stadtteilmittelpunkt.

Remscheid-Hohenhagen, mit rund 360 Metern über dem Meer der am höchsten gelegene Stadtteil der Industriestadt, liegt anderthalb Kilometer vom Stadtkern entfernt. Bei einem Spaziergang durchs Quartier fällt auf, dass es nur einen Lebensmitteldiscounter und einen Kiosk gibt, keine Post, keine Apotheke. Dafür eine Grundschule, eine Gesamtschule und die Kindertagesstätte.

Foto: Jens Grossmann
Foto: Jens Grossmann

Hohenhagens Mitte: die "Esche", das Stadtteil- und Gemeindezentrum.

Foto: Jens Grossmann
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In der "Esche" gibt es Räume, die von allen im Stadtteil genutzt werden können.

Eigenheime, Mietshäuser, kleine Häuser und Hochhäuser, mehrgeschossige Häuser - das, was der Stadtdirektor "Retortenstadtteil" nennt, ist in den Dreißiger-, Fünfziger- und Achtzigerjahren entstanden. Und vor gut zehn Jahren setzten neu Zugezogene Einfamilienhäuser auf die Fläche des alten Segelflugplatzes, mitten in den Stadtteil, der im Osten von einem riesigen Gewerbepark begrenzt wird. Nun zählt der Südbezirk Remscheids 6500 Einwohner.

Nachbar, Netzwerker und Pfarrer in einer Person ist Axel Mersmann. Der 47-Jährige in schwarzen Jeans, Flanellhemd und Weste, ist ein Beispiel dafür, dass Stadtteilarbeit immer auch ein Personengeschäft ist. Seit zwölf Jahren arbeitet er als einer von zwei Pfarrern in der Gemeinde - offen, kommunikativ, gesprächsbereit und in seiner Gemeinde der Mann, der die Stadtteilarbeit voranbringt. Doch dafür muss er Überzeugungsarbeit leisten: "Die Idee, eine Kirchengemeinde als Motor und als Netzwerker zu sehen, erscheint zwar banal, aber es ist schwer, dies in die Köpfe zu bekommen."

Keine religiöse Selbstbefriedigung

Das Stadtteilmanagement sei auch für viele engagierte Gemeindemitglieder zunächst schwer nachzuvollziehen gewesen. Kein Wunder, denn für die Kirchengemeinde ist es nicht immer einfach, den Spagat zwischen der Suche nach dem eigenen Profil und der Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Religionsgemeinschaften zu schaffen. Doch in seiner temperamentvollen Art findet Pfarrer Mersmann deutliche Worte: "Ich möchte keinen Verein für religiöse Selbstbefriedigung führen." Er will mit der quartiersbezogenen Arbeit in die Offensive gehen und "sich nicht abschaffen lassen".

Hier geht es auch darum, wie sich Kirche im 21. Jahrhundert darstellt, nämlich nicht verwaltend, sondern gestaltend. Denn die finanziellen Sorgen der Johannis-Kirchengemeinde sind groß: Sie hat ein Ausgabevolumen von 1,4 Millionen Euro, dem aber nur 1,15 Millionen an Einnahmen gegenüberstehen. Die Ausdauer, die Mersmann für seine Arbeit braucht, gewinnt er beim regelmäßigen Walken. Inzwischen sitzt der gebürtige Remscheider, der in der Johannis-Kirchengemeinde auch schon sein Vikariat absolvierte, der Stadtteilkonferenz vor, in der Institutionen und Einrichtungen, Schulen, die Wohnungswirtschaft, die Kindertagesstätte und Bezirksvertreter das Wohl des Stadtteils organisieren.

Foto: Jens Grossmann
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Pfarrer Axel Mersmann ist Vorsitzender der Stadtteilkonferenz.

Foto: Jens Grossmann
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Montags findet der Katechumenenunterricht statt.

Unterstützung fand Mersmanns Engagement durch "Wohnquartier 4", ein gemeinsames Konzept des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe, des Baukonzerns Hochtief Construction, des Evangelischen Erwachsenenbildungswerkes Nordrhein sowie des Evangelischen Verbandes für Altenarbeit Rheinland-Westfalen-Lippe. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels werden hier Wohnen, Gesundheit, Kommunikation, Bildung und Kultur miteinander verzahnt. Der Stadtteil Hohenhagen, die evangelische Johannis-Kirchengemeinde Remscheid und die evangelische Alten- und Krankenhilfe waren für drei Jahre Pilotstandorte im Modellverbund "Wohnquartier 4". Doch seit einem Jahr ist das Projekt mit seiner hauptamtlichen Projektstelle ausgelaufen. Und ohne hauptamtliche Stadtteil-Koordination ist es schwer, die Arbeit fortzuführen.

Makler von Interessen

Deshalb will Pfarrer Mersmann im Juni einen Verein gründen, so etwas wie einen Dachverband für den Stadtteil. "Ich verstehe mich als Kirche hier oben auf dem Hohenhagen auch als Makler von Interessen", betont er. Die einen wollten nett wohnen, die anderen gut vermieten. "Deshalb muss ich eine Infrastruktur betreiben, die es den Jüngeren mit Kindern interessant macht, an uns anzudocken. Und das hilft gleichzeitig den Älteren", erklärt Mersmann. Synergieeffekte nutzen, städtische und gemeindliche Arbeit vernetzen, das alles erfordere ein gewisses Maß an Professionalität, unterstützt und flankiert durch das ehrenamtliche Engagement der Menschen am Hohenhagen. Das gehe nicht ohne einen Kümmerer.

Einer, der sich schon jetzt ehrenamtlich um den Stadtteil kümmert, ist Hans H. Rehbein. Der Werbefachmann, der auch der rheinischen Landessynode angehört, gestaltet und produziert mit einem kleinen Team die Verteilzeitschrift "Unser Stadtteil - Berichte und Informationen rund um den Hohenhagen", die über das Leben im Stadtteil informiert und von der Stadtteilkonferenz herausgegeben wird. Zweimal im Jahr finden die Anwohner die sechzehnseitige Zeitschrift in ihren Briefkästen. Darin Lesenswertes aus der Geschichte des Stadtteils, kleine Berichte aus den Institutionen, viele Termine und bezahlte Anzeigen, die die Produktion und das Erscheinen garantieren. Wären alle Remscheider wie der agile 71-Jährige, müsste der Hohenhagen um seine Zukunft nicht bangen. "Es ist ein Glücksfall, dass wir Hans H. Rehbein haben", sagt Pfarrer Mersmann.

Foto: Jens Grossmann
Foto: Jens Grossmann

Der Gottesdienstraum in der "Esche".

Foto: Jens Grossmann
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Familie Atis feiert das Hennafest ihrer Tochter auf dem Hohenhagen.

Dagegen ist die Diakonie mit ihrem Engagement auf dem Hohenhagen ins Hintertreffen geraten. Schließlich sollte ein zentraler Punkt der Stadtteilentwicklung ein Altenhilfezentrum sein, mit einem Altenheim mit Wohnungen für betreutes Wohnen. Der Altenhilfeverein hatte ein quartiernahes Wohnen zugesagt. Zu besichtigen ist heute aber nur eine Baustelle mit Baggern, Kränen und aufgeschütteter Erde. Erst im vergangenen Sommer begannen die Bauarbeiten für das Altenzentrum.

Die Bankenkrise, eine veränderte EU-Gesetzgebung und Schwierigkeiten in den eigenen Reihen verzögerten die Standortplanung. Im Stadtteil hatte man gehofft, dass viele Ältere, die derzeit noch allein zur Miete wohnen, in das betreute Wohnen gegen Miete umziehen könnten. Doch daraus wird wohl nichts. Einen Teil des Auftragsvolumens hat die Diakonie an einen Investor abgegeben, der jetzt Eigentumswohnungen plant. Lediglich sechs Appartements mit betreutem Wohnen sind bislang vorgesehen.

Vieles zum Guten

Die Nachbarinnen Filomena Mertens und Martina Andres kennen längst noch nicht alle Menschen im Stadtteil. Und das wollen sie ändern. Es wird dauern, bis jeder für jeden ein "Hallo" hat. Nach ihrer Meinung hat "Wohnquartier 4" vieles zum Guten geändert. Auch dafür, dass sie mit ihrem Engagement eine Heimat in der Kirchengemeinde gefunden haben, finden sie nur anerkennende Worte. Beim geborenen Remscheider - von seiner Mentalität her als Bergischer mit zurückhaltendem Charme ausgestattet - klingt das ungefähr so: "Es ist gar nicht mal so schlecht."

Text: Kathrin Jütte / Fotos: Jens Grossmann

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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