Pflicht der Eltern

Gesundheitliche und religiöse Gründe sprechen für die Beschneidung von Jungen
Budapest: Während der Beschneidung eines kleinen Jungen beten der Rabbiner. Foto: dpa/Bea Kallos (links) und der Vater.
Budapest: Während der Beschneidung eines kleinen Jungen beten der Rabbiner. Foto: dpa/Bea Kallos (links) und der Vater.
Warum die Beschneidung kein archaisches Ritual ist und auch liberale Juden an ihr festhalten, erläutert Antje Yael Deusel, Oberärztin für Kinderurologie und Rabbinerin von Bamberg.

Die rituelle Beschneidung ist ein brennendes Thema, und offenbar eines, das kaum einer emotionslos betrachtet. Entzündet hat sich die Debatte allerdings nicht anlässlich der rituellen Beschneidung eines jüdischen Buben, sondern der eines muslimischen. Dies mag der aktuelle Anlass gewesen sein, doch die eigentliche Ursache stellt dies sicher nicht dar. Ja, unter der Oberfläche, für die breite Öffentlichkeit bis zum Bekanntwerden des Kölner Urteils wenig wahrnehmbar, kocht es schon länger. Und Mediziner und Juristen haben die gegenwärtige Diskussion angefacht.

Die Argumentation gegen eine Beschneidung im Kindesalter führt als zentralen Punkt das Kindeswohl an. Von "bleibender Verstümmelung" reden die Kritiker genauso wie vom "Hineinzwingen in eine Religion". Beide Argumente sollte man jeweils für sich betrachten: Dass eine Beschneidung eine Verstümmelung sein soll, ist für mich schwer nachvollziehbar, ist damit doch im allgemeinen medizinischen Sprachgebrauch eine Veränderung des Körperbildes zum Negativen und/oder ein Verlust von Funktionsfähigkeit gemeint. Dies ist aber bei einer Vorhautentfernung nicht gegeben, unabhängig davon, aus welchem Grund sie erfolgt.

Die gesundheitlichen Vorteile für einen beschnittenen Jungen und Mann sind bekannt. Sie liegen insbesondere in der Verhütung von schweren Entzündungen im Genital- und Harntrakt sowie der Vermeidung von Krebs und Krebsvorstufen des Penis.

Vorteile für Partnerinnen

Dabei kommt dieser Vorteil nicht nur dem Beschnittenen zugute, sondern später auch seiner Partnerin. Bei ihr vermindert sich die Wahrscheinlichkeit deutlich, an einem Zervix- (Gebärmutterhals-) oder Vulva- (Schamlippen-) Karzinom zu erkranken, und zwar umso deutlicher, je früher der männliche Partner beschnitten wurde. Bei einer Beschneidung des Mannes im Erwachsenenalter ist dagegen dieser Vorteil für die Frau praktisch nicht mehr vorhanden, wie entsprechende Studien gezeigt haben.

Wir impfen junge Mädchen gegen HPV-Infektionen und hoffen sie so vor der Übertragung der kanzerogenen Viren und damit vor dem Auftreten von Zervix- und Vulvakarzinomen zu schützen, im Bewusstsein, dass eine Impfung nur sinnvoll ist, solange das Mädchen noch keinen sexuellen Verkehr hatte. Wohlgemerkt geht es hier nicht um promiske, sondern ganz normale Jugendliche.

Nur ein wenig anders

Eine Vorhautentfernung hat auch keine entstellende Wirkung. Der Penis sieht danach nur ein wenig anders aus. Daraus entsteht nur dann ein psychologisches Problem, wenn man eines daraus macht. Denn die Natur kennt etliche Normvarianten in der angeborenen Vorhautlänge und -form. Und viele Jungen sind auch aus medizinischen Gründen beschnitten, ohne ein psychisches Trauma erlitten zu haben. Normal ist, was die Umwelt dazu erklärt. Wenn man also die Auffassung vermittelt, ein beschnittenes Glied sei "unnormal", wird das die Allgemeinheit aufgreifen. Und individuelle Verschiedenheit wird dann nicht berücksichtigt. Man denke nur an das Idealbild von Frauen, das beispielsweise die Werbung vermittelt: jung, schön, sportlich und schlank. Sehen wirklich alle Frauen so aus? Und wenn nicht, sind sie dann unattraktiv?

In gleicher Weise vermittelt die Lifestyle-Medizin ein gewisses Sexualbild von Mann und Frau, und wenn es nicht so klappt, wie man(n) sich das vorstellt, sucht man nach Gründen. Ist man beschnitten, dann könnte das doch der Grund für alle Probleme sein, oder? Oder auch nicht. Für letzteres spricht jedenfalls, dass prozentual deutlich mehr beschnittene Männer mit ihrem Körper und Sexualleben zufrieden sind als unzufrieden. Die Gründe für Probleme in der Partnerschaft sind eben vielfältig, und nicht allein durch eine Beschneidung zu erklären. Natürlich muss die Beschneidung nach dem jeweils aktuellsten Stand der Medizin erfolgen. Das betrifft Instrumente und fachgerechte chirurgische Ausführung einschließlich Sterilität und Wundversorgung sowie angemessene Schmerzstillung und Betäubung. Unter diesen Bedingungen sind die Komplikationsraten hinsichtlich Verletzung, Blutung oder Infektion gering.

Vermeintlich archaisch

Und noch etwas muss angesprochen werden: Die Beschneidung von Jungen hat absolut nichts mit der Genitalverstümmelung von Mädchen zu tun. Leider wird im Deutschen sowohl für das eine wie für das andere das Wort "Beschneidung" gebraucht. Und so kommt es in der Öffentlichkeit nicht selten zu Verwechslungen, wie der eine oder andere Leserbrief zeigt. Eigentlich unvorstellbar, und wo ist eigentlich der öffentliche Aufschrei in Deutschland hinsichtlich der Genitalverstümmelung von Mädchen? Wenn überhaupt, dann kommt er nur im Kometenschweif der Diskussion um die Beschneidung von Knaben daher, bisweilen verbunden mit Kommentaren über das Schächten, die Speisegesetze und andere vermeintlich archaische und überholte Dinge.

Damit sind wir beim zweiten Teil, dem religiösen Aspekt angelangt. In der Diskussion um die Beschneidung taucht immer wieder die Forderung auf, dass ein Kind nicht in eine Religion "hineingezwungen" werden dürfe, schon gar nicht durch ein körperliches Merkmal. Nun macht die Beschneidung einen Jungen weder zum Juden noch zum Muslim. Und sie ist auch kein Hinderungsgrund für einen späteren Religionswechsel. Es stellt sich von daher also kein Problem, wenn sich der junge Mann später einmal gegen die Religion seiner Eltern entscheiden sollte. Andererseits ist ein unbeschnittener Jude kein vollgültiges Mitglied seiner Religionsgemeinschaft, außer gesundheitliche Gründe stehen einer Beschneidung im Weg.

Hier scheint gerade der Kern des Streites zu liegen: Ein Kind hat ein Recht auf Nicht-Religion - und wenn es denn gar nicht anders will, kann es sich später ja immer noch für oder gegen Religion entscheiden. Aber führt dies nicht die Grundwerte der deutschen Gesellschaft ad absurdum? Die jüdische Beschneidung, die Brit Mila, als Aufnahme eines Jungen in den Bund mit dem Ewigen, die Taufe eines christlichen Kindes und die Beschneidung eines muslimischen Knaben stünden damit auf der selben Ebene, bedeuten sie doch alle die Vorentscheidung für eine religiöse Erziehung und Prägung des Kindes. Und der Hinweis, die Kindertaufe bedeute keine körperliche Veränderung, ist in diesem Zusammenhang nicht schlagkräftig. Denn auch sie bedeutet die Aufnahme eines unmündigen Menschen in eine Religionsgemeinschaft.

Fundamentalistische Züge

Erschreckend ist die Vehemenz, mit der die Anti-Beschneidungsdebatte geführt und Juden und Muslimen von außen nahegebracht wird, wie sie ihre Religion zu leben und auszuüben haben. Hierin zeigt die Debatte nicht selten fundamentalistische Züge. Deutlich wird dies im Tenor etlicher Leserbriefe und von Zuschriften an die beiden Religionsgemeinschaften und ihre Vertreter, die bestenfalls von Unwissenheit zeugen, bisweilen aber auch einen Blick in die Abgründe von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus eröffnen. Warum sind die Juden aber auch so hartnäckig und wollen von der Beschneidung partout nicht ablassen? Warum entwickeln sie nicht einfach ein anderes Ritual für die Aufnahme in den Bund? So etwas Barbarisches, Archaisches passt doch nicht in unsere Zeit, oder? Sicherlich träfe dieser Einwand zu, wenn wir heute die Beschneidung noch mit Feuersteinmessern vollziehen würden. Aber das tun wir nun einmal nicht mehr, sondern richten uns seit vielen Jahrhunderten nach dem jeweils aktuellsten Stand der Medizin. Und um ein bloßes Ritual geht es auch nicht. Es handelt sich vielmehr um eines der grundlegenden Gebote im Judentum, das alle seine Richtungen befolgen. Ja, sogar unter säkular lebenden Juden ist die Beschneidung das lebendige Symbol für die Zugehörigkeit zum Judentum.

Das liberale Judentum, das von jeher Rituale hinterfragt und sie nicht nur um der Tradition willen ausführt, bekennt sich ausdrücklich zur rituellen Beschneidung im Neugeborenenalter. Kern des Gebotes ist das Beschnittensein vom frühestmöglichen Zeitpunkt an. Und dies kann kein Ersatzritual leisten. Wenn eine einwandfrei ausgeführte Beschneidung nun keine Verstümmelung darstellt, sondern sogar der Gesundheit von Mann und Frau förderlich ist und schon von daher kaum unethisch sein kann, wird sie auch nicht dadurch diskreditiert, dass man sie aus religiöser Motivation vollzieht.

Die Gebote des Judentums stellen hohe ethische Ansprüche. Sie sind sehr alt, aber keineswegs veraltet, sondern heute so aktuell wie je. Gerade die Sorge um das Kindeswohl nimmt darin einen zentralen Platz ein. Dazu gehört die Vermittlung religiöser Werte ebenso wie die einer vollgültigen Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft. Und es ist unsere Verantwortung als Eltern, dafür zu sorgen. Wir können das nicht einfach auf unsere Kinder abwälzen mit der Begründung, sie sollten später selber sehen, ob sie das überhaupt wollen und gefälligst selber die notwendigen Schritte ergreifen.

Antje Yael Deusel

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