Exemplarisch

Deutsche Gesellschaftsgeschichte
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Mehr als eine Biographie: Wo sein Großvater Jakob in seinem Denken stehen geblieben war, hat Günther van Norden die Geschichte konsequent zu Ende gedacht und aufgearbeitet.

Ein überraschendes Buch: Der renommierte Historiker Günther van Norden, Experte insbesondere auf dem Gebiet des Kirchenkampfes und der "Bekennenden Kirche" (BK), legt nach seiner Biografie über den BK-Pfarrer Friedrich Langensiepen (2006) nun die spannende Darstellung eines bemerkenswerten "Aufsteigers" vor: seines eigenen Großvaters. Er schildert dessen Weg vom abgebrochenen Volksschüler aus ärmlichsten Verhältnissen in Ostfriesland zu einem hochgeschätzten Ehrendoktor der Kölner Universität und Vizepräsidenten der Industrie- und Handelskammer. So gesehen ist die mit zahlreichen Fotos und Dokumenten versehene Biografie mit ihrem individuellen Ansatz zugleich eine herausragende Ergänzung einer strukturellen deutschen Gesellschaftsgeschichte.

Jakob van Nordens Engagement für den Einzelhandel führte ihn in viele wichtige Positionen und Ehrenämter, die er 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor, da er nicht in die Partei eintrat - allerdings ohne systemkritische Begründung. Die Frage liegt nahe: War Opa (k)ein Nazi? Günther van Norden kommt anhand zahlreicher Dokumente, Tagebucheintragungen und Briefe in seinem Buch - das zugleich eine hervorragende mentalitätsgeschichtliche Studie darstellt - zu folgendem Resümee: Jakob van Nordens deutsch-nationale Mentalität "war offen für viele traditionelle Muster aus dem national-sozialistischen Weltanschauungsbrei, zum Beispiel für die irrationale Hoch- und Überschätzung des 'deutschen Wesens', für die laut propagierte Wiederherstellung von Macht und Ehre der deutschen Nation durch den 'Führer' Adolf Hitler nach der 'Schande von Versailles', für die Ignoranz gegenüber den liberalen Werten und politischen Leistungen der Weimarer Demokratie, für die völlig unkritische Annahme des Rassebegriffs, das heißt konkret: für die Ablehnung des angeblich so gefährlichen Judentums. Die insgesamt rückwärtsgewandte Gefühls- und Gedankenwelt war ein Ausdruck seines Antimodernismus. In allen diesen Punkten war er für eine Mehrheit des konservativen Bürgertums" repräsentativ. Die "Deutschen Christen" lehnte Jakob van Norden ab, der BK stand er hier und da nahe - primär während seiner Zeit als Presbyter, Diakonie- und Finanzkirchmeister der Kölner Gemeinde. Er war eben "kein Nazi, aber er war einer dieser blinden nationalen Gläubigen". Der Klappentext des Buches formuliert die Erkenntnis des Autors: "Es gab nur einen Punkt, der es erlaubt zu sagen: Er war kein Nazi. Das war sein tief empfundener christlicher Glaube, der ihn veranlasste, den Nazi-Ideologen öffentlich zu widersprechen." Nach dem Ende des Dritten Reichs dachte der Großvater über die "deutsche Katastrophe" nach. Dies führte - so Günther van Norden - "zu einer rationalen Anerkennung deutscher Schuld, ohne aber wohl, so darf ich vielleicht seine Texte interpretieren, in die Tiefenschichten seines Bewusstseins eindringen zu können." Vorurteile blieben - so etwa des Großvaters Sorge, Deutschland könne wieder "von den Kommunisten und Sozialdemokraten beherrscht werden", wobei "dann wohl wieder der Jude im Hintergrund stehen wird". So trifft auch auf ihn zu, was Günther van Norden im Blick auf das mehrheitliche Versagen von Christen und Kirche im "Dritten Reich" "die Katastrophe des real existierenden Christentums in dieser Zeit" nennt. Da nun, wo der Großvater in seinem Denken stehen geblieben war, hat der Enkel die Geschichte konsequent zu Ende gedacht und in vielen Büchern aufgearbeitet - und das begann bereits 1945, mit dem zutiefst verstörenden Besuch im von britischen Truppen befreiten KZ von Bergen-Belsen.

Günther van Norden: Zwischen Religion und Nation. CMZ-Verlag, Rheinbach 2012, 192 Seiten, Euro 19,80.

Klaus Schmidt

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