Wie es der Zufall will

John Cage brachte der Musik das Schweigen und die Leichtigkeit des Seins
Ein uneitler Komponist: John Cage 1990 auf dem Kollwitzplatz in Ost-Berlin. Foto: dpa/Zentralbild
Ein uneitler Komponist: John Cage 1990 auf dem Kollwitzplatz in Ost-Berlin. Foto: dpa/Zentralbild
Musiker, Erfinder, Künstler - John Cage war in vielem besonders. Er gilt als einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Anlässlich seines einhundertsten Geburtstags stellt Georg Beck, Musikjournalist in Düsseldorf, die innovative Schaffenskraft, Denk- und Arbeitsweise sowie die Bedeutung des "experimentellen Musikpioniers" vor.

Gewürfelt hat er für sein Leben gern. Auch, um daraus Kompositionen zu erstellen. Wobei er in diesem Punkt vergleichsweise offen war. Als bei einer Aufführung seines berühmten Schweigestücks - ein Pianist setzt sich vors Instrument, öffnet und schließt den Deckel drei Mal und verlässt nach vier Minuten 33 Sekunden das Podium, ohne eine einzige Note gespielt zu haben - eine Zuhörerin ihrer Empörung Lauf und Laut gab ("Das ist doch keine Musik!"), reagierte John Cage ausgesprochen gentlemanlike: "Sie müssen es nicht für Musik halten, wenn dieser Ausdruck Sie schockiert." Sprach's und hat weiter gewürfelt. Und weiter schockiert.

Wahrscheinlich nicht mit Wille und Bewusstsein. Es hat sich so ergeben. Auch Arnold Schönberg, sein Lehrer, hatte ja keineswegs das Épater le bourgeois im Sinn, er wollte nicht schockieren, als er damit angefangen hat, zwölftönig zu komponieren - anfangen musste, hätte Schönberg gesagt, weil Kunst für ihn nicht von Können, sondern von Müssen kommt. Doch die Wirkung war nun einmal so, wie sie war. In diesem wie in jenem Fall.

"John, Sie haben keinen Sinn für Harmonie!", soll Schönberg einmal im Unterricht bemerkt haben. Und Cage war nicht beleidigt. Er hat es sogar weitererzählt. Er hatte Humor, einen feinen Sinn für Ironie. Überhaupt, so Schönberg, sei dieser John Milton Cage Jr. im traditionellen Sinn wohl nicht als Komponist anzusehen. Eher schon, wie bereits der Vater, als Erfinder. Was wir als Hinweis verstehen können. Auf Cages vielleicht grundstürzendste Erfindung: seine Einführung des Schweigens in die Musik. 29. August 1952, Maverick Concert Hall, Woodstock, N.Y., Uraufführung von 4'33" mit David Tudor am Piano. Als Hinweis aber auch auf eine andere, nicht weniger folgenreiche Invention dieses experimentellen Musikpioniers, wie John Cage in der angelsächsischen Literatur so gern apostrophiert wird.

Das präparierte Klavier

1938. Cage arbeitet in diesen Jahren viel mit den Tanzklassen von Bonnie Bird an der Cornish School in Seattle. Wie es der Zufall will, wird er gebeten, eine Musik für ein Bacchanal zu schreiben. Klar, dass dazu Schlagzeug gehören müsste, wofür erstens kein Platz war und was er zweitens auch nicht hatte. Was er hatte, war ein Klavier. Cage erinnerte sich an die Art, wie der Pianist Henry Cowell die Hände über die Saiten gestrichen, einzelne gezupft hatte. Da war er auf einmal da, dieser Gedanke der Abdämpfung. Cage geht in die Werkstatt, kramt Dichtungsband, Gummi, Schrauben und Bolzen hervor und klemmt sie zwischen die Saiten. Damit war es erfunden: das präparierte Klavier. Erfunden damit zugleich ein Zufalls- und Unbestimmtheitsklang von ganz eigenem Charme. Einer, den man einmal von Cageinterpreten gehört haben muss, die den Erfinder Cage wie seine Erfindungen dezidiert ins Herz geschlossen haben. Denn nur dann, soviel steht fest, wird etwas daraus.

Wer nicht überzeugt ist von der Ernsthaftigkeit, die in einem Tacet-Ereignis wie 4'33" steckt, wird ein solches (Anti-)Werk unweigerlich ruinieren. Ohne Ethos keine Kunst. Auch das ließe sich von John Cage lernen. Apropos: Wo und mit was ein neugierig gewordener Cage-Anfänger anfängt, darf auch in diesem Fall der Zufall entscheiden. Nur eben, dass zum Gelingen in jedem Fall Ausführende vonnöten sind, deren Liebe zur Musik so stark ist, dass sie auch (oder gerade) mit John Cage "keinen Mutwillen treiben", an ihm, wie Paulus im ersten Korintherbrief mahnt, "nicht "das Ihre suchen".

Halberstadt lässt zweifeln

Womit diese kleine Hommage zu ihrem kritischen Teil übergehen muss. Nicht überall, wo Cage und Kunst draufsteht, sind nämlich dieselben auch drin. Kurios etwa, dass ein mittlerweile global wahrgenommenes, heftig umjubeltes "John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt" Zweifel ausgerechnet an seinem künstlerischen Gehalt aufkommen lässt. Seit seinem Start 2001, pünktlich zu Cages Geburtstag am 5. September, steht im Zentrum des Medieninteresses ein mit Tönen eher geizendes Klangereignis in der kleinen Buchardi-Kirche zu Halberstadt. Wer dort eintritt, taucht ein in den Vortrag eines Orgelstücks mit der imposanten Gesamtspieldauer von exakt 639 Jahren. Das "längste Musikstück der Welt"! Nachvollziehbar, dass solcherlei Tollheiten die Sensationsglocken zum Schwingen bringen und reichlich lyrischen Mehrwert erzeugen: "Das Summen Gottes" (Die Zeit), "Vertont in alle Ewigkeit" (Der Spiegel).

Was das mit John Cage zu tun hat? Das ist tatsächlich die Frage. Folgt man den Initiatoren, handelt es sich beim "Summen Gottes" um die Interpretation des Orgelstücks "Organ/ASLSP" von John Cage. Man darf das getrost bezweifeln. Den Uraufführungs-Interpreten jedenfalls, den von Cage hochgeschätzten Widmungsträger der Komposition, den Essener Organisten Gerd Zacher hat das Halberstädter Projekt-Komitee gleich gar nicht eingeweiht. Wahrscheinlich, weil man ahnte, dass Zacher entschlossen auf die Spaßbremse getreten hätte.Die Komplexität eines Werkzusammenhangs lässt sich, auch in diesem Fall, nicht mir nichts dir nichts auf Null setzen.

"Finnegans Wake" statt Allegro

Wer die Partitur zu besagtem Orgelstück aufschlägt, dem begegnet ein rätselhafter Cage. Einer, der das seltsame ASLSP im Titel keineswegs in ein bloßes "as slow as possible" "so langsam wie möglich" aufgelöst haben möchte. Cage ist hintergründiger. Und er stellt Forderungen. Auch solche intellektueller Natur, wenn er etwa die Literaturfestigkeit seiner Interpreten prüft. Wo andere Komponisten "Allegro", "Adagio", "Mit Empfindung" und dergleichen notieren, bringt Cage "Finnegans Wake" seines Lieblingsschriftstellers James Joyce ins Spiel. Mit einem Mal sieht sich unser Cage-Interpret aus heiterem Himmel nach Dublin versetzt. Der Romanheld tritt ans geöffnete Fenster und begrüßt die Stadt: "Soft morning, city! Lsp!"

Was das soll? Ein Witz? Oder sollte Cage für sein Stück tatsächlich solches Räuspern jenseits aller Sprachlichkeit vorgeschwebt haben? Etwa im Sinn von: "Spiele Organ/ASLSP as Lsp! wie Lsp!?" Wie man so was überhaupt realisieren kann? Fragen, auf die Cage-Interpreten Antworten parat haben sollten. Darum jedenfalls - anders als ein "John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt" zu Halberstadt - keinen Bogen machen oder sich mit "Halbwahrheiten" (Gerd Zacher) zufrieden geben, um letztlich mit einem kindischem Augenaufschlag "Wie langsam ist "so langsam wie möglich?" willkürliche 639 Jahre zu extrapolieren.

Was würde Cage dazu sagen?

Apropos: Zacher selbst hatte besagte Interpretationsaufgabe "Organ/ASLSP" 1987 in geradezu bescheidenen dreißig Minuten gelöst. Im Übrigen mit Hilfe seiner Hände und Füße. Wie andere Orgel-Komponisten vor ihm, hat auch Cage sein Stück nämlich ausdrücklich für einen in der Spielkunst bewanderten Künstler geschrieben. Für einen Menschen, der musiziert. Versteht sich von selbst? Nun, auch da hat Halberstadt eigene Auffassungen. In Monatsabständen gibt es "Klangwechsel". Jemand kommt vorbei, setzt hier ein neues Pfeifchen ein, drückt dort eine der drei auf der Klaviatur vorhandenen Tasten und hängt ein Sandsäckchen dran. Fertig ist die Klanginstallation. Und fertig, hier im Sinne von am Ende, auch die Orgel. Sie mutiert zum Pfeifenautomaten mit einem aufs Automatenwarten umgeschulten Organisten. Was Cage dazu sagen würde? Gut möglich, dass er seinen Joyce einer leichten Präparierung unterzöge: "Soft morning, Halberstadt! Lsp!"

Chance, indeterminacy - Zufall, Unbestimmtheit betreffen, mittlerweile ersichtlich, auch die Cage-Interpretation. Was nicht heißt, dass akzeptable Cage-Konzerterfahrungen damit ausgeschlossen sind. Im Gegenteil. Immer noch kann man Cage wunderbar musiziert hören, was dem Rezensenten zuletzt noch mit Amores widerfahren ist, einem frühen Werk von John Cage für präpariertes Klavier und Schlagzeug. Mit dabei Pianist Ulrich Löffler vom Kölner Ensemble musikFabrik, der am Rande noch immer ganz erfüllt zu erzählen wusste von einer schon länger zurückliegenden Begegnung mit dem Komponisten. "Er war sehr herzlich und dankbar und nahm zu seiner Musik überhaupt keine Stellung, sondern nur zu dem, was die Leute gemacht haben, und das, was sie gemacht haben, das fand er toll. Seine Musik hat er nie bewertet - das muss so gemacht werden oder so. So einen uneitlen Komponisten hab ich noch nie getroffen!"

Wie Joseph Beuys, so war auch John Cage etwas wie die Verkörperung einer demokratischen offenen Kunstpraxis. Das Vorschriftenmachen in der Kunst wie im Leben lag ihm fern. Deshalb sein Plädoyer für Zufall und Unbestimmtheit. Deshalb sein Credo, Musik entstehen zu lassen mit "chance operations": mit Würfel, Münze und chinesischem Orakelbuch I Ging, wozu man dann Aleatorik gesagt hat. Komposition mit Hilfe des (gelenkten) Zufalls. Das klingt nach Arbeit. Und ist es auch., wie Cage am eigenen Leib erfahren musste.

Die Musik ist schon da

Als er 1952 das erste Stück seiner Music for Piano schreibt, klagt Cage sehr über die Langsamkeit dieses Verfahrens. Mit einer Mischung aus Bewunderung und vielleicht auch ein wenig Neid vergleicht er sein Arbeiten mit dem der Maler, die die "schnellen" Wasserfarben benutzen. Worauf sich Cage - wie es der Zufall will - sein Notenpapier betrachtet. Was ist das? Cage schaut genauer hin und entdeckt Unregelmäßigkeiten, womit sie dann auch schon gemacht ist, diese Entdeckung: Die Musik ist schon da! "I looked at my paper, and I found my 'water colors': suddenly I saw that the music, all the music, was already there."

Das Faustische, das Grüblerische, die Vorstellung, dass man als Künstler einen Stoff erinnern, wiederholen, durcharbeiten müsse, wieder und immer wieder, dass dies und nichts anders Schöpfung sei, diese Vorstellung hat John Cage nicht nur nicht gemocht, er hat mit ihr vielmehr Schluss gemacht und ihr sein Ideal, besser vielleicht: seine Erfahrung entgegengestellt: Die Musik ist schon da! Was auch heißt: Der Sinn ist schon da. Ein Satz der Befreiung. Nicht denkbar ohne die Nähe zum Buddhismus, den Cage in seiner Zen-Form praktizierte. Denn was macht der Buddhist? Die Frage ist bekanntlich schon falsch gestellt. "Machen" tut er eben nichts. Er findet vor. Er entscheidet auch nicht. Stattdessen kommen Würfel, Münze, I Ging ins Spiel. Und seitdem wir gelernt haben, solches nicht als Willkür, als Chaos abzutun, bewahren wir die Leichtigkeit, die damit ins Kunstgeschehen hineingekommen ist. Genau genommen nicht nur in die Kunst, auch ins Leben. Noch dies also, der Fingerzeig auf die Leichtigkeit des Seins, ein Verdienst von John Cage.

Georg Beck

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