Eine Suche

Vergangenheitsbewältigung
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Seltmann verspricht eine "deutsch-polnische Suche nach der Vergangenheit. Diese führt ihn und seine Frau durch halb Europa. Der Autor hat aufwändige Recherchen betrieben, Archive durchsucht, ist Spuren gefolgt, um neue Spuren zu finden - eine Schnitzeljagd, die das Buch in 21 Kapiteln dokumentiert.

Uwe von Seltmann hat sich viel vorgenommen. Nachdem der Theologe, Journalist und Schriftsteller 2004 die Geschichte der eigenen Familie recherchiert und unter dem Titel Schweigen die Täter, reden die Enkel aufzeichnete, erforscht er nun eine zweite - die seiner polnischen Ehefrau Gabriela. Seltmanns Projekt steht in Kontinuität zum ersten, wenn es um die Konfrontation mit der Vergangenheit und das hartnäckige Schweigen über diese geht. Gleichzeitig ist die Idee der polnisch-deutschen Versöhnung maßgebend. So spricht der Projekttitel von: "Zwei Familien - zwei Vergangenheiten - eine Zukunft". Der Autor stellt die Lebenswirklichkeiten beider Großeltern, speziell der Großväter gegenüber: auf deutscher Seite Lothar von Seltmann, SS-Brigadeführer im Stab Odilo Lotaro Globocnik, einer der "skrupellosesten Vollstrecker der Nationalsozialisten" und "Kulturreferent" unter SS-Führer Friedrich-Wilhelm Krüger in Krakau; auf polnischer Seite Michal Pazdanowski, Rektor einer agrarwirtschaftlichen Schule in Zabie (heute Verkhovyna), der 1943 ins KZ Majdanek verschleppt wurde und 1944 auf einem Krankentransport von Majdanek nach Auschwitz starb.

Seltmann verspricht eine "deutsch-polnische Suche nach der Vergangenheit", so der Untertitel. Diese mehr deutsche als polnische Suche führt ihn und seine Frau durch halb Europa: in das französische Baskenland, nach Wien, und weiter von Warschau, Lemberg und Krakau bis in die heutige Ukraine, nach Czernowitz, Kolomea und Verkhovyna - Regionen, "dessen Häuser auf Massengräbern erbaut" und "Böden von Blut getränkt" sind, wie es im Buch heißt.

Den Zugang zur Vergangenheit erschließt er sich durch Originaldokumente: Fotos, Briefe und Kassiber, die teilweise vollständig abgedruckt werden. So werden Sprache, Leid, Bedürfnisse, Gefühle und Ansichten sowohl der Opfer als auch der Täter lebendig. Ebenso lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen. Diese teilweise detaillierten Beschreibungen grausamer Taten und Zustände wühlen auf und machen fassungslos. Einzelne Namen, Gesichter und Geschichten stechen aus der anonymen Masse der Toten heraus.

Der Autor hat aufwändige Recherchen betrieben, Archive durchsucht, ist Spuren gefolgt, um neue Spuren zu finden - eine Schnitzeljagd, die das Buch in 21 Kapiteln dokumentiert. Die Erzählung verläuft nicht entlang dem Leben des Großvaters Pazdanowski, sondern folgt der Reise des Chronisten in die Vergangenheit und dem Verlauf seiner Recherchen. So geben auch die Kapitelüberschriften Auskunft darüber, wann und wo sich der Suchende gerade befindet. Dinge sind verborgen, werden aufgedeckt - ein Hauch von Spannung hier und da.

Es bleibt aber bei dem Hauch, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, in den verschiedenen Raum-Zeit-Ebenen den Überblick zu behalten. Die Geschichte wird in kleinen Häppchen gereicht, wobei nicht jeder Happen überhaupt von Bedeutung ist. Der Spannungsbogen ist schnell überspannt, weil zu viele Antworten ungefragt gegeben werden. Es scheint, als verirre sich der Suchende in zu vielen Anekdoten, zu vielen Namen, zu vielen Lebensgeschichten, von denen man nicht weiß, ob sie im Verlauf noch eine Rolle spielen oder was überhaupt ihre Rolle ist.

Hauptantrieb des Verfassers ist die Gegenwart der Vergangenheit: "What we all have inside of us - it's spooky" - ob Angst, Misstrauen, Vorurteil oder das ständige tiefe Gefühl, "dass sich Heil rasch in Unheil verwandeln" könne. Um sich von diesen tief sitzenden Gefühlen und Barrieren zu befreien - sowohl persönlich als auch gesellschaftlich - müsse man das Schweigen brechen und die Vergangenheit bewältigen. Er stellt die Konfrontation mit der Vergangenheit als Befreiungsschlag dar, der, wenn auch schmerzlich, die notwendige Öffnung und Aufklärung bringe. Aus einer vermeintlich überlegenen moralischen Stellung heraus begegnet der Autor dem Desinteresse, Unverständnis und Schweigen der Opfer mit Ignoranz und Druck. Er fährt ungehemmt mit seinen Fragen fort. So geht bei ihm mit der Bewältigung der Vergangenheit fast eine Überwältigung der Vergangenheit einher.

Die Fülle an Informationen, Namen und Geschichten lässt leider den Fokus etwas verschwimmen: Es scheint ihm schwer zu fallen, sich für ein Kernthema zu entscheiden: die Vergangenheit oder die Suche danach? Die politische Geschichte in Polen und der Ukraine? Die Geschichte seiner und ihrer Großeltern? Die Lebensgeschichten von vielen? Das Problem des Umgangs mit Geschichte, sein Plädoyer für eine bedingungslose Aufklärung? Uwe von Seltmann hat sich viel vorgenommen.

Uwe von Seltmann: Todleben. Eine Deutsch-Polnische Suche nach der Vergangenheit. Herbig Verlag, München 2012, 320 Seiten, Euro 19,90.

Katharina Lübke

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