Strategie statt Schere

Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit bedarf einer Antwort
73 Prozent der deutschen Wahlbevölkerung betrachten die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht, eine große Mehrheit glaubt, dass es ihr in zehn Jahren schlechter gehen wird - das ist eine gewaltige Misstrauenskundgebung.

Er war unwürdig, schlicht ein Armutszeugnis: der monatelange Streit um den kürzlich von der Bundesregierung vorgestellten Armuts- und Reichtumsbericht. Dass er dem Staatsbürger unbequeme Informationen kaschiert, ist hinreichend diskutiert worden. Die kritischen Reaktionen darauf als parteitaktisches Schauspiel oder gar als Wahlkampfgetöse abzutun, grenzt an Realitätsverweigerung. Schließlich wird nur aufgedeckt, was allseits längst bekannt ist: Die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst. Aber der Ruck im Land bleibt aus.

Der Reihe nach: Deutschland ist eines der fünf reichsten Länder der Welt. Die Jahre des so genannten Wirtschaftswunders von 1959 bis 1973 führten zu einem beispiellosen Wohlstand mit steigenden Einkommen in der gesamten Bevölkerung. Ein relativ hoher Einkommensdurchschnitt und gute sozialstaatliche Leistungen sicherten bislang den sozialen Frieden.

Doch der Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte 2008/2009, herbeigeführt durch einen grenzenlos habgierigen Turbokapitalismus, bescherte uns die seit 1929 schlimmste Depression der Realwirtschaft. Eine dramatische Folge ist der Trend zu verschärfter Ungleichheit. Die Vermögenskonzentration wird weiter vorangetrieben, die Reallöhne stagnieren seit Jahren, der Niedriglohnsektor wächst. Neben drei Millionen Arbeitslosen gibt es sechs Millionen Menschen, die heute für weniger als acht Euro die Stunde arbeiten. "Der Abbau von Arbeitslosigkeit kann nicht mit erfolgreicher Armutsbekämpfung gleichgesetzt werden", sagt deshalb auch Maria Loheide, sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Deutschland. Viele Menschen könnten von ihrem Lohn nicht mehr leben und müssten Hartz IV-Leistungen beanspruchen. Schlimmer noch: Jeder vierte Arbeitnehmer gehört inzwischen zu den acht Millionen im Niedriglohnsektor. Die betroffenen Menschen werden im Alter nicht von ihrer Rente leben können. Die Bundesregierung bleibt eine klare Antwort schuldig, wie sie diese Altersarmut zukünftig verhindern will. Die Diakonie Deutschland setzt sich ein für einen gesetzlichen Mindestlohn und Maßnahmen gegen die prekäre Beschäftigung.

Ein weiteres Beispiel: Während die Steuer auf Einkommen bis zu 45 Prozent beträgt, werden für Kapitaleinkünfte nur 25 Prozent fällig. Die Bilanz: Lohn-, Umsatz- und Verbrauchssteuern ergeben 80 Prozent des Steueraufkommens, die Unternehmenssteuer dagegen nur 12 Prozent. Wie viel Ungleichheit verträgt unsere Demokratie?

73 Prozent der deutschen Wahlbevölkerung betrachten die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht, eine große Mehrheit glaubt, dass es ihr in zehn Jahren schlechter gehen wird - das ist eine gewaltige Misstrauenskundgebung. Doch wo bleibt der Aufschrei?

Die Diakonie Deutschland mahnt an: Die sozialen Probleme gehören auf den Tisch. Nach Ansicht von Maria Loheide sollte der Armuts- und Reichtumsbericht zukünftig von einer unabhängigen Sachverständigenkommission verfasst werden. Recht hat sie. Nur so lässt sich gewährleisten, dass die Bilanz von Armut und Reichtum nicht zum Spielball von Parteipolitik wird. Die Grundlage unserer Demokratie ist, dass das erwirtschaftete Sozialprodukt ausgewogen verteilt wird. Eine Strategie für mehr Verteilungsgerechtigkeit tut Not, die Schere darf nicht selbstverständlich sein.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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