Überwinder des Mittelalters

Wie liberale deutsche Juden Martin Luther und sein Werk bewertet haben
Lutherdenkmal und Stadtkirche in Wittenberg. Foto: dpa/Jens Wolf
Lutherdenkmal und Stadtkirche in Wittenberg. Foto: dpa/Jens Wolf
"Schöpfer des Deutschtums, schlimmerer Judenfeind als die Päpste, Kronzeuge der Nazis": Der Rektor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs Walter Homolka beschreibt die Lutherbilder liberaler deutscher Juden im 19. und 20. Jahrhundert.

"Wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen", befand vor gut einhundert Jahren Rabbiner Reinhold Lewin. Seine preisgekrönte Doktorarbeit "Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters", die 1911 erschien, war die erste wissenschaftliche Monographie zu diesem Thema, die auf der Durchsicht aller Schriften Luthers beruhte. Lewin machte das Schwinden von Luthers Hoffnung auf einen Übertritt der Juden zum Christentum für dessen Abkehr von einer anfänglich toleranten Haltung gegenüber den Juden verantwortlich.

Von Anfang an äußerten sich Juden zu Luthers Wirken. Als sehr frühe Reaktion gilt die des aus Spanien stammenden Jerusalemer Kabbalisten Rabbi Abraham ben Elieser Halevi (ca. 1460-1528). Er bezog 1525 die Vorhersage von der Ankunft einer mächtigen Gestalt auf den Reformator, den "von allen erwähnten Mann, der ausnehmend edel in all seinen Unternehmungen ist".

Auch wenn diese messianischen Hoffnungen enttäuscht wurden: Luther hatte mit seiner Schrift "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" (1523) eine unerhört neue Position vertreten. Die Juden in den deutschsprachigen Ländern hofften sehr auf eine Verbesserung ihrer Lage, als sich Luther zunächst in ihre Lage versetzte und schrieb: "Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte gesehen, dass solche Tölpel und Knebel den christlichen Glauben regieren und lehren, so wäre ich eher eine Sau als ein Christ geworden." Doch dann empfand Luther das Festhalten der Juden an ihrem Glauben als Infragestellung seines eigenen Glaubensangebots. Und das führte zu starken Ausfällen gegen ihre "Verstocktheit".

In einem Beitrag zur Lutherdekade auf der Website der EKD heißt es zu Luthers Forderung, die Juden aus Deutschland zu vertreiben, leider beschwichtigend: "Glücklicherweise blieb diese Aufforderung wirkungslos. Kein Landesherr folgte dem Rat Luthers." Tatsächlich aber fand 1543 eine umfassende Vertreibung im Kurfürstentum Sachsen statt, wo Martin Luthers harte Einstellung gegenüber den Juden dominierte. Bei der Vertreibung aus dem lutherischen Braunschweig 1546 berief sich der Stadtrat ebenfalls auf Luthers Judenschriften. Und zuvor hatte der hessische Landgraf Philipp "der Großmütige" als erster protestantischer Landesherr das jüdische Leben mit einer Judenordnung reglementiert. Kurzum, die großen Hoffnungen wurden erst einmal enttäuscht.

Symbol geistiger Freiheit

Doch Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Luther im Zuge der jüdischen Aufklärung zum Symbol und Ausgangspunkt geistiger Freiheit. Jüdische Reformer wie Saul Ascher (1767-1822) begriffen ihn als Wegbereiter für die Emanzipation und Erneuerung des Judentums. Die Lutherverehrung der Juden erinnert damit sehr an ihre Begeisterung für Friedrich Schiller.

Die Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg weist auf den Umstand hin, dass die judenfeindlichen Schriften des späten Luther bis zu ihrem Nachdruck in der 1826 begonnenen Erlanger Gesamtausgabe offensichtlich nicht bekannt waren. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fielen seine gehässigen Ausfälle kaum zu Gewicht. Stattdessen wurde er als Übersetzer gewürdigt, der den Reichtum der hebräischen Sprache erkannt und die Bibel verdeutscht und volkstümlich gemacht hatte. Und nicht von ungefähr wurde Moses Mendelssohn (1729-1786), der die Tora ins Deutsche übertragen hatte, im 19. Jahrhundert als "Luther des Judentums" gefeiert.

Leopold Zunz (1794-1886), der Begründer der Wissenschaft des Judentums, sah Luther 1855 als den Überwinder des Mittelalters, der seiner Zeit weit voraus war und dessen Wahrheiten, insbesondere die Gedanken- und Gewissensfreiheit, in der Gegenwart überhaupt erst eingeholt werden müssten. Das Urteil des Zunz-Schülers Abraham Geiger fiel nüchterner aus: "Martin Luther hat der Menschheit keinen neuen Gedankeninhalt gebracht", schrieb der Vordenker des liberalen Judentums 1871. Aber er gestand dem Reformator zu, den Geist von priesterlicher Macht befreit und die Religion mit dem Volksleben verknüpft zu haben, so wie einst die Pharisäer den priesterlichen Sadduzäismus überwunden hätten. Auch für Geiger war es Luthers Bibelübersetzung, die ihn heraushob und die ihre Wurzeln schließlich im Judentum hatte: "Mit seiner Bibelübersetzung legte Luther das Zeugnis ab, dass er seine Erfrischung der Kirche mit den Mitteln des Judentums vollbracht."

Ein Nationalheld

Für viele deutsche Juden war Luther zum deutschen Nationalhelden geworden. Als Rabbiner Abraham Geiger 1855 Paris besuchte, verglich er den Panthéon mit der Walhalla und beklagte, dass König Ludwig von Bayern dort ein schlechtes Totengericht gehalten habe: "Martin Luther wurde aus der Reihe der großen deutschen Männer ausgeschieden." Dem Mann, "der mit dem Hammer seines Geistes die alte Form zertrümmert, die geistliche Bevormundung beseitigt hat", gebühre "ein Platz in der Ehrenhalle des deutschen Volkes und der Menschheit".

Erst als das Ideal des Aufklärungs-Luther im späteren 19. Jahrhundert vom kirchlichen Luther und vom deutschen Luther im Sinne einer Einheit von protestantischem Christentum und preußischem Königtum überlagert wurde, schrieb der Historiker Heinrich Graetz in seiner "Volkstümlichen Geschichte der Juden" (Leipzig 1889) mit Blick auf Luthers Judenschriften: "So hatten denn die Juden an dem Reformator und Regenerator Deutschlands einen fast noch schlimmeren Feind als an den Dominikanern [...], jedenfalls einen schlimmeren als an den Päpsten bis zur Mitte des Jahrhunderts."

Zum Reformationsgedenken von 1917 wurden in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands ganz unterschiedliche Stimmen zu Luther laut. Hermann Cohen (1842-1918) pries ihn in den "Neuen Jüdischen Monatsheften" als einen "Schöpfer des Deutschtums". Wie Geiger lobte er Luthers Übersetzungstätigkeit: "Er hat dadurch die ursprüngliche Bestimmung der Bibel, welche das Judentum in seiner ganzen Geschichte treulich gepflegt hat, in der Christenheit zur Erfüllung gebracht." Der Neukantianer Cohen befand: "Auch als deutscher Staatsbürger hat der moderne Jude Martin Luther als den Urheber des modernen Staatsgedankens zu feiern und eine unvergängliche innige Dankbarkeit seinem Andenken zu weihen." Mit Blick auf Luthers Bibelübersetzung, Rechtfertigungslehre und Anschauung vom Staat kam er zu dem Schluss, Luther, "dieser deutsche Geistesheld", sei Erbe des Judentums gewesen und deshalb den Juden besonders nahe.

Unergründlicher Hass

Dagegen übte der Wiener Talmudwissenschaftler und Historiker Samuel Krauss (1866-1948) entschieden Kritik. Er betonte in der Zeitschrift Der Jude Luthers Judenfeindschaft: "War sein Glaube tief und unermesslich, so war auch sein Hass unergründlich." Und Krauss stellte die Frage, ob der Reformator, "wer weiß, am Ende vielleicht auch noch das Alte Testament verstoßen hätte". Und dennoch: "Die Grundsätze, die Luther zu Beginn seiner Laufbahn in alle Welt eingeführt hat, Grundsätze der Aufklärung und der freien Entfaltung des menschlichen Geistes, darunter die Ablehnung gegen Juden gerichteten geistigen oder leiblichen Glaubenszwanges, erwiesen sich als gewaltige Faktoren der Folgezeit, die selbst durch Luthers eigene Fehler nicht mehr zu bannen waren."

Die neuzeitliche Beschäftigung von Juden mit dem Christentum ist eng mit den Rabbinern Abraham Geiger und Leo Baeck verbunden. So wie sich schon Geigers Beschäftigung mit dem jüdischen Jesus und dem Christentum der Entwurf einer Gegengeschichte gewesen war, legte auch Baeck (1873-1956) sein "Wesen des Judentums" (1905) als Gegengeschichte an. Vor allem Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die das Leben in einen politisch-gesellschaftlichen und einen religiösen Bereich aufzuspalten scheint, spielt bei Baecks Kritik des Luthertums eine zentrale Rolle. Der Mensch werde ganz passiv beschrieben, der Gnade und Erlösung bedürftig und somit unfähig, die Welt nach Gottes Wollen aktiv zu gestalten. Außerdem kritisierte Baeck die enge Verbindung von Thron und Altar, die er Luther zurechnete. 1926 schrieb Baeck seinem Rabbinerkollegen Caesar Seligmann (1860-1950): "Es ist ein geistiges und moralisches Unglück Deutschlands, daß ... man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat. Anstatt an Gott zu glauben, glauben sie - lutherische Pfarrer voran - an das Deutschtum." Durch seine Bindung an den Staat habe es das Luthertum versäumt, zum Träger einer universalen Botschaft zu werden, es habe die Chance, Weltreligion zu sein, nicht wahrgenommen. Die absolute Unabhängigkeit der Religion vom Staat war dabei für Baeck von höchster Bedeutung. Die lutherische Reformation aber habe die Religion an den Staat ausgeliefert.

Der Schriftsteller Arnold Zweig (1887-1968) sprach in diesem Zusammenhang sogar davon, dass "Luther in der Vergottung des Staates durch die Identität von oberstem Bischof und Landesherrn zur Vernichtung seiner eignen reformatorischen Tat aus Gründen der Politik das letzte Wort" gesprochen hatte.

Abkömmling des Luthertums

Rabbiner Baeck gewahrte hier Tendenzen, die die dem autoritären Staat mit den Weg bereiteten und die schweigende Billigung des Nationalsozialismus durch die Mehrheit der Deutschen förderten. In einem Polizeistaat, der keinerlei Raum mehr für die persönliche Entscheidung lässt, sah er den direkten Abkömmling des Luthertums. Der nazistische Staat war ihm somit die logische Konsequenz einer fehlgeleiteten theologischen Evolution. Schon 1932 stellte Baeck in "Zwischen Wittenberg und Rom" schließlich fest: "Es ist ein Mangel im Protestantismus, dass er, der dem Volk die Bibel gegeben hat, dann die Bibel, die im Leben oder gar nicht sein will, zum bloßen Predigt- und Andachtsbuch gemacht hat. [...] Die gerade im Protestantismus so häufige Ablehnung des Alten Testaments, dieses eifervollen Buchs, geht wohl nicht am wenigsten auf eine Ablehnung dieses Gebotes zurück, auf die altestamentliche Deutlichkeit von: 'Ich bin der Ewige, Dein Gott, Du sollst!'"

Und im Oktober 1937 konstatierte Baeck in "Das Judentum in der Gegenwart": "Innerhalb des deutschen Protestantismus hat sich vielfach gegenüber den Fragen, die sich aus der Beschaffenheit, den Beständen und Zuständen dieser Welt ergeben, eine neue Art der theologischen Beantwortung durchgesetzt, die von einem Glauben an 'Schöpfungsordnungen' ausgehen will und sich hierfür, sei es mit Recht oder Unrecht, auf die Lehre Luthers beruft."

Mit Luthers 450. Geburtstag 1933 setzte unter nazistischen Gesichtspunkten eine Rückbesinnung auf den Reformator ein. Am 7. Oktober 1933 schrieb der Theologe und Religionsphilosoph Rudolf Hermann (1887-1962), der später der Bekennenden Kirche angehören sollte, an den Theologen und Kirchenhistoriker Erich Seeberg (1888-1945), einen "Deutschen Christen": "Luthers Schriften über die Juden, die ja den Begriff 'Rasse' überhaupt nicht kennen, sind mir nur als Beiträge zu den hermeneutischen Problemen interessant; im übrigen finde ich sie nicht würdig. Wer ist eigentlich Reinhold Lewin, der Verf[asser] einer sehr sorgsamen Arbeit darüber in den 'Neuen Studien'?"

Zwanzig Jahre nach Erscheinen seiner Dissertation war offensichtlich schon vergessen, dass es dieser Rabbiner gewesen war, der sich von jüdischer Seite als Doktorand einer evangelisch-theologischen Fakultät erstmals ausführlich mit "Luther und den Juden" beschäftigt hatte.

"Größter Antisemit seiner Zeit"

Ludwig Feuchtwanger (1885-1947), Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, bemerkte zum Luthergeburtstag 1933: "Wie damals Martin Luther gegen die Juden losbrach, so tönt es immer wieder aus dem deutschen Volk seit 450 Jahren. Wir erleben im November 1933, dass zahlreiche bedeutende Vertreter der protestantischen Kirche und Lehre sich dieser Stellung Luthers ausdrücklich zu eigen, ihm Wort für Wort nachsprechen und seine Judenschriften eindringlich zitieren und empfehlen."

So darf es uns nicht überraschen, wenn fünf Jahre später der deutschchristliche Thüringer Landesbischof Martin Sasse (1890-1942) die Novemberpogrome mit Luthers Judenschriften rechtfertigt: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. ... In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der ... der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden."

Natürlich führt von Luthers Judenschriften zu Hitler und zum Holocaust keine direkte Linie. Aber eine Linie lässt sich ziehen, und sie ist tragisch: Rabbiner Reinhold Lewin, der die erste jüdische Monographie über " Luthers Stellung zu den Juden" geschrieben hatte, wurde im März 1943 mit seiner Frau Evie und zwei Kindern von Breslau nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Walter Homolka

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